Mondscheinspaziergänge und gesprengte Ketten

Ausgebrochen um zu bleiben. Einen Mondscheinspaziergang hatte der Marsberger Psychiatriepatient geplant, wochenlang das Eisengitter seiner Zelle durchgesägt. Doch als Erich Spiessbach von seinem Ausflug zurückkehren will, ist das Fenster verschlossen, durch das er ausgebrochen war: Der 50-Jährige nimmt den Weg zurück über die Pforte. Um den Insassen durch kreatives Schaffen von weiteren Fluchtversuchen abzulenken, geben ihm seine Ärzte nun Stift und Papier. In seiner Einzelzelle beginnt Erich Spiessbach zu zeichnen: Nackte junge Frauen schweben im Fackelschein über einer Weltkugel, an den Handgelenken zerrissene Ketten. Mit Licht und Schatten experimentiert Spiessbach, im Schaffensrausch übersetzt er seinen Freiheitsdrang in eine Serie symbolistischer Bilder. Bald braucht Spiessbach neue Blätter, eine Bilderfindung jagt die nächste: Übermütig wie Ikarus fliegt der Mensch in einer Rakete ins All, Adam und Eva greifen in ihrer Dummheit zur Frucht der Erkenntnis, ein Arzt erhält den Nobelpreis für eine hohle Holzkopfprothese. „Alles ist möglich, das Dümmste aber am wahrscheinlichsten“ – diesen Aphorismus illustriert Spiessbach in absurden Szenen. So entstehen über einen Zeitraum von wenigen Monaten über 500 sarkastische Zeichnungen und Texte, ironische Selbstporträts und Plakate. Ein Talent scheint geweckt.

Spiessbach schenkte die Werke aus seinem Schaffensrausch der Jahre 1951/52 später seinem Psychiater Manfred in der Beeck. Mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder sowie des Mannheimer Unternehmers Manfred Fuchs und der Stadt Heidelberg gelang nun der Ankauf der Werke Erich Spiessbachs aus dem Nachlass seines Psychiaters. Bevor Spiessbach 1943 erstmals als „querulierender Paranoiker“ eingewiesen wurde, eckte er häufig an. Der archäologische Hilfsarbeiter belehrte in den Museen von Münster und Gotha Vorgesetzte, fühlte sich wissenschaftlich überlegen. Eine Strafanzeige rief 1936 die Kripo auf den Plan: Diese beschlagnahmte bei Spiessbach gestohlene Akten und Schriftstücke. Er hatte sie im Münsteraner Museum für Vor- und Frühgeschichte als Material für seine „Doktorarbeit“ mitgehen lassen. Fristlos entlassen, reagierte der Hochstapler mit einer Reihe von Klagen. Nach langwierigen Prozessen entmündigt, landete er schließlich in der Münsteraner Nervenheilanstalt.

Nach dem Ende des Nationalsozialismus misslang Spiessbach seine Rehabilitation: Die an Behörden adressierten Beschwerdebriefe wurden schlichtweg nicht weitergeleitet. Einen kurzen Lichtblick erlebte Spiessbach in der intensiven künstlerischen Schaffensphase unter Aufsicht seines jungen Arztes Manfred in der Beeck in Marsberg. Am 12. Oktober 1956 dann wagte Erich Spiessbach seinen letzten Fluchtversuch. Beim Abseilen aus seiner Zelle fiel er hinunter und starb noch am selben Tag.

In den 1920er Jahren begann der Kunsthistoriker und Arzt Hans Prinzhorn, begeistert von der Schaffenskraft der Patienten am Heidelberger Universitätsklinikum, Kunst von Psychiatrieinsassen aus aller Welt zusammenzutragen. Die vielen Illustrationen seines Buches „Bildnerei der Geisteskranken“ sowie die Sammlung selbst inspirierten in der Folge Künstler von Paul Klee bis Max Ernst. 1938 an die Ausstellung „Entartete Kunst“ übergeben, wurden die Werke der Sammlung unter den Nationalsozialisten als vermeintlich pathologisches Vergleichsmaterial zur verfemten Kunst der Moderne missbraucht. Lange in Vergessenheit geraten, wird die Sammlung seit 1980 erforscht und erneut durch Kunst von Psychiatrie-Erfahrenen erweitert. Die Spiessbach-Kollektion erweitert die Sammlung um Werke der bisher nur spärlich vertretenen Nachkriegszeit. Das Konvolut ist noch bis zum 15. Januar 2017 in einer Kabinettausstellung zu sehen.