„…Weil Herr Goldschmidt natürlich Jude ist.“
Der Verfolgungsdruck der Diskriminierung und Enteignung hat 1935 auch Arthur Goldschmidt an den Rand der Existenzvernichtung gebracht. Seine Firma Kleiegold in Leipzig war ein florierendes Futtermittelunternehmen mit Auslandsvertretungen bis Argentinien, als sie 1933 an den Reichsnährstand fiel. Diese NS-Organisation hatte alle ernährungswirtschaftlichen Produktions- und Vertriebsbereiche unter ihre Kontrolle gebracht und damit den freien Markt landwirtschaftlicher Erzeugnisse abgeschafft. Eigentlich war Goldschmidt Kaufmann wider Willen. Als ältester Sohn von fünf Geschwister übernahm er vom Vater Adolf die Firma, aber er nutzte das Potenzial und finanzierte seine eigentliche Profession, das Büchersammeln. Er baute eine Bibliothek von 40.000 Bänden auf, für deren Erschließung und Pflege er sogar einen Bibliothekar angestellt hatte.
Zu diesem Bücherschatz gehörte auch eine Sammlung von 2.000 Almanachen aus dem 17. bis 19. Jahrhundert. Goldschmidt interessierten die Themenvielfalt und die Buchkunst dieser beliebten Gattung, und er begann die Inhalte und die künstlerische Ausstattung der schon damals seltenen Kalender, Taschenbücher, Jahrbücher, Neujahrsgeschenke und Festgaben zu erforschen. Almanache sind ein Sammelbegriff für eine auf das jeweilige Jahr bezogene Publikationsform mit kleiner Prosa und Lyrik, mit Tanzbeschreibungen und aufwendig illustrierten Anleitungen für Malerei und Schauspiel, fürs Musizieren und für Pflanzenliebhaber. Die Palette der Themenalben in Goldschmidts Sammlung reicht von den bekannteren literarischen Musenalmanachen über Balletttanz, Travestien, Karneval und Masken, Kirchen und Ketzer, Leipziger Frauenzimmer bis hin zu einem satirischen Mückenalmanach von 1797, daneben finden sich auch fachkundliche Kalender für Forst- und Jagdfreunde, Schauspieler und Schauspielfreunde und Militärs. Goldschmidt betrat mit seiner akribischen Auswertung der Bücher weitgehend unerforschtes Terrain. Er wunderte sich darüber, da doch gerade der „Almanach als literarische Tageserscheinung Goethe gefesselt“ habe. Denn er war darin auf zahlreiche Erstdrucke der Klassiker und Zeugnisse der Klassikerrezeption gestoßen, seine Ergebnisse veröffentlichte er 1932 in seiner Bibliografie über „Goethe im Almanach“.
Goldschmidt war in Leipzigs Gesellschaft gut vernetzt und hoch angesehen. Seine Tochter Hannelore schreibt später in ihrer Autobiografie, das Stadthaus sei Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen gewesen mit Diskussionsabenden, Hauskonzerten und Lesungen. Die Familie seiner Frau Hertha war deutschnational geprägt, sein Schwiegervater war als Sanitätsrat hochdekoriert aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrt und im Reichsbund Jüdischer Frontkämpfer organisiert. Doch das war nach 1933 ohne Belang, nach der Enteignung seiner Firma mobilisierte er alle Ressourcen und begann 1935 schließlich, sich von seiner Sammlung zu trennen.
Eine Etappe dieses Verschleuderungsprozesses ist in seiner Korrespondenz mit dem Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar lückenlos dokumentiert, wohin die Almanache 1936 zunächst gelangten. Aus den Institutsakten geht hervor, dass das Archiv die Zwangslage Goldschmidts mit kühler Berechnung und Zynismus ausnutzte. Die Almanachsammlung war exzeptionell. Mit den zahlreichen Erstdrucken der Weimarer Klassiker stellte sie für das Archiv eine ideale Ergänzung dar. Goldschmidt schätzte den Wert der Sammlung auf 50.000 RM, aber das Archiv gab vor, nicht mehr als eine Mark pro Band investieren zu können, die – wie Direktor Hans Wahl ihm mitteilte – man „gern opfern“ wollte. Goldschmidt hatte aufgrund der Repressionen gar keine Alternativen, er war wirtschaftlich am Ende.
Das Archiv hingegen hatte leichtes Spiel. Im Bericht an den Verwaltungsausschuss 1936 flocht Hans Wahl ein, dass der Preis deswegen so niedrig ausfalle, „weil Herr Goldschmidt natürlich Jude ist“. Daher, so resümierte er, sei „die Erwerbung eine außerordentlich günstige Angelegenheit und eine sehr erwünschte Ergänzung der geringen Almanach-Bestände des Archivs“. Die Sammlung trug zur Aufwertung des Archivs und später der Herzogin Anna Amalia Bibliothek bei, da sie, wie Goldschmidt erkannt hatte, neben dem materiellen Zugewinn attraktives Quellenmaterial für editorische und kulturwissenschaftliche Forschungen bot. In Folge des Novemberpogroms 1938 wurde Goldschmidts Sohn Peter ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert, in Sichtweite des Weimarer Archivs, Goldschmidt selbst war vorübergehend in Leipzig inhaftiert worden. Doch ein Teil der Familie hatte Glück. Nachdem bereits Goldschmidts Geschwister 1933 nach England emigriert waren, gelang den beiden Kindern, Hannelore und Peter, mit Hilfe der Verwandten in England, und dann auch den Eltern mit Hilfe der Kinder Emigration und Flucht nach Bolivien. Die Geschwister, Neffen und Nichten von Goldschmidts Frau Hertha jedoch überlebten den Holocaust nicht. Goldschmidt, so schreibt seine Tochter, hatte sich, verarmt, mit seinen 56 Jahren nur schwer an seine neue Umwelt gewöhnen können, und er schaffte es nicht, dort noch einmal Fuß zu fassen.
Die Folgen der Entrechtung, Ausplünderung und Vernichtung der Juden beschäftigen noch heute die deutschen Bibliotheken, Museen und Archive, die von dem Kulturgutraub der Nazis profitiert haben. Die Wiedergutmachung nach westdeutschen Gesetzen war beachtlich, aber lückenhaft und im Grad der Reglementierung oft praxisfern. Die DDR weigerte sich gar, überhaupt Voraussetzungen für eine wirksame Rückerstattung zu schaffen. Was fast sechs Jahrzehnte nach Kriegsende fehlte, waren – so die viel zitierte Formel der Washingtoner Erklärung von 1998 über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust – „faire und gerechte Lösungen“. Die Erklärung ist ein internationales Abkommen, zu dessen 44 Unterzeichnerstaaten 1998 auch die Bundesrepublik Deutschland gehört. Sie fordert den ungehinderten Informationszugang zu den Provenienzdaten der Sammlungen, und sie fordert alternative Konfliktlösungen bei strittigen Eigentumsfragen.
Der Weg, den die Bundesrepublik 1999 bei der Umsetzung dieser Forderung einschlug, war neu. Die Aufarbeitung des NS-Unrechts sollte nun „praxisnäher, effektiver und friedensstiftend“ sein. So steht es im Vorwort der „Handreichung“, der wichtigen Verhaltensrichtlinie im Umgang mit NS-Raubgut. Die „Handreichung“, die sich an alle deutschen Kultureinrichtungen richtet, ist ein best-practice-Dokument, das zu einer fairen Restitutionspraxis anleitet und präventiv wirkt, indem es hilft, Regelverstöße zu vermeiden. Denn es geht auch um Reputation und die Wiederherstellung der kulturellen Integrität der Einrichtungen, die – wie im Fall der Almanachsammlung Goldschmidts – bis heute aus der nicht tolerierbaren Fortführung von NS-Unrecht Vorteile gezogen haben. Goldschmidts Almanache gelangten erst 1954 in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek, genauer in eine ihrer Vorgängereinrichtungen der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur. Die spärlichen, „Vorakten“ genannten Unterlagen jedoch ließen die Herkunft der Almanache offen, im „Zugangs- und Abgangsverzeichnis“ der Bibliothek wurde als Lieferant kommentarlos ein „A“ notiert. Nur das Exlibris Arthur Goldschmidts in den Büchern legte eine Spur, deren Nachverfolgung vom Jahr 2005 aus die Sammlung als NS-Raubgut auswies.
Als die Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Zuge ihrer systematischen Recherchen auf den Fall gestoßen war, beauftragte sie 2006 die Londoner Commission for Looted Art in Europe mit der Erbensuche. Mitglieder der Familie besuchten die Bibliothek 2007 und besichtigten die Sammlung und das Umfeld. 2009 wurde entschieden, dass die Sammlung in Weimar bleiben solle, es wurden Wertgutachten beauftragt und eine Einigung erzielt. Da die Conference on Jewish Claims Against Germany nach den Bestimmungen des Vermögensgesetzes Rechtsnachfolgerin war, wurde in einer Gütlichen Einigung aller Beteiligten geregelt, dass die Erben über die Sammlung verfügen konnten. Anfang 2013 wurde die Öffentlichkeit in einem Pressegespräch über die Restitution der Almanachsammlung informiert, deren Rückkauf der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder zu verdanken ist. Goldschmidts Almanache sind nur ein Beispiel für eine noch unabsehbare Zahl in der NS-Zeit geraubter Bücher, die heute unentdeckt in den Magazinen der Bibliotheken lagern oder auf dem antiquarischen Markt zirkulieren. Die Fortschritte der Provenienzforschung seit 1998 lassen aber erwarten, dass das mit dem Besitz oder Handel solcher Bücher verbundene NS-Unrecht auf lange Sicht bekannt gemacht und ausgeglichen werden kann.