500 Regalmeter Musikgeschichte
„Überhaupt kann ein Musikverleger Ihre Bedürfnisse nicht bestreiten, dies kann nur ein enorm reicher Bankier oder Fürst, der über Millionen zu verfügen hat“, reagierte der Musikverleger Franz Schott ungehalten 1862 in einem Brief an Richard Wagner auf dessen exorbitante Vorschussforderungen, die den Musikverlag Schott nach erheblichen Investitionen in seinen Starkomponisten weiter ans finanzielle Limit brachten. Nichtsdestotrotz sorgte die Bindung Richard Wagners durch den Verleger Schott ab 1858 für den Durchbruch des 1770 gegründeten Verlags auf dem Markt: Mit der Herausgabe u. a. der „Meistersinger von Nürnberg“ und der vier Opern des „Ring des Nibelungen“ sowie „Parsifal“ nahm der Aufstieg des Verlags zu einem der größten europäischen Musikverleger weiter Fahrt auf, man hatte zuvor bereits Dependancen in Antwerpen, Paris, London, Leipzig und sogar Büros in Sydney und Melbourne eingerichtet.
Es gilt als papiernes Monument der mitteleuropäischen Musikgeschichte: Das bald nach Gründung des Musikverlags im Jahr 1770 aufgebaute Archiv von „B.Schott’s Söhne“. In ähnlicher Größe und Geschlossenheit ist kein anderes Musikverlagsarchiv bekannt – es umfasst die Geschäftsakten (Korrespondenz, Druck- und Stichbücher, Kopierbücher, Kontojournale) von 1787 bis 1945 und das gesamte historische Herstellungs-, Musikhandschriften- und Erstausgabenarchiv seit 1810 bis etwa 1950 sowie Briefe bis 1950. Den Staatsbibliotheken Berlin und München ist es nun unter Federführung der Ankaufsverhandlungen durch die Kulturstiftung der Länder gelungen, das historische Archiv des Schott-Verlags zu erwerben. Neben dem Einsatz von erheblichen Eigenmitteln der Bibliotheken unterstützten die Kulturstiftung der Länder, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie die Carl Friedrich von Siemens Stiftung den Ankauf des wertvollen Konvoluts. Daneben fördern den Ankauf ausgewählter Teilbestände durch die sechs weiteren beteiligten Institutionen die Ernst von Siemens Musikstiftung, die Berthold Leibinger Stiftung, die Wüstenrot-Stiftung, die Carl-Orff-Stiftung, die Fondation Hindemith, das Land Baden-Württemberg, der Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e.V., private Förderer des Max-Reger-Instituts sowie die Freunde der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main e.V. Das bisher im Verlagsstammhaus in Mainz verwahrte und im Eigentum der Strecker-Stiftung befindliche Archiv wurde 2004 in das Verzeichnis national wertvoller Archive eingetragen.
Spitzenstücke des Archivs sind zahlreiche Autographen von der Hand der berühmtesten von Schott verlegten Komponisten wie Richard Wagners eigenhändiger Prosaentwurf des Meistersinger-Textbuchs (von der Berliner Staatsbibliothek neben 265 Briefen erworben), die Partitur Carl Orffs der „Carmina Burana“ (von der Carl-Orff-Stiftung neben 1.600 Briefen Orffs erworben) und Peter Cornelius′ Textbuch des „Barbiers von Bagdad“. Von Luigi Nono gelangt nun die autographe Partitur von „Il canto sospeso“ in die Berliner Staatsbibliothek, von Karl Amadeus Hartmann kommt neben 215 Briefen des Komponisten die Partitur der 6. Symphonie in die Bayerische Staatsbibliothek. Die Fondation Hindemith erhält u. a. den ersten autographen Textentwurf zu Paul Hindemiths „Mathis der Maler“ von 1933, die Akademie der Künste Berlin erwirbt neben 288 Briefen des Komponisten die autographe Partitur von Bernd Alois Zimmermanns „Concerto pour violoncelle et orchestre en forme de pas de trois“ von 1966. Weiterhin enthält das nun veräußerte Schott-Archiv unter anderem Hunderte originale Musikautographen sowie rund 40.000 Briefe bekannter Komponisten wie Ludwig van Beethoven, Frédéric Cho-pin, Werner Egk, Joseph Haas, Engelbert Humperdinck, Franz Liszt, Bohuslav Martinù, Jacques Offenbach, Hans Pfitzner, Maurice Ravel, Max Reger, Hermann Reutter, Ernst Toch und Ermanno Wolf-Ferrari sowie von prominenten Interpreten und Dirigenten, Musikverlagen, Musikwissenschaftlern und Instrumentenbauern – in ihrer einzigartigen Fülle und Dichte von unschätzbarem Wert für die Musikgeschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert. Inklusive des Musikhandschriftenarchivs mit handschriftlichen Vorlagen und Korrekturfassungen der verlegten Drucke von 1810 bis 1950 umfasst das gesamte Archiv rund 500 Regalmeter: In seiner Geschlossenheit und Vollständigkeit lässt sich zukünftig wie für keinen anderen musikalischen Großverlag anhand dieses Archivschatzes über zwei Jahrhunderte das vielschichtige Wirken des Schottverlags nahezu lückenlos nachverfolgen.
Das erworbene Verlagsarchiv wird zukünftig in folgenden Institutionen bewahrt und erschlossen: Bayerische Staatsbibliothek, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Beethoven-Haus in Bonn (Konvolut Ludwig van Beethoven), Carl-Orff-Stiftung (Konvolut Carl Orff), Fondation Hindemith (Konvolut Paul Hindemith), Max-Reger-Institut/Elsa-Reger-Stiftung (Konvolut Max Reger), Stiftung Akademie der Künste Berlin (Konvolut Bernd A. Zimmermann), Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg (Engelbert Humperdinck).
Die Aufteilung des wertvollen Archivs auf die beiden Staatsbibliotheken in Berlin und München sowie einschlägige Forschungseinrichtungen gewährleistet im jeweiligen Sammlungskontext die bestmögliche Nutzbarkeit. Eine folgende vollständige Digitalisierung wird den ursprünglichen Zusammenhang des Schott-Archivs für die Erforschung nachvollziehbar erhalten, das Archiv wird kooperativ erschlossen werden.