In Stein gegossen
„Ohne Vergleich in der ganzen Weltgeschichte der Plastik“, so schrieb der ausgewiesene Skulpturenexperte Werner Hofmann (1928–2013) zum 100. Geburtstag des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck, sei „diese Gestalt“. Geprägt von der politischen Weltgeschichte war bereits die Entstehung des „Gestürzten“: Seit 1914 als Sanitäter im Hilfslazarett Berlin-Friedenau stationiert, entwickelte der bei Duisburg geborene Lehmbruck dort mit seinem Malerkollegen Arthur Degner als Modell die Grundzüge seiner Großplastik von 1915/16. Entschieden abstrahierte der Bildhauer die überlängten Formen der expressionistischen Figur, überlebensgroß manifestierte er die niederschmetternden, durch den gerade wütenden Ersten Weltkrieg verursachten Leiden. Nur wenige Jahre zuvor geformt, fand Lehmbruck mit der „Großen Sinnenden“ – in ihrer Standbein-Spielbein-Pose antikisierend, in ihrer formalen Reduziertheit modern – 1913/14 bereits einen kontemplativen Ausdruck. Beide Figuren bezeugen, wie der Künstler um ein neues, eigenes Menschenbild rang.
Sich vom Stilpluralismus der Gründerzeit lösend, war Lehmbruck nach seinen Düsseldorfer Studienjahren Anfang April 1910 nach Paris übergesiedelt – dort zogen ihn insbesondere das Werk Auguste Rodins (1840–1917) und Aristide Maillols (1861–1944) an. Im Herzen der Pariser Kunstszene, dem Quartier de Montparnasse, entwickelte er nicht nur sein malerisches, zeichnerisches und graphisches Schaffen weiter, auch sein bildhauerisches Werk erregte Aufsehen. Bereits im Herbst seines ersten Jahres in Frankreich stellte Lehmbruck im progressiven Salon d’Automne aus, 1913 nahm er mit zwei Plastiken und mehreren Zeichnungen als einziger deutscher Künstler an der legendären Armory Show in New York teil. 1914 zwang der ausbrechende Krieg den Künstler zurück nach Deutschland.
Verstärkte Wilhelm Lehmbruck mit abstrahierenden Formen den verzweifelten Ausdruck seiner Skulpturen, inszeniert er in seinen formal reduzierten Zeichnungen die sinnliche Linie weiblicher Formen. In seinen Druckgraphiken wagte sich der vielseitige Künstler in weitere Themenfelder vor: Anklänge aus der literarischen Welt, der antiken wie der christlichen Ikonographie, erotische Momente aber auch dramatische Untergangsszenen bannte Lehmbruck insbesondere während seiner zentralen Werkphase ab dem Jahr 1910 aufs Papier. Darüber hinaus eröffnet das graphische Œuvre mit vielen Vor- und Nacharbeiten Einblicke in den künstlerischen Schaffensprozess eines der national wie international bedeutendsten Bildhauers der Moderne im frühen 20. Jahrhundert. Seiner künstlerischen Vielfalt wird das nun von der Staatsgalerie Stuttgart mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Museumsstiftung Baden-Württemberg und der Ernst von Siemens Kunststiftung erworbene Konvolut von 72 Werken vollumfänglich gerecht.
Neben dem zu Lebzeiten des Künstlers angefertigten, äußerst raren Steinguss der „Großen Sinnenden“ und dem Steinguss des „Gestürzten“ von 1953 befand sich auch der Gipsabguss der Porträtbüste „Frau F. “ seit Jahrzehnten als Dauerleihgabe aus Familienbesitz in der Staatsgalerie. Abgegossen von der unfertigen Marmorfassung des Bildnisses, gezeichnet von den Bearbeitungsspuren des Meißels, stellt der Gips eine Art plastische Notiz aus dem Schaffensprozess dar. In seiner vollendeten Form befindet sich das Porträt Adele Falks, Frau von Lehmbrucks Mäzen Sally Falk, heute im Wilhelm Lehmbruck Museum in Duisburg. Mit dem Erwerb der drei Plastiken, 20 Zeichnungen, 44 Kaltnadelradierungen und fünf Lithographien von den Nachkommen Lehmbrucks ergänzt die Staatsgalerie Stuttgart ihre hochrangige Kollektion der Klassischen Moderne entscheidend: Der bereits unter Direktor Erwin Petermann (1963–69) angelegte Lehmbruck-Schwerpunkt gewinnt an Gewicht. Davon können sich in genau einem Jahr auch die Besucher des Stuttgarter Museums überzeugen, wenn am 21. September 2018 die Ausstellung „Wilhelm Lehmbruck. Variation und Vollendung“ ihre Pforten öffnet.