Dramatische Entwicklungen
Die Grube, die man anderen gräbt: Bis zum unheilsamen Ende illustriert die biblische Geschichte von Daniel in der Löwengrube das alttestamentarische Sprichwort. Von Neid getrieben, intrigieren die obersten Beamten gemeinsam mit den Statthaltern gegen den ebenfalls im Dienste des persischen Königs stehenden Israeliten Daniel. Doch anders als erhofft, überlebt der gottesfürchtige Daniel die Nacht in der Löwengrube. Ihrer Machenschaften überführt, sind es schließlich die Ränkeschmiede selbst, die zwischen den Reißzähnen der Raubkatzen ihr Ende nehmen. Diese Erzählung vertonte Georg Philipp Telemann (1681–1767), als er ein Novum der protestantischen Kirchenmusik kreierte. So erklangen zum Michaelisfest im Kirchenjahr 1730/31 in der Hamburger Hauptkirche St. Petri erstmalig ungewohnt theatralische Töne: Die Festtagsmusik folgte nicht dem üblichen Formprinzip einer Kirchenkantate, vielmehr entfaltete sich die Musik „Der aus der Löwengrube errettete Daniel“ nach den Gattungsmerkmalen des Oratoriums. Hatte Telemann in den Gottesdiensten bislang vorrangig Kantaten mit betrachtendem Inhalt aufgeführt, so brachte er nun die für die andere Gattung typische dramatische Komponente ein. Daniel, der Perser-König Darius sowie weitere Akteure treiben das Geschehen in klangmächtiger Umrahmung der Predigt voran. Durchwirkt ist diese von reflektierenden Passagen: Allegorische Personifikationen von Tugenden wie Mut, Andacht, Vertrauen sprechen die anwesende Gemeinde an und rufen sie zur Betrachtung der Begebenheiten auf.
Gut leserlich, nachdrücklich unterstrichen, so steht die vermeintliche Autorenschaft „Von Herrn: Händl“ auf dem Titelblatt der Partiturabschrift der Telemann-Komposition, entstanden um 1780. Dass dieses musikhistorisch einzigartige Werk dem als Oratorienkomponist bekannten Georg Friedrich Händel (1685–1759) – und nicht dem für seine Kantaten berühmten Telemann – zugeordnet wurde, mag nicht nur in der musikalischen Konzeption, sondern auch in der Geschichte des Manuskripts begründet sein. Die Nachricht von der originellen Vertonung bild- und affektreicher Libretti, gedichtet von Albrecht Jakob Zell (1701–1754), hallte über die hanseatischen Stadtgrenzen bis nach Berlin. Postalisch erbat sich hier der Hofkomponist Johann Friedrich Agricola (1720–1744) Telemanns Kompositionen aus dem sogenannten Oratorischen oder Zellischen Jahrgang, um sie zu kopieren, 1757 erwähnte er das daraus stammende „Michaelisstück vom Daniel“. Da der höfische Musiker wusste, von wem das Musikwerk erdacht war, notierte er – so die Vermutung – dessen Namen nicht auf dem Manuskript. Somit ging das Wissen um den Urheber bei einer weiteren Kopie des Stücks durch die professionelle Hand F. Baumanns in den Jahren um 1780 verloren. Erst jüngst korrigierte die Forschung die falsche Zuschreibung. Ebenfalls gesichert ist nun, dass die 84 Seiten umfassende Abschrift die älteste bekannte Handschrift des Stücks ist. Nach Verlust des Autographen und des Agricola-Exemplars steht sie der Kompositionspartitur am nächsten.
Werke Telemanns – seien es Drucke oder Handschriften – haben sich zu wahren rara avis auf dem Musikantiquariatsmarkt entwickelt. Glücklich daher, dass es dem Arbeitskreis „Georg Philipp Telemann“ Magdeburg e.V. mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, des Landes Sachsen-Anhalt und der Stiftung Kloster Unser Lieben Frauen gelungen ist, das in Halbleder eingebundene Manuskript für die Bibliothek des Zentrums für Telemann-Pflege und -Forschung zu erwerben. So ist die bedeutende Kopistenabschrift in der Geburtsstadt des Barock-Komponisten der Forschung sowie der interessierten Öffentlichkeit zugänglich und die wissenschaftliche Einrichtung kann ihre Bedeutung für die Untersuchung des Œuvres Telemanns, aber auch der Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts weiter ausbauen.