„Werk größten Styls und Kalibers“
Als der junge Komponist und glühende Bach-Verehrer Max Reger im Februar 1900 zu einem Orgelwerk ansetzte, das der Bewunderung für sein großes Idol Ausdruck verleihen sollte, erholte sich der 27-Jährige gerade von einem leidvollen Lebensabschnitt. Ausbleibender beruflicher Erfolg, Schulden und eine schwere Erkrankung hatten ihn in die Alkoholsucht getrieben und schließlich zu einem Nervenzusammenbruch geführt. Aus seiner Studienstadt Wiesbaden zog er zurück in sein Elternhaus im oberpfälzischen Weiden, wo ihn im vertrauten Umfeld schon bald eine unverhoffte Produktivität ergriff: Innerhalb von zwei Wochen schuf er mit der expressiven und modulationsreichen, äußerst komplexen und technisch herausfordernden Komposition „Phantasie und Fuge über B-A-C-H für Orgel op. 46“ nicht nur einen Glanzpunkt seines eigenen Œuvres, sondern zugleich eines der kühnsten Werke, das je für die Orgel erdacht worden ist – eine Komposition, mit der sich der Spätromantiker Reger als Neuerer der Orgelmusik in die Musikhistorie einschreiben sollte.
Auf 26 dicht beschriebenen Seiten à 35 x 27,5 cm notierte Reger (1873–1916) mit kalligraphischer Schönheit seine breit angelegte Introduktion und die anschließende, komplex kontrapunktierte Fuge. Über die mit schwarzer Tinte ausgeführten Noten legte er mit der für ihn typischen Zweifarbigkeit rote Vortragsbezeichnungen für Dynamik und Tempo, ließ beide konsequent vom einen ins andere Extrem anschwellen – von einem vierfachen Piano im 8-Fuß-Register bis zum dreifachen Forte mit vollem Werk, von Grave zu Vivace assai. In das titelgebende Motiv aus den Noten B-A-C-H eingebettet, komponierte Reger so eine ausgefeilte Hommage an den barocken Komponisten und Thomaskantor, den er als „Anfang und Ende aller Musik“ bezeichnete. Wie es ihm bereits bei früheren Orgelwerken zur Gewohnheit geworden war, fertigte Reger neben der als Stichvorlage dienenden Handschrift eine weitere Reinschrift an, um sie seinem Freund Karl Straube (1873–1950) anheimzugeben: Der spätere Thomasorganist war Regers Lieblingsinterpret und brachte zahlreiche seiner Orgelkompositionen zur Uraufführung. Auch die „Phantasie und Fuge über B-A-C-H für Orgel op. 46“ erklang erstmalig durch das Spiel des Orgelvirtuosen, der sich bei der Darbietung im Juni 1900 im Willibrordi-Dom zu Wesel an eben jenem Manuskript orientierte, das nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Berthold Leibinger Stiftung und dank des Erbes von Marion Reichenbach ins Max-Reger-Institut gelangt. Seine mit einem Titelblatt komplettierte Niederschrift versah Reger mit einem persönlichen Vermerk an den Empfänger: „Viel Vergnügen lieber Carl! / Dieses Originalmanuskript ist Eigenthum des Herrn Karl Straube / Max Reger / 19. Febr. 1900“.
Das Max-Reger-Institut Karlsruhe erwarb 1958 den Großteil aller für Karl Straube ange-fertigten Handschriften Reger’scher Orgelwerke aus dem Nachlass des Organisten. Sieben Choralphantasien, eine Orgelsonate und eine umfangreiche Bach-Bearbeitung gingen damals in das elf Jahre zuvor gegründete Institut ein – allein das Herzstück dieses Konvoluts sicherte sich der Reger-Biograph Fritz Stein (1879–1961). Nach knapp sechs Jahrzehnten gelingt es nun, aus Steins Nachlass die letzte noch fehlende Handschrift zu erwerben und die historisch zusammengehörigen Manuskripte Regers wieder zu vereinen. Reger selbst nannte seine B-A-C-H-Phantasie und Fuge einmal ein „Werk größten Styls und Kalibers“ – ihre kompositorische Reichhaltigkeit und technische Raffinesse, ihr Rückbezug auf den tradierten formalen Orgelkanon und ihr gleichzeitiger Bruch mit demselben belegen die selbstbewusste Behauptung des Komponisten. Mit dem Neuzugang erweitert das Max-Reger-Institut nun die stattliche Sammlung um ein zentrales Werk seines Namensgebers, der in der Tradition Bachs mit der Orgel die Grenzen harmonischer Möglichkeiten neu auslotete und damit Bahnbrechendes für die Königin der Instrumente schuf.