Alte Schriften aus der Neuen Welt
Johann Christoph Sauer (1695–1758) hätte sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können, über welch abenteuerlichen Umweg seine zwölf Bibeln ihr Ziel erreichen sollten, als er die Drucke 1743 auf die Reise über den Atlantik nach Deutschland schickte. Sauer selbst hatte knapp 20 Jahre zuvor die strapaziöse Überfahrt in entgegengesetzte Richtung nach Amerika auf sich genommen: Nach geglückter Emigration eröffnete der gelernte Schneider und Sohn eines reformierten Pastors eine Druckerei in Germantown in Pennsylvania. Von Heinrich Ehrenfried Luther (1700–1770), dem Inhaber der berühmten Egenolff’schen Druckerei und Schriftgießerei in Frankfurt am Main, bezog der Auswanderer einen Satz Drucktypen und eine Druckerpresse. Mit dieser transatlantisch importierten Grundausstattung druckte Sauer in deutscher Sprache verfasste Schriften. In der aus der alten Heimat Deutschland bekannten Frakturschrift gesetzt, avancierten sie – darunter die „Germantowner Zeitung“, ein jährlich erscheinender Almanach sowie zahlreiche religiöse Traktate – schnell zu populären Medien bei den deutschen Siedlern in der Region. Auch sein berühmtestes Werk – zugleich ein kulturgeschichtlicher Meilenstein – publizierte Sauer mit Hilfe der Luther’schen Drucktypen: 1743 druckte er die Bibel auf Deutsch – die erste Heilige Schrift auf dem amerikanischen Kontinent in europäischer Sprache.
Zum Dank und mit der Bitte, sie in verschiedenen europäischen Bibliotheken unterzubringen, verschiffte Sauer zwölf Exemplare seiner druckfrischen Bibel an seinen Unterstützer Luther in Deutschland. Als Fracht auf dem Handelsschiff „Königin von Ungarn“ geladen, waren die Schriften jedoch großen Unwägbarkeiten ausgesetzt: Nach beschwerlicher Überquerung des Atlantiks fast am Ziel, kaperten Seeräuber das Schiff auf Höhe der französischen Küstenstadt St. Malo und nahmen mit der kostbaren Warenladung auch das Dutzend deutscher Bibeln in Beschlag. Von den Freibeutern verhökert, erreichten die Drucke aus Amerika wie durch ein Wunder dennoch – wenn auch erst Jahre später – ihren Adressaten Luther in Frankfurt. Dieser klebte ins Innere seines eigenen Exemplars eine gedruckte Widmung ein: eine Übersicht der Ereignisse der Atlantiküberquerung, handschriftlich um die Datumsnotiz 1747 ergänzt – das Jahr, in dem ihn die „zwölf Apostel der (West)Indier“, wie er die Bücher stolz nannte, schließlich erreichten. Neben Luthers Autograph enthält das Exemplar zudem eine handschriftlich angefertigte Liste mit den zu beliefernden Bibliotheken, darunter St. Petersburg, Kopenhagen und Stuttgart. Heute sind nur in wenigen deutschen Bibliotheken Bibeln dieser Provenienz erhalten, Luthers private Sauer-Bibel stellt insbesondere mit den autographen Anmerkungen eine wertvolle Rarität dar.
Heinrich Ehrenfried Luther, damaliger Inhaber der bereits 1531 von Christian Egenolff gegründeten Druckerei in Frankfurt und Zulieferer von Sauers Drucklettern, interessierte sich über das Geschäftliche hinaus für das Leben der deutschen Auswanderer in Amerika. Seine Sammlung an Drucken und Handschriften ist das Ergebnis lang gepflegter Verbindungen über den Atlantik. Religiöse Erbauungsliteratur, Aufzeichnungen von Auswanderern, politische Erklärungen aus den Kolonien, Wochenzeitschriften, Gedichtabfassungen und Erzählungen gehören zu den 38 Drucken – neben der deutschen Bibel stammen 13 weitere Drucke aus Sauers Presse. Die Dokumente bezeugen die Frühzeit des amerikanischen Buch- und Zeitungsdrucks im Allgemeinen und das Zutun von Sauer und Luther im Speziellen: Ihr reger Austausch beschleunigte die Entwicklung der Amerikanischen Publizistik maßgeblich. Mit den ebenfalls im Nachlass enthaltenen sieben Handschriften – darunter umfangreiche Briefe Sauers – konturiert das Konvolut die Lebensweise der emigrierten Deutschen, gibt Auskunft über die Umstände der Auswanderung, die politische Lage der Kolonien und die Rolle der deutschen Sprache in der Neuen Welt. Bisher in Privatbesitz der Nachfahren Luthers stellt der Nachlass in seiner Geschlossenheit einmaliges kulturhistorisches Quellenmaterial für die Erforschung der deutschsprachigen Literatur in Nordamerika dar: Allein 17 der Drucke sind bislang in keiner öffentlichen Bibliothek in Deutschland vorhanden, vier davon sogar weltweit nicht nachgewiesen. Mit dem Ankauf durch das Historische Museum Frankfurt, unterstützt von der Kulturstiftung der Länder, der Hessischen Kulturstiftung, der Grunelius-Stiftung
sowie der Cronstett- und Hynspergische evangelische Stiftung, gelingt es nun, die in Frankfurt entstandene Sammlung des Druckers Heinrich Ehrenfried Luther geschlossen in der Mainmetropole zu erhalten.