Provenienzforschung in Deutschland
Die Frage nach der Provenienz eines Kunstwerks oder eines Objekts rückte in den letzten Jahren bei zahlreichen Ankäufen zunehmend in den Fokus. Natürlich strapazierte das gelegentlich die Geduld von Kunsthändlern und Museumsdirektoren, von Mitförderern wie befreundeten Stiftungen oder Kulturministerien. Gleichwohl: Die Klärung der Herkunft eines begehrten Objekts für Museen – seien es große oder kleine Sammlungen in allen Ländern – wurde in den letzten Jahren immer selbstverständlicher. Auch wenn es eine ersehnte Erwerbung möglicherweise um Monate verzögerte, mussten wir auf einer akribischen Prüfung bestehen, ob ein jüdischer Sammler nicht Jahrzehnte zuvor zum Verkauf eines Kunstwerks gezwungen war, er enteignet oder es ihm auf der Flucht abgepresst wurde. Spätestens seit der Causa Gurlitt müssen wir nicht mehr argumentieren: Alle wissen nun, dass die Folgen der nationalsozialistischen Enteignungen noch heute weit in die öffentlichen Sammlungen und den Kunstmarkt hineinragen. Wo wir vor nicht allzu langer Zeit noch selbst in manch strittigen Fällen Provenienzforscherinnen für aufwendige Recherchen beauftragen mussten, steht heute für alle Beteiligten die Klärung der Herkunft am Anfang, wenn ein wertvolles Kunstwerk für ein Museum zum Ankauf steht.
Die Landkarte der Provenienzforschung in Deutschland bis 2008 war durch einzelne Initiativen markiert: In Köln und Hamburg wurden schon früh Provenienzforscherinnen mit Recherchen beauftragt; sie waren es auch, die mit zwei weiteren Kolleginnen 2000 den Arbeitskreis Provenienzforschung gründeten, der im informellen und vertraulichen Austausch ein Netzwerk begründete, das heute über 90 Mitglieder zählt und international mit Kolleginnen und Kollegen im Gespräch über die tägliche Recherchepraxis wie über Desiderate der Forschung ist. Im Jahr 2008 begann endlich die systematische Erforschung der bestehenden Sammlungen: Durch eine gemeinsame Initiative mit Kulturstaatsminister Neumann gelang uns die Einrichtung einer ständigen Förderung – mit Unterstützung der Berliner Arbeitsstelle für Provenienzforschung (AfP) sind seitdem in 129 Projekten einzelne Werke untersucht, aber auch ganze Sammlungsbestände durchforstet worden. Alle Kosten zusammengenommen, flossen rund 13 Millionen Euro in die Forschungen, an denen sich die Arbeitsstelle beteiligte. Im Rahmen dieser Projekte wurden über 90.000 Kunstwerke und Kulturgüter in 67 Museen und über eine halbe Million Bücher und Drucke in 20 Bibliotheken akribisch auf ihre Herkunft geprüft. Auf den ersten Blick respektable Zahlen eines – späten – Beginns der Aufarbeitung des NS-Kunstraubs, doch auch Zahlen, die sich gleichwohl in den Diskussionen der vergangenen Monate schnell mit einem Hinweis auf 6.000 deutsche Museen, von denen „nur“ 285 Häuser eine Erforschung begonnen haben, relativieren ließen. Hier gilt es jedoch zu differenzieren: Sehr viele der öffentlichen Sammlungen in Deutschland haben Bestände, die problematischer Herkunft sein könnten, eine ganze Reihe hat hingegen ein Sammlungsprofil, das die Kriterien der Recherche nach NS-verfolgungsbedingten Verlusten nicht erfüllt – beispielsweise die vielen Museen, die mehrheitlich Kunst der Nachkriegszeit und der Gegenwart in ihren Beständen haben. Inzwischen sind erste, hoffnungsvoll stimmende und manchmal auch versöhnende Rückgaben geschafft, oder, wie die Washingtoner Erklärung formuliert, manche „gerechte und faire Lösung“ ist nach fünf Jahren erreicht: Mittlerweile sind als Folge der Forschungen der durch die Arbeitsstelle unterstützten Projekte viele Restitutionsfälle abgeschlossen. Insgesamt wurden in den vergangenen 15 Jahren viele Tausend Objekte – dazu gehören umfangreiche Büchersammlungen ebenso wie Werke der bildenden Kunst und des Kunsthandwerks – an die rechtmäßigen Eigentümer zurückgegeben.
Bei Begegnungen mit Nachfahren beraubter jüdischer Sammler und mit Anwälten der Erben habe ich anerkennende Worte erfahren, wenn wir die Herkunft eines Kunstwerks oder einer Büchersammlung aus der Sammlung ihrer Vorfahren aufzuklären helfen konnten, wenn es zu Rückgaben kam oder die Erben sich zum Verkauf an das Museum entschieden, und die Objekte dann rechtmäßig in den Institutionen blieben. In Fällen wie bei Otto Dix’ Gemälde „Bildnis Max John“ in Freiburg befindet sich das einst unter Zwang verkaufte Werk weiter in der Sammlung: Das Museum konnte mit den Erben des Kunstsammlers Fritz Salo Glaser nach aufwendigen Recherchen und langen Verhandlungen einen Ankauf vereinbaren. In Berlin gingen zwei Gemälde von Karl Schmidt-Rottluff an die Erben von Robert Graetz zurück, die Berliner Landesbibliothek restituierte insgesamt 354 Bücher und Exlibris an 30 Eigentümer, u. a. an die Jüdische Gemeinde und an die Friedrich-Ebert-Stiftung. Die Bremer Kunsthalle gab Giacomo Cavedones „Rückenfigur einer Frau in faltigem Gewand“ an die Erben Michael Berolzheimers zurück, die Stiftung Fürst-Pückler-Museum restituierte ein Gemälde Carl Blechens an die Nachfahren von Alfred und Gertrud Sommerguth, die Staatliche Kunsthalle Karlsruhe gab 43 Druckgraphiken an den Neffen von Iwan Moos zurück, das Bonner Kunstmuseum konnte Paul Adolf Seehaus’ Werk „Leuchtturm mit rotierenden Strahlen“ mit der Provenienz Alfred Flechtheim rechtmäßig erwerben, in Wiesbaden konnte das Museum „Zwei Architekturstücke“ von Gennaro Greco von der Erbengemeinschaft erwerben, aus der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek nahm die Urenkelin von Helene und Ignaz Petschek 420 geraubte Bände in Empfang, aus dem Münchner Stadtmuseum kehrten Kunstgegenstände an die Nachfahren von Emma Budge zurück. In der Herzogin Anna Amalia Bibliothek fand sich eine wertvolle Almanachkollektion, die dem Sammler Arthur Goldschmidt abgepresst worden war – hier konnten wir helfen, den kostbaren Bestand für die Weimarer Sammlung anzukaufen.
Dies sind nur einige Beispiele für die Ergebnisse der Forschungsprojekte, aktuell laufen noch 47 Recherchen, jedes Jahr werden wieder etliche hinzukommen. Die Länder und Kommunen flankieren die Förderungen des Bundes mit eigenen Mitteln, was immer als notwendige Voraussetzung für eine Förderung der AfP gilt. Der Bund erhöhte im Jahr 2012 seine Mittel erheblich und kündigte nun erneut eine Aufstockung an. Die Länder verstärkten ihre finanzielle Unterstützung ebenfalls, so dass seit 2013 zwei weitere Mitarbeiterstellen bei der AfP eingerichtet werden konnten. Somit ist eine intensivere Beratung der Museen, Bibliotheken und Archive bereits in der Phase der Vorbereitung der Projekte gewährleistet. Ebenso vermittelt die AfP die in den Projekten erzielten Ergebnisse und gewonnenen Erfahrungen. Denn finanzielle Mittel, um die – leider erst wenigen – Experten für die Recherchen zu beschäftigen, sind bei weitem nicht das einzige Problem: Der Beratungsbedarf ist weiterhin sehr hoch, wie eine Umfrage des Instituts für Museumsforschung gerade ergab – nur jedes dritte Kunstmuseum, das sich bei der Umfrage beteiligte, kennt die Fördermöglichkeiten der Berliner Arbeitsstelle, bei den Volkskunde- und Heimatmuseen nur jedes fünfte, ähnlich sieht es bei den naturkundlichen Museen und den naturwissenschaftlichen und technischen Museen aus. Die Mitarbeiter der Berliner Arbeitsstelle sind deshalb seit letztem Jahr verstärkt dabei, Einrichtungen mit potentiell belastetem Bestand aktiv anzusprechen, sie für die Provenienzforschung zu sensibilisieren und ihnen Hilfestellung schon bei der Vorbereitung der Anträge zu geben. Denn gerade die Bestände abseits der Kunstmuseen und in den kleineren, kommunalen Sammlungen sind noch zu wenig im Fokus der öffentlichen Diskussion – ebenso wie Objekte in Jüdischen Museen und Judaica-Sammlungen, die nach 1945 begründet wurden. Denn der Erwerb von Judaica nach dem Ende der NS-Herrschaft kann nicht von den umfangreichen Beschlagnahmungen in dieser Zeit getrennt werden. Bei der Suche nach NS-Raubgut steht weiterhin der aus jüdischen Privatsammlungen geraubte und entzogene Kunstbesitz im Vordergrund und wird auch weiterhin den Schwerpunkt der Nachforschungen bilden. Im Zuge der Recherchen tauchten aber auch andere Verdachtsmomente auf: In Bibliotheken finden sich auch Provenienzen aus Bibliotheken der 1933 verbotenen Gewerkschaften und Parteien, aus dem Privatbesitz verfolgter Gegner des Regimes sowie zu Beständen freireligiöser Gemeinden. Vereinzelt wurde Kunstbesitz ermittelt, der den Angehörigen des Widerstands nach dem 20. Juli 1944 entzogen wurde; und der Verbleib von Kunst- und Kulturgut weiterer verfolgter Opfer wie den Sinti und Roma oder den Homosexuellen ist bislang nahezu unerforscht.
Noch sind wir weit davon entfernt, das Unrecht wirklich umfassend aufzuklären. Und nach der Debatte über untätige Museen und die schleppende Aufklärung sind sich aus unserer Einschätzung mittlerweile alle einig, dass die öffentlichen Sammlungen, dass Bund, Länder und Kommunen ihre Verantwortung übernehmen werden, um endlich zurückzugeben, was noch zurückgegeben werden kann. Doch eine finanzielle Hilfe, zentral vergeben von Bund und Ländern, wird nicht allein genügen, zu komplex ist die Aufgabe, die sich stellt. Die Provenienzforschung als Disziplin in Deutschland ist – auch dank des seit 13 Jahren bestehenden, hervorragend gepflegten Netzwerks der Forscherinnen und Forscher – eigentlich nicht schlecht aufgestellt. Momentan 20 fest angestellte Provenienzforscher und 53 befristete Stellen für Experten lassen sich in deutschen Sammlungen zählen. Damit aber für die zukünftigen, enormen Aufgaben auch genügend Forschernachwuchs ausgebildet werden kann, muss die Provenienzforschung fest in universitäre Strukturen verankert werden. Noch zu vereinzelt existieren an kunsthistorischen Seminaren wie an der Freien Universität Berlin Ausbildungsangebote für dieses spezialisierte Arbeitsfeld. Interpretiert man die Umfrage des Instituts für Museumsforschung, dann sind in über 60 Prozent der deutschen Einrichtungen Objekte vorhanden, die vor 1945 entstanden sind und nach 1933 in die Sammlung kamen – auf die Forscher, die Einrichtungen, die Träger, die Fachverbände, die Koordinierungsstelle Magdeburg und die Arbeitsstelle für Provenienzforschung wartet ein Vielfaches der bisherigen Aufgaben. Soll überall kompetent geforscht werden, müssen sich Kunsthistoriker, Historiker, Archivare und Museologen in interdisziplinären Projekten zusammenfinden können, um beispielsweise auch große wissenschaftsfördernde Institutionen für dieses Thema zu gewinnen. Es reicht bei weitem nicht – wie mancherorts aus Mangel an qualifizierten Mitarbeitern und aufgrund fehlender Mittel –, wissenschaftliche Hilfskräfte befristet in dieses schwierige Feld zu schicken.
Natürlich werden die Museen parallel dazu ihr Leitbild neu definieren müssen: Die Kernaufgabe Forschung muss sich um die Herkunftsklärung erweitern, die Kernaufgabe Vermittlung kann die Geschichte der eigenen Sammlung nicht ausblenden. Wie einige der Einrichtungen es in ihren Förderanträgen an die AfP bereits formuliert haben: Es gilt, die Provenienzforschung von ihrer Sonderrolle zu befreien und sie als integralen Bestandteil der musealen Arbeit zu begreifen, sei es retrospektiv bei der Erforschung der Bestände, sei es proaktiv bei Neuerwerbungen oder in der Vermittlung. Die Frage „Wie kamen die Bilder ins Museum?“ trifft durchaus auf eine Resonanz beim Publikum, das ein berechtigtes Interesse an der Herkunft (und zwar nicht nur zwischen 1933 und 1945) seiner öffentlichen Sammlungen hat. Bisher hat nur die Hälfte der Museen, die ihre Provenienzen erforschen, die Ergebnisse auch veröffentlicht. Dabei gehören die Quellen zum wichtigsten Instrument der Forscher, die umgekehrt vom transparenten Umgang etwa der amerikanischen Museen oder den staatlichen Kommissionen für Provenienzforschung in den Niederlanden oder Österreich für ihre eigenen Recherchen profitieren, und hier stoßen die Recherchen nicht nur in den Museen untereinander an Barrieren. Zur Publikation der Ergebnisse gehört auch die Barriere der sprachlichen Vermittlung, hier zwar ist die Datenbank Lostart.de inzwischen mehrsprachig, doch würde man sich international eine Veröffentlichung der Forschungsergebnisse auch in englischer Sprache wünschen. Dazu kommen Fragen der weiteren Erschließung wichtiger Quellen: Auch hier sind dank der Arbeit vieler Archive große Fortschritte erzielt worden, doch gerade die Kunsthandelsarchive als zentrale Quelle sind noch weitgehend unzugänglich oder unerforscht, wenn sie sich denn überhaupt erhalten haben.
Gewonnene Informationen müssen dringend vernetzt werden, denn Provenienzforschung braucht zwar Konzentration und Zeit, aber sie geschieht nicht isoliert oder als Einbahnstraße. Wie diese Arbeit durch die großen Archive international vorangetrieben wird und wie die Arbeitsstelle für Provenienzforschung durch gezielte Förderungen ihren Beitrag zur Erschließung der Quellen leistet, wird im Blick von außen eindrucksvoll durch das „International Research Portal for Records Related to Nazi-Era Cultural Property“ dokumentiert: Das amerikanische Nationalarchiv, selbst Hüter eines zentralen Bestandes von Dokumenten zur Erforschung der Geschichte der Raubkunst, stellt hier – nach Ländern geordnet – relevante Einrichtungen und Bestände vor, darunter auch das Landesarchiv Berlin, das noch bis August 2014 die Akten der Wiedergutmachungsämter Berlin online erschließen soll. Oder das Deutsche Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg: Hier wurde in Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München das Archiv einer Kunsthandlung komplett digitalisiert und archivalisch aufbereitet. Diese im Sommer 2010 freigeschaltete Datenbank macht unter dem Titel „Galerie Heinemann online“ wertvolle Informationen zu Kunstwerken vor allem des 19. Jahrhunderts zugänglich. Beide Projekte wurden von der Arbeitsstelle gefördert. Ein weiterer Meilenstein ist ein Kooperationsprojekt des Getty Research Institute in Los Angeles mit der Universitätsbibliothek Heidelberg und der Kunstbibliothek – Staatliche Museen zu Berlin, das seit Februar 2013 über 3.000 Versteigerungskataloge von Auktionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz zwischen 1930 und 1945 für die Forschung und die interessierte Öffentlichkeit bereitstellt.
Auch ein Web-Portal der Arbeitsstelle für Provenienzforschung macht Informationen aus den Projekten zugänglich: In über 50 Themenschwerpunkten in geschützten Bereichen teilen alle Forscher der Projekte ihre Erkenntnisse, können von den Funden und der Expertise der Kollegen profitieren, sie öffnen ihre Ergebnisse auch externen Forschern an anderen Orten. Auch der Ausbau der internationalen Vernetzung steht auf der Agenda für die nächsten Jahre.
Wer angesichts der Versäumnisse der Jahrzehnte in den letzten Monaten abschreckende Beispiele heraufbeschwor, wer die Museen unter Generalverdacht stellte, die vielen um Aufklärung bemühten Museumsdirektoren übersah, Bund und Länder für ihre Untätigkeit strafte, sollte jetzt einen Blick riskieren: Es gibt ausreichend Vorbilder für gelungene „gerechte und faire Lösungen“ und noch viel mehr dringende Aufgaben, um das entstandene Unrecht beim NS-Kunstraub endlich allerorts aufzuklären. Doch auch davor können wir nicht die Augen verschließen: Die Nachkommen der beraubten jüdischen Sammler entschädigt es nur für einen kleinen Teil des erlittenen, schrecklichen Unrechts, das ihren Familien widerfahren ist.