Familie in Form

Als Oskar Schlemmer 1939 den Auftrag erhielt, ein Wandbild für das Stuttgarter Haus des befreundeten Ehepaares Dieter und Martha Keller zu entwerfen, hatte sein Leben bereits eine tragische Wendung genommen: Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 war seine erste große Retrospektive in Stuttgart noch vor der Eröffnung von den Nationalsozialisten geschlossen worden, seine Werke aus den Museen entfernt, teilweise brutal zerstört und seine Kunst als „entartet“ diffamiert. In dieser düsteren Zeit lernte der Künstler den Verleger Dieter Keller und seine Frau kennen; die beiden hatten einige seiner Arbeiten erworben. Doch womöglich waren es Abbildungen der 1937 von Schlemmer gestalteten Wandkomposition im Haus Mattern in Bornim, die den Wunsch festigten, ihren Freund auch in den eigenen Wohnräumen künstlerisch tätig werden zu lassen.

Oskar Schlemmer, Wandbild Familie, ursprünglich im Hause Dieter Keller, 1940, Wachsfarben und Bronzen auf imprägniertem und kreidegrundiertem Nessel, aufgeklebt auf Gipswand, 220 x 450 cm, Staatsgalerie Stuttgart © Foto: Galerie Valentien
Oskar Schlemmer, Wandbild Familie, ursprünglich im Hause Dieter Keller, 1940, Wachsfarben und Bronzen auf imprägniertem und kreidegrundiertem Nessel, aufgeklebt auf Gipswand, 220 x 450 cm, Staatsgalerie Stuttgart © Foto: Galerie Valentien

Mit dem Auftrag bot sich Schlemmer die einmalige Chance, seine Visionen im geschützten privaten Rahmen zu verwirklichen und – wie er selber sagte – „frei und kompromisslos“ zu arbeiten. Im Juli 1940 konnte das Ehepaar Keller die vollendete Komposition bestaunen: Vor geometrischen Abstraktionen in blassen Grundfarben hatte Schlemmer die schwebenden Silhouetten von Mann, Frau und Kind gesetzt. Gerahmt ist die Familie von zwei rätselhaften Gestalten am Bildrand: einer aus dem Bild schreitenden Figur – Verweis auf die Vergänglichkeit – und einem großen Kopf im Profil – Sinnbild für das „Schicksal, wie es uns anschaut“, so Martha Keller in einer brieflichen Rückschau.

Als wichtiges Zeugnis moderner Wandmalerei bildet Schlemmers „Familie“ den meisterhaften Schlusspunkt eines eindrucksvollen wie vielfältigen Œuvres. 1995 vor dem Abriss des Hauses ausgebaut, konnte nun die Staatsgalerie Stuttgart dieses kostbare Kunstwerk mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder ewerben. Der vorliegende Patromonia-Band ist eine reichbebilderte wissenschaftliche Aufarbeitung der Entstehungsumstände des Wandbildes, seiner besonderen Technik und der Bedeutung im kunsthistorischen Kontext.