Tradition in Öl
Die Bevölkerung Berlins explodierte aufs Doppelte: Bis zum Jahr1907 waren in-nerhalb von 30 Jahrenaus einer zwei Millionen Einwohner geworden,unddas Le-ben der Hauptstadt kannte im Rausch derIndustrialisierungkein Atemholen. Da widmete sichder KünstlerPhilipp Franck (1860–1944) der vom rasanten Wandel bedrohten Idylle des einfachen Lebens. Im Wendischen bei den Sorben fand der Maler das Gegenbild zum dampfenden Zug der Moderne, der damals wie heutehandwerkliche Traditionen gefährdete. Inder Niederlausitz entstand so angesichtsder Spinnstubengemeinschaften ein Gemälde, das für einen damaligen Stadtbe-wohner aus der Zeit gefallen erscheinen musste: Francks atmosphärische Ölmalerei „Spreewälder Spinnerinnen“erzählt von einer dörflichenTradition, bei der neben der Technik der Flachsverarbeitung nicht zuletzt auch die Märchen, Sagen und Liederder Bevölkerungsgruppebeim Spinnen weitergegeben wurden. Zahlreiche Genrebilder und Spreewaldgemälde entstanden in dieser Zeit, als der in Berlin etab-lierteProfessor Franck das ursprüngliche Brauchtumund die Trachten des slawi-schen Volksstammes der Wenden studierte und farblich brillant auf Leinwand ver-ewigte. Philipp Franckhatte als Mitbegründer der revolutionären Berliner Sezession im Jahr 1898zahlreiche neue Entwicklungen des Kunstgeschehens miterlebt: vom Realismus über den sozialen Naturalismus der 1880er Jahre, den Salon-Idealismus der Gründerzeit bis hin zum deutschen Impressionismus.Bei Franck taucht die Tracht als Sinnbild für jahrhundertelanggepflegte Bräuche–wie bei seinen Künst-lerkollegender aufkommenden Moderne–gerade in Zeiten großer gesellschaft-licher und ökonomischer Umwälzungenauf: Geschwister im Motiv findet Franck bei Paul Gauguins bretonischen Mädchen oder Max Liebermanns Holländerinnen. DieSpreewalddarstellungen galten einige Jahre alsdas unverwechselbare Signet des Künstlers in der Berliner Kunstszene.
Mit den „Spreewälder Spinnerinnen“ gelangt nun ein Hauptwerk dieser Schaffens-phase Francks, der wenige Jahre nach seiner Serie der Genrebilder in Berlin zum Direktor der Königlichen Kunstschule ernannt wurde, in das Wendische Museum in Cottbus. Die Kulturstiftung der Länder, zahlreiche private Spender, die Sparkas-se Spree-Neiße und die Stiftung für das sorbische Volk unterstützten den Ankauf: In der Cottbusser Sammlung, die sich der Darstellung und Bewahrung der wendi-schen/sorbischen Kultur verschrieben hat,kann es –inmitten der reichen Kollekti-on niedersorbischer Trachten des Museums –von erst vor Kurzem verschwunde-nen Kulturpraktiken der einstigen Bevölkerung zeugen.