Antwerpener Architekturfantasie
Kaum zu glauben, aber wohl wahr: Obschon sich durch ihn – den bedeutendsten Architekturtheoretiker seiner Generation, den Erfinder der neuzeitlichen Architekturmalerei – ein reicher Transfer der italienischen Architekturtheorie in den nordalpinen Raum vollzog, reiste der Künstler selbst nie nach Italien, in das Land, dem er seinen ungemein einflussreichen Stil verdankte: Hans Vredeman de Vries (1527–1609). Der „flämische Vitruv“ sog seine Anregungen stattdessen aus graphischen Vorbildern und Illustrationen, er kombinierte die Vorlagen geschickt und erschuf so sein erfolgreiches Bildrepertoire: Der innovative Patchworker spann von seinem langjährigen Standort, der Handelsmetropole Antwerpen, ein dichtes Netz zu den anderen Zentren der nördlichen Renaissance, zu seinen Auftraggebern in Wolfenbüttel, Hamburg, Danzig oder Prag; noch weitreichender sollten seine Musterbücher die bildende Kunst, das Kunsthandwerk und die Architektur bis hin zur Gartenarchitektur prägen. Sein Sohn Paul verstand es auf elegante Weise, des Vaters Architekturfantasien zu raffinierten Bildfindungen zu kompilieren: Die seine Zeitgenossen begeisternde Raumillusion bedient sich der in der Renaissance populär gewordenen Zentralperspektive, in der eine weitläufige, herrschaftliche Kulisse vor den Augen des Betrachters entsteht. Gestaffelte Prospekte bilden die Bühne für das reiche Treiben der „Palastarchitektur mit höfischer Gesellschaft und Vorbereitung zu einem Mahl“ von 1607: Plastisch sind die Ornamente durchgebildet, reichhaltig die Stile der dargestellten Bauten – auch deshalb wird angenommen, dass ausschließlich der Sohn Paul, wenn auch mithilfe des Vaters Baukasten, das kostbare Gemälde erschuf. Hans und Paul Vredeman de Vries (1567–1617) waren tätig für etliche große europäische Fürstenhäuser, sie mehrten u. a. den Glanz des Prager Hofs Kaiser Rudolfs II., für den beide in den 1590er Jahren arbeiteten.
Auf dem vom Grassi-Museum mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Ernst von Siemens Kunststiftung und der Landesstelle für Museumswesen des Freistaates Sachsen erworbenen großformatigen Bild verdichtete Paul seine Eindrücke des höfischen Lebens inmitten der Paläste, der Kavaliere und Hofdamen zwischen Etikette und Zeremoniell. Im Leipziger Museum beweist das Gemälde schon seit längerem als Leihgabe die Verwobenheit der angewandten mit der bildenden Kunst, es illustriert aufs Dichteste die Wechselwirkungen: Paul Vredeman de Vries‘ Palastbild lässt nun im Grassi-Museum weiter zusammen mit einem steinernen Rundbogenportal und einer wertvollen Truhe mit architektonischen Motiven den zentralen Dreiklang der musealen Inszenierung zur „Renaissance nördlich der Alpen“ erklingen.