Schau mir in die Augen, Murnau
Schlichter Malerkittel, direkter Blick, ernste Miene: Unprätentiös, aber selbstbewusst inszenierte sich Gabriele Münter (1877–1962) um 1909 in ihrem Selbstporträt als Künstlerin. Schließlich prägte sie als eine Protagonistin die 1909 gegründete „Neue Künstlervereinigung München“ und stand später mit dem „Blauen Reiter“ in enger Verbindung. Das Selbstporträt entstand zu einer Zeit, in der sie zu ihrem eigenständigen künstlerischen Ausdruck fand. Dennoch scheint in ihrem Gesichtsausdruck ein leiser Hauch von Unsicherheit mitzuschwingen. Tatsächlich mussten sich Frauen auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts der Herausforderung stellen, sich gegenüber ihren männlichen Künstlerkollegen zu behaupten. Lange Zeit firmierte Münter vornehmlich als „Lebensgefährtin Wassily Kandinskys“. Doch man übersah, dass ihr Werk – sie schuf mehr als 2.000 Gemälde – längst national wie international intensiv gesammelt wurde.
Ruhig und forschend, fast skeptisch schaut Münter den Betrachter aus dem Bild heraus an. Aus breiten Pinselstrichen setzte die Künstlerin ihr Konterfei mit der aufgetürmten Hochsteckfrisur zusammen, geschickt band sie Vorzeichnung und bloßen Malgrund in die Gesamtgestaltung ein. Violette Reflexe auf den Gesichtszügen und dem Kragen brechen die gedeckte Farbpalette, die hauptsächlich aus Ockertönen, Schwarz, Weiß, Grün und Blau komponiert ist. Die Chromatik verrät, dass sich die Künstlerin nur wenige Jahre zuvor auf einer gemeinsamen Paris-Reise mit Kandinsky durch die französischen Fauvisten hatte inspirieren lassen.
Einen großen Teil ihres schaffensreichen Lebens verbrachte Münter im oberbayerischen Murnau, wo sie ab 1908 vom Lichtspiel der Natur um den Staffelsee zu farbintensiven Landschaftsgemälden inspiriert wurde. Vom reizvollen Voralpenland begeistert, erwarb die Künstlerin 1909 ein Sommerhaus in der Murnauer Kottmüllerallee, das sie zeitweilig mit Kandinsky zusammen bewohnte. Das Haus wurde zur Begegnungsstätte der expressionistischen Avantgarde, darunter Alexej Jawlensky und Marianne von Werefkin, die dem Gebäude den Spitznamen „Russenhaus“ eintrugen. Auch Franz Marc, der sich hier mit Kandinsky über die Redaktionsarbeit am „Blauen Reiter“ beriet, sowie Heinrich Campendonk, Paul Klee, August Macke und Arnold Schönberg waren gerne zu Gast.
In diese frühe Murnauer Zeit fällt die Entstehung des Selbstporträts, das nun für das Schloßmuseum Murnau angekauft werden konnte. Hier werden die Werke Münters als Herzstück der Sammlung betrachtet und deshalb in das Zentrum der Dauerausstellung gerückt. Der Verlust des einzigen Selbstbildnisses der Künstlerin – seit Öffnung des Museums vor mehr als zwei Jahrzehnten ein Höhepunkt der Präsentation – hätte eine schmerzliche Lücke hinterlassen. Ein Glücksfall, dass dem Murnauer Schloßmuseum nun der Erwerb gelang, denn Selbstporträts von Gabriele Münter kommen selten auf den Markt. Die Provenienz belegt den persönlichen Stellenwert des Werks für die Künstlerin: Sie hatte die Arbeit ihrem damaligen Lebensgefährten Johannes Eichner geschenkt, der Münter über 25 Jahre begleitete. Der Erwerb des Selbstporträts aus dessen Nachlass wurde von der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung und einem privaten Förderer ermöglicht. 2015 hatte die Kulturstiftung der Länder bereits den Ankauf von Münters Landschaftsgemälde „Dorf mit grauer Wolke“ (1939) durch das Murnauer Schloßmuseum unterstützt.