Zwischen Roland und Raumfahrt
Zwei Weltkulturerbestätten nur wenige Schritte voneinander entfernt, der Roland und das Rathaus: Das kann nicht jede Stadt, nicht jedes Land bieten. Dabei ist den Menschen weitab etwas Drittes geläufiger. Es steht eher im Schatten der Rathauswand – die Bremer Stadtmusikanten. Wie die Meerjungfrau in Kopenhagen oder das Manneken Pis in Brüssel wirkt die Bronzeplastik im wirklichen Leben kleiner als in Abbildungen und der Vorstellung. Das mag auch für Bremen selber gelten. Oft wird bei Berichten über Bremisches hinzugefügt: „das kleinste Bundesland“ oder „der kleinste ARD-Sender“. Echte Bremer lässt das kalt. Sie wissen, was sie an ihrer Stadt haben und wollen gerade nicht das Große. Sie setzen auf Eigenständigkeit und Eigenart – und auch auf eine geschickte Selbstdarstellung.
Das beginnt schon mit den Kaufmannsfesten und deren Inszenierung. Wer einmal im Leben zum Schaffermahl in den Rathaussaal geladen wurde und im Frack die paar Schritte vom Schütting, dem Sitz der Handelskammer, zum Rathaus geht, vergisst das nicht. Dafür lassen Inhaber von Weltunternehmen Fusionsverhandlungen ruhen und kommen an die Weser. Bundeskanzlerin Angela Merkel weiß, was es heißt, als erste Frau Ehrengast des Schaffermahls zu sein und gut fünf Stunden lang auf 299 Herren zu schauen. Dabei ist das Schaffermahl nur eines der Kaufmannsfeste – die Eiswette, die Januargesellschaft, das Tabak-Collegium, das Bankett der Schwarzenhäupter gründen ebenso auf eine ehrwürdige Tradition. Wer so etwas bieten kann, grämt sich nicht ob des Stadtnamens: Angeblich kommt er von „verbrämen“ – also „an den Rändern gelegen“.
Kaufmannschaft und Arbeiterschaft: Ihr „historisches Bündnis“ ist Symbol für eine Gelassenheit, die die Stadt prägt, ihre Lebensart, auch ihr Stadtbild. Über viele Jahre hinweg fand sie politisch in einer großen Koalition im Senat ihren Ausdruck. Dazu kommt eine tief verankerte bürgerliche Kultur. Und mit dieser ist die Kultur des Stiftens verbunden. Nur so gibt es einen Bürger- und einen Rhododendron-Park, die Kunsthalle, das Gerhard-Marcks-Haus für Bildhauerei, das Wilhelm-Wagenfeld-Haus für Design sowie das völkerkundliche Übersee-Museum als eines der meistbesuchten Museen Deutschlands. Bisweilen kam der Anstoß, etwa zum Bürgerpark, weil die Stadt wie auch heute finanziell klamm war. Sogar eine Privatuniversität blüht dank einer Bürgerstiftung: Klaus Jacobs, der unlängst verstorbene Spross der Kaffeedynastie, hatte der nun nach ihm benannten privaten Internationalen Universität Bremen 200 Millionen Euro gestiftet, die höchste Spende je eines Privatmannes an eine Hochschule in Europa. Ohne den Mäzen Ludwig Roselius gäbe es die Böttcherstraße nicht, das Roselius-Haus mit seiner Kunstsammlung und das Paula Modersohn-Becker-Haus. Um die 200 Stiftungen gibt es in Bremen, beginnend mit dem „Haus Seefahrt“, das seit 466 Jahren das Schaffermahl ausrichtet. Es unterstützt verarmte ehemalige Kapitäne und deren Familien. Und ohne die Eiswette fehlte der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, die nicht ohne Grund ihren Hauptsitz in Bremen hat, ihr größter Geldgeber.
Die Zweigesichtigkeit Bremens zeigt sich im Stadtbild wie auch in der sozialen Kluft, die größer ist als anderswo. Gediegener Wohlstand wird sichtbar in Stadtteilen wie Schwachhausen mit seinen „Bremer Häusern“, einer eigenständigen Hausform der Einfamilien-Reihenhäuser mit einem Sockelgeschoss mit Küche, Waschküche und Keller, einer mehrstufigen Treppe zum Haupteingang mit Windfang und mit einem zur Gartenseite ausgebauten Dach. Auf der anderen Weserseite, in der Neustadt, sind die Häuser zwar kleiner, aber ebenfalls schmuck, liebevoll mit Blumenkübeln gepflegt und individuell gestaltet. In dicht bebauten einförmigen Stadtteilen wie Gröpelingen dagegen ist der Anteil Arbeitsloser hoch – in keiner anderen deutschen Kommune gibt es mehr überschuldete und mittellose Menschen oder eine höhere Kinderarmut. Der sozialdemokratischen und linken Tradition wird gehuldigt, teils auch der kurzen Phase der Räterepublik. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der in aller Welt bekannteste Mann, der, als Kaufmannslehrling, eine längere Zeit in Bremen gelebt hatte, der Sozialrevolutionär Friedrich Engels war.
Wer erstmals kommt und wenig Zeit hat, läuft die wenigen Minuten vom Bahnhof vorbei am Übersee-Museum, das mit Ausstellungen über den Indianerhäuptling Sitting Bull, „das Böse“ oder „das Paradies“ auf sich aufmerksam macht, über die Wallanlagen zum Marktplatz. Dort bündelt sich „alles“. Das Sandstein-Rathaus mit Laubengang im Weserrenaissance-Stil ist Stolz jeden Bremers nicht nur wegen des von Wilhelm Hauff verewigten Ratskellers mit mehr als 600 Weinsorten. Manches überkam wenig verändert aus dem Mittelalter – die beiden großen Hallen, der Erker, das Fresko von 1532, das an die Gründung des Bistums Bremen durch Karl den Großen und Bischof Willehad im Jahr 787 erinnert. Die Stadtväter aber beließen es nicht beim Hergebrachten. Sie halten ihre vertraulichen Sitzungen in der Güldenkammer, die Heinrich Vogeler aus dem nahen Worpswede 1905 im Jugendstil ausgestaltete – seine stilisierten Vögel kehren in der erneuerten vergoldeten Ledertapete wieder. Vor dem Rathaus steht als Symbol der Stadtfreiheit der Roland aus Kalkstein, das unerreichte Vorbild für Rolandstatuen in aller Welt. Der Spruch auf seinem Wappenschild – „Freiheit offenbare ich euch“ – gilt weiterhin in der Stadtrepublik, deren Bürger Orden ablehnen. Es reiche, sagte Hans Koschnick unlängst aus Anlass seines Achtzigsten, wenn am Ende seines Lebens gesagt werde, er habe das „nicht ganz schlecht gemacht“. Er war einer der großen Bürgermeister und Senatspräsidenten der Hansestadt wie zuvor Johan Smidt und Wilhelm Kaisen. Smidt gründete den bremischen Hafen an der Wesermündung, der zu Bremerhaven wurde, und verteidigte auf dem Wiener Kongress 1813 die Unabhängigkeit Bremens. Kaisen betrieb den Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg und wiederum die Unabhängigkeit Bremens nun als Bundesland.
Der Bürgermeister schaut vom Rathaus auf die neuerbaute Bürgerschaft, gleichsam die Brücke zwischen den drei Kraftzentren, die sich um den Marktplatz bündeln und die Geschichte Bremens widerspiegeln. Neben dem Rathaus ist das zum einen der Schütting als Vertretung der Kaufleute und der Reeder. Wie im Rathaus stehen und hängen hier Schiffsmodelle, Gobelins, Wappenfenster, Kaminuhren. Der Wahlspruch am Schütting ist ähnlich bekannt und richtungweisend wie jener am Roland: „Buten un binnen, Wagen un winnen“.
Händler richteten sich danach und brachten Kaffee, Tee, Gewürze, Wein aus aller Welt nach Deutschland. Ihre Nachfahren exportieren aus dem viertgrößten Containerhafen Europas in der Schwesterstadt Bremerhaven Autos in alle Welt; und sie stellen nun Hochtechnologie her. Bremen ist ein Zentrum der Luft- und Raumfahrtforschung und -fertigung und beherbergt Weltmarktführer – hier werden Weltraumlabore und Raketenstufen entwickelt und gebaut. Auch hier bietet Bremen den Vorteil kurzer Wege zwischen Theorie und Praxis, Wirtschaft und Wissenschaft (was indes zum bremischen Klüngelgefühl beitragen mag). Die Antarktis-Station wird ebenso wie Kreuzfahrtschiffe, Opernhäuser und Fußballstadien dank bremischer Fertigkeiten isoliert, ob gegen Schall, Kälte oder Hitze.
Das dritte Dreieck am Marktplatz stellt natürlich der frühgotische Dom mit seinen mächtigen Türmen. Der Dombezirk, der abwechselnd Schweden, Dänemark und dem Königreich Hannover gehörte, wurde erst 1803 in die Freie Hansestadt eingemeindet. Die Bedeutung der Kirche schwand weiter in den letzten Jahrzehnten. Die Teilnehmer des Deutschen Evangelischen Kirchentages Ende Mai stießen nicht nur auf ein Jerusalemkreuz mit 25.000 Stiefmütterchen vor der Mühle am Wall als Symbol des Kirchentages. Sie trafen auch auf eine eigentümlich strukturierte und dezentralisierte Landeskirche ohne Bischof und auf Protestanten, deren Anteil an der Bevölkerung sich von den frühen Siebzigern bis heute, meist durch Austritte, von 80 auf 40 Prozent halbiert hat.
Jeweils wenige Schritte entfernt vom Marktplatz sind zwei andere Sehenswürdigkeiten, die jeder Bremen-Besucher anstrebt: die Schnoor und die Böttcherstraße. Die verwinkelte Straße Schnoor – die Zeile der Fischer- und Handwerkerhäuser ist wie an der „Schnur“ aufgereiht – hat als einziger Winkel der Altstadt den Bombenkrieg unbeschadet überstanden, schief und quirlig. Kürzer noch ist die Böttcherstraße, und aus einer ganz anderen Zeit. Sie verdankt ihren Umbau zu Beginn des vorigen Jahrhunderts der Tatkraft des Erfinders von Kaffee Hag, dem Werbegenie Ludwig Roselius. Verspielte Nischen, Giebel, Statuen reizen zum Schlendern, das in die einander verbundenen Museen Roselius-Haus und Paula Modersohn-Becker-Haus leitet. Letzteres ist das erste Museum Deutschlands, das ausschließlich einer Künstlerin gewidmet ist.
Bremen ist nicht nur eine Stadt der Denkmäler und Museen, unter ihnen neben der Kunsthalle das Focke-Museum für Stadtgeschichte und Gewerbekunst und die Weserburg als erstes deutsches Sammlermuseum für Gegenwartskunst. Bremen ist reich auch in der Musik – manche zählen die Deutsche Kammerphilharmonie zum Besten, was Europa in der klassischen Musik zu bieten habe – und im Theater. Wie bei den Museen liegt an den Bühnen die Besucherquote jeweils auf Platz zwei unter den Bundesländern nach Berlin (Museen) oder Hamburg (Theater). Dazu kommen versteckte Kulturgüter und Archive. Ein Hanse-Archiv vermutet man ohnehin dort. Bremen feierte unlängst den Beitritt zur Hanse vor 650 Jahren. Aber man findet auch das Deutsche Tanzfilminstitut Bremen, die nach einer Sammlung in New York zweitgrößte Kollektion gefilmter Tanzdokumente in der Welt. Das Institut für Presseforschung hat, als einziges Forschungsinstitut für die Geschichte der Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, das umfangreichste Mikrofilmarchiv deutschsprachiger Periodika des 17. und 18. Jahrhunderts. Zugleich ist es das älteste Institut der jungen Universität Bremen, die sich von einer „roten Kaderschmiede“ zu einer Stätte der Exzellenz mauserte, den früheren Ruf aber noch nicht los ist.
Die klare Haltung von Bürgerrechtlern und Friedensaktivisten in Bremen zeigt sich in der Forschungsstelle Osteuropa, einst Anlaufstelle für Bürgerrechtler des früheren Ostblocks. Ob all der Historie mag der flüchtige Besucher die zeitgenössische, in Bremerhaven auch futuristische Architektur übersehen. Im „eigentlichen“ Bremen bündelt sich das in der Überseestadt mit ihren umgebauten Speichern, die zu einem neuen Kerngebiet urbanen und kulturellen Lebens ausgebaut wird, sowie in teils finanziell fehlgeleiteten Großprojekten wie dem walförmigen Wissenschaftszentrum „Universum“ und dem einstigen Einkaufszentrum „Space Park“ samt Raketenmodell vor der Tür. Experimentierfreudiger und erfolgreicher bei Neubauten ist der Ableger Bremerhaven, der sich stets benachteiligt fühlt – wegen der Entfernung von 66 Kilometern und mangelhafter Bahnanbindung ist das Tor der deutschen Autoindustrie zur Welt mit Europas größtem Autoterminal vom Besucherstrom abgeschnitten. Dabei bildet es zusammen mit der Stadt Bremen das Bundesland „Freie Hansestadt Bremen“. Mit der Gründung Bremerhavens 1827 wollte Bremen seine Rolle in der Schifffahrt zurückgewinnen, nachdem der Stadthafen zu versanden drohte.
Mit seinem Ausbau des Fremdenverkehrsangebots versucht Bremerhaven dem nahezu dramatischen Schwund an Bevölkerung entgegenzuwirken, die durch die Verlagerung der Hochseefischerei in den Siebzigern, den Abzug der amerikanischen Soldaten und die Werftenkrise gleich drei Nackenschläge erlebte. Wie in Bremen liegt in Bremerhaven Wesentliches direkt nebeneinander – das Deutsche Schifffahrtsmuseum mit seinem Museumshafen, seiner Hansekogge als „Weltsensation“ und 15.000 Jahren Schifffahrtsgeschichte, und das gerade eröffnete Klimahaus, in dem Besucher sich in alle Klimazonen der Welt hineinträumen können. Nahebei steht das international renommierte Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Im Deutschen Auswandererhaus, schon bald nach der Gründung ausgezeichnet als „Europäisches Museum des Jahres“, können Familienangehörige den Wegen und Motiven ihrer Vorfahren nachspüren: Sieben Millionen Menschen wanderten zwischen 1830 und 1974 von Bremerhaven aus per Schiff in die Neue Welt aus. So spielten Bremen wie Bremerhaven für viele Menschen Schicksal.