Jeder Fall ist anders
Woher kommen eigentlich die Bilder? Das mag sich so mancher Besucher fragen, der in Museen und Ausstellungen Kunstwerke bewundert, die einst für kirchliche und weltliche Fürsten, für sakrale und feudale Räume geschaffen oder von bürgerlichen Sammlern erworben wurden. Die Kunstgeschichte beantwortet die Frage nach der Herkunft, indem sie die Wege der Kunstwerke in der sogenannten Provenienz verzeichnet. Diese hat das Ziel, den Weg eines Kunstwerkes vom Atelier des Künstlers bis zu seinem heutigen Eigentümer beziehungsweise seinem aktuellen Standort zu dokumentieren. Dabei stellt die im Werkverzeichnis oder in Ausstellungs- und Sammlungskatalogen verzeichnete Provenienz eines Werkes das Ergebnis vielfältiger Recherchen dar. Für die spezialisierte Beschäftigung mit der Herkunftsgeschichte von Kunst und Kulturgütern hat sich in den letzten Jahren der Begriff der Provenienzrecherche oder -forschung eingebürgert.
Die Dokumentation der Provenienz gehört zum Handwerkszeug der Kunstgeschichte und der Museen. Auch auf dem Kunstmarkt erhöhen Provenienzen mit den Namen prominenter Kunstsammler vergangener Jahrhunderte den symbolischen wie materiellen Wert von Kunstwerken; eine möglichst lückenlose und auch lückenlos belegbare Provenienz trägt dazu bei, Echtheit und zweifelsfreie Herkunft eines Kunstwerks zu belegen. Wer hat wann, wo und von wem ein Objekt erworben? Die Antworten auf diese Fragen und die präzise Dokumentation vorhandener oder die Rekonstruktion nicht mehr existierender Sammlungen bieten faszinierende Einblicke in die Geschichte des privaten und institutionellen Sammelns. Und je genauer sich die Herkunft eines Werkes bestimmen lässt, desto klarere Aussagen lassen sich über die Rezeption eines Künstlers und die Veränderungen des Geschmacks machen, denn nicht jeder Künstler war zu jeder Zeit gleich beliebt bei Museen wie Sammlern. Die in der Provenienzforschung ermittelten historischen Fakten eröffnen damit einen größeren kunstwissenschaftlichen Horizont.
Wie kommt die Provenienzforschung zu ihren Ergebnissen? Sie verfährt stets zweigleisig, indem sie ihr Augenmerk auf das Kunstwerk ebenso wie seine Besitzer richtet. Damit gehört neben der kunsthistorischen Literatur eine Fülle von anderen Quellen zu ihrem Arbeitsmaterial, seien es historische Fotografien, Familienarchive oder andere Dokumente, die Informationen über die ehemaligen Besitzer geben können. Neben diesen kunsthistorischen, historischen und biographischen Recherchen rückte ein bisher nicht systematisch erforschter, ja vernachlässigter Bestandteil der Objekte in den Fokus der Forschung: Es handelt sich um die Spuren, welche die Besitzerwechsel am Werk hinterlassen haben, etwa auf der Rückseite von Gemälden. Ein sprechendes Beispiel aus dem Museum Wiesbaden ist ein jüngst im Rahmen der dortigen Provenienzforschung untersuchter Christusknabe von Joos van Cleve, der auf einem Kissen thronend eine Weintraube verzehrt. Dreht man die Holztafel um, sieht man, dass der Weg des Gemäldes durch die verschiedensten Hände sichtbare Spuren in Form von Aufklebern, Bezeichnungen und Beschriftungen hinterlassen hat, die es zu entschlüsseln galt. Ein gedruckter Aufkleber mit einer großen Ziffer 13 verweist auf den ersten bekannten Eigentümer, den Berliner Kunstsammler Wilhelm Gumbrecht, dessen Sammlung am 21. März 1918 bei den Auktionatoren Cassirer und Helbing in Berlin versteigert wurde. Der Christusknabe war die Nummer 13 im Versteigerungskatalog. Auf dem handschriftlichen Papieraufkleber im Zentrum der Bildrückseite findet sich ein Vermerk über eine frühe Ausstellung des Bildes 1915 in Berlin sowie eine Literaturangabe und der wichtige Hinweis, der (ungenannte) Autor dieser Zeilen habe das Gemälde auf der Berliner Auktion 1918 erworben. Diesen Angaben wurde bei der Provenienzrecherche schrittweise nachgegangen, wobei ein weiterer Aufkleber am unteren Rand die Identifikation des Eigentümers von 1918 bis 1929 erleichtert: Es handelte sich um die Sammlung Basner aus Danzig-Zoppot, die am 19. November 1929 bei Rudolf Lepke in Berlin unter den Hammer kam. Wir wissen nicht, wo sich das Gemälde zwischen 1929 und 1935 befand, als es bei der Kunsthandlung Heinemann in Wiesbaden für das dortige Museum angekauft wurde. Die unbekannte Herkunft des Bildes vor 1902 und sein ebenfalls ungeklärter Aufbewahrungsort von 1929 bis 1935 gehören zu den typischen Hürden der Provenienzforschung: Neben Phantasie und Geduld bedarf diese Arbeit einer gewissen Frustrationstoleranz, denn nicht selten endet eine aufwendige Suche im Nichts, wenn die ungenügende Quellenlage das erstrebte Ideal der lückenlosen Überlieferung einer Provenienz in unerreichbare Ferne rückt. Die Schicksale von Bildern sind so individuell wie die ihrer Eigentümer, und an Stelle eines routinierten Abhakens tritt die Devise: „Jeder Fall ist anders.“
Die Feststellung einer bislang nicht geschlossenen Provenienzlücke für die frühen 1930er Jahre zeigt die aktuelle Motivation der Recherche auf: Die Provenienzforschung hat sich seit der Washingtoner Erklärung von 1998 über die Identifizierung, Lokalisierung und Rückgabe von Kunstwerken aus ehemaligem jüdischen Eigentum auch als Selbstverpflichtung Deutschlands als Forschungsfeld etabliert. Auch für die Tafel des Joos van Cleve muss, bis zur endgültigen Klärung der Provenienz, von einem zumindest möglichen NS-verfolgungsbedingten Verlust ausgegangen werden. Seit 2008 fördert und koordiniert die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche / -forschung in Berlin – unterstützt von der Kulturstiftung der Länder und Staatsminister Bernd Neumann – Forschungsprojekte zur systematischen Aufarbeitung der Bestände in öffentlichen Einrichtungen in Deutschland.
Dass die Aufgaben neben der Identifizierung, Lokalisierung und Rückgabe von Kunstwerken aus ehemaligen jüdischen Privatsammlungen wesentlich weiter gefasst sind, mag das Beispiel einiger ostdeutscher Museen verdeutlichen. Auf Grund der historischen Entwicklung gibt es hier vielfältigen Forschungsbedarf in Folge der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts: Neben der Ermittlung von geraubter oder unter Zwang verkaufter Kunst von jüdischen Eigentümern in der Sammlung gilt es zum einen, diejenigen Kunstwerke innerhalb der Sammlung zu ermitteln, welche im Zuge der sogenannten Schlossbergungen aus enteignetem Adelsbesitz in die Museen kamen oder von Bürgern der DDR unter Druck der Behörden veräußert wurden. Zum anderen dokumentieren die Museen ihre Verluste, sei es die Abgabe von Kunstwerken der Moderne im Zuge der „Entartete Kunst“-Aktion von 1937 oder die nach Kriegsende in die damalige UdSSR verbrachte „Beutekunst“.
Neben den vielfältigen Rechercheerfolgen, den Rückgaben und dem großen Erkenntnisgewinn für die Kunstgeschichte ist die Provenienzforschung auch die Erfolgsgeschichte einer anfangs sehr kleinen Gruppe von Aktiven, die sich methodisch auf eine Reise ins Unbekannte wagte. Das Studium der Kunstgeschichte bereitet nur bedingt für diese spezialisierte Forschung vor und in Ermangelung einer Ausbildung zum Provenienzforscher ging es zunächst um das Erlernen einer Fertigkeit, während zugleich die Arbeit erledigt wurde, sei es in Museen, in Auktionshäusern oder für die Nachkommen der Kunstsammler. 2001 gründete eine Gruppe von Forscherinnen den Arbeitskreis Provenienzforschung, der seitdem stetig wachsend dem nationalen wie internationalen Austausch ein Forum bietet. Dem zunehmenden Forschungsbedarf steht eine ebenfalls wachsende Zahl von Datenbanken sowie Digitalisierungsprojekten von Archiv- und Bibliotheksbeständen gegenüber. Die Wahrnehmung der historischen Verantwortung Deutschlands im Hinblick auf das nationalsozialistische Unrechtsregime hatte insofern auch einen – vielleicht so nicht intendierten, aber um so erfreulicheren – wissenschaftlichen Impuls zur Folge. Auch akademisch ist das Thema inzwischen angekommen: Das Programm des diesjährigen internationalen Kunsthistorikerkongresses enthielt eine Sektion zur Provenienz, und die Freie Universität Berlin bietet in diesem Wintersemester schon zum zweiten Mal eine Lehrveranstaltung zur Provenienzforschung an.