Als im August 2022 eine ältere Dame bei Michael Römhild, dem Leiter des Stadtmuseums Hildburghausen, anrief und berichtete, sie sei im Besitz einiger Gemälde ihrer Ahnen, derer sie sich gerne entledigen und sie daher dem Museum übergeben wolle, ahnte dieser bereits, um welch spannenden Fund es sich hierbei handeln könnte. Rasch machte sich der studierte Museologe auf den Weg. Römhild, der – zunächst als Museumsassistent – bereits seit 1986 in dem 1904 gegründeten Museum in der südthüringischen Stadt nahe der Grenze zu Bayern arbeitete, hatte nach der Wende daran mitgewirkt, es an seinen jetzigen Standort zu verlegen und sich hingebungsvoll um die fachgerechte Renovierung des im 16. Jahrhundert erbauten Fachwerkhauses gekümmert. Als Bürgerhaus geschaffen, war es im 19. Jahrhundert zum Sitz des Postamts von Thurn und Taxis avanciert, um schließlich zu seiner heutigen Nutzung zu finden. Michael Römhild pflegte die Bestände, legte bei Ausgrabungen auch gerne mal selbst Hand an und war stets motiviert, die vom Mittelalter bis in die Neuzeit reichende Sammlung seines Museums zu erweitern, ob durch wertvolle Neuerwerbungen, Zufallsfunde in der Stadt oder Schenkungen von Privatpersonen.
Bei der Anruferin Brigitte Burger in Eching bei München angekommen, wurden dem Museumsdirektor vier ovale Porträtgemälde – zwei Frauen- und zwei Männerbildnisse – sowie ein weiteres Ölbild, das spielende Kinder zeigte, präsentiert. Die vier Einzelporträts, von denen die Dame wusste, dass es sich um Bildnisse ihrer Vorfahren handelte, hatten es an die Wand ihrer Stube geschafft, das Kinderbild dagegen ein Dasein im Keller gefristet. Denn dessen Provenienz und Sujet waren unklar. Einzig, dass es sich bei einem der Kinder um ihren Großvater „Adolf“ handeln solle, erinnerte sie. Insbesondere dieses, aufgrund seiner Kellerjahre beschädigten Bildes, wollte sie sich nun dringend entledigen: „Entweder Sie nehmen es mit oder ich muss es entsorgen.“ Römhild zögerte nicht lange, war es doch besonders jenes letztere Gemälde, das sein ausgesprochenes Interesse weckte. Die dargestellte Szene kam ihm bekannt vor, denn die dazugehörende Entwurfszeichnung aus dem Skizzenbuch des Hildburghäuser Malers Carl August Hohnbaum (1825–1867) befand sich bereits in der Museumssammlung. Und auch die hinter den Kindern schemenhaft abgebildete Villa erkannte er sogleich: Ganz eindeutig handelte es sich um die im 19. Jahrhundert erbaute Villa der Hildburghäuser Familie Scheller.
Kurz darauf konnte er die abgebildeten Personen aller fünf Bilder genau identifizieren und ihre Entstehungszeit datieren. Bei den auf den Porträts dargestellten Personen handelt es sich um Johann Heinrich Scheller (1740–1810) und seine zweite Frau Johanna Elisabeth Scheller, geborene Tentzel (1753–1836), sowie deren Sohn Johann Wilhelm Scheller (1790–1863) und seine Frau Rosalie Scheller, geborene Wirth (1805–1869). Das Kinderbild wiederum zeigt drei der Enkel von Johann Wilhelm: Robert, Max und Eduard Ferdinand Adolf – den 1864 geborenen Großvater der Schenkerin. Michael Römhild war klar, welchen Wert der Fund für seine Sammlung hatte. Und, dass es die in Mitleidenschaft geratenen Gemälde dringend zu restaurieren galt. Er bemühte sich um eine Förderung und fand im Freundeskreis der Kulturstiftung der Länder den idealen Partner, kümmert sich dieser doch insbesondere um Restaurierungen in mittleren und kleineren Museen Ostdeutschlands. Die Erfurter Restauratorin Christine Machate übernahm den Auftrag: Die Bilder sollten gesäubert, die Firnisse erneuert, Fehlstellen und Risse ausgebessert werden.
Wer aber waren diese Schellers, die ihn in solche Begeisterung versetzten? Der Wert der Bilder liegt besonders in ihrem Potenzial, zum Portal einer Zeitreise zu werden: Denn die Biografien der umtriebigen Familie Scheller lesen sich wie ein Querschnitt durch die neuere deutsche Geschichte. Und entlang ihrer Generationen lässt sich die Entwicklung der Stadt Hildburghausen hervorragend nachvollziehen.
Im fränkischen Teil Thüringens, südlich des Thüringer Waldes gelegen, wurde Hildburghausen stets aus beiden Richtungen beeinflusst und fiel als Grenzort mal der einen und mal der anderen Herrschaftsseite zu. Die ursprünglich fränkische Siedlung, die im Mittelalter sogar einige Zeit der Burggrafschaft Nürnberg des Heiligen Römischen Reiches unterstand, schaffte es als Residenzstadt des deutschen Fürstentums Sachsen-Hildburghausen, welches 1680 begründet wurde, zu erheblichem Ruhm, den der Schlossbau nach dem Vorbild Versailles Ende des 17. Jahrhunderts besiegelte. Auch die Mode bei Hofe stand ganz im Zeichen Frankreichs und nach dieser richtete sich die Berufswahl des ersten porträtierten Schellers: Johann Heinrich lernte zunächst das Friseurhandwerk, passte sein Können allerdings schnell den höfischen Rokoko-Gelüsten an und arbeitete bereits ab 1766 als Hof-Perruquier, etwas später als Hofkommissair. Schließlich wechselte er sein Metier vollständig: Im Jahre 1775 eröffnete Johann Heinrich Scheller ein Weingeschäft, auch dies eine Reaktion auf den Zeitgeist: Die Beliebtheit Frankreichs in deutschen Adelskreisen sank allmählich und mit ihr auch die Perückenliebe. Der Wechsel vom höfischen zum bürgerlich-kaufmännischen Sektor war so kurz vor der französischen Revolution, in Zeiten der Aufklärung und des erstarkenden Bürgertums ein ebenso kluger wie logischer Schachzug. Gleichzeitig aber waren es die höfischen Beziehungen, die Scheller zum Erfolg verhalfen. Seine Söhne aus zweiter Ehe Johann Erdmann (1785–1845) und Johann Wilhelm, letzterer ebenfalls unter den Porträtierten, übernahmen nach dem Tod des Vaters im Jahr 1810 den florierenden Weinhandel in zweiter Generation und schafften es sogar, eine zweite Filiale in Rüdesheim am Rhein zu eröffnen. Während Wilhelm gänzlich im Weinvertrieb aufging – seine ehrgeizigen Geschäfte lassen sich detailliert in vier handschriftlichen Kopierbüchern im Stadtmuseum nachvollziehen –, verkaufte sein Bruder Erdmann ihm nach einigen Jahren seinen Anteil und widmete sich als Mäzen seiner Kunstsammlung. Aber auch Johann Wilhelm war kulturell interessiert und unterstützte mit dem Geld aus dem Weinhandel eine Persönlichkeit, die die weitere Stadtentwicklung maßgeblich prägend sollte: Durch beharrliches Werben und nicht zuletzt großzügige finanzielle Unterstützung, die im Kauf eines Palais kulminierte, schaffte er es, 1828 den Verleger und Publizisten Carl Joseph Meyer (1796–1856) dazu zu bewegen, mitsamt seinem Unternehmen nach Hildburghausen überzusiedeln. Dort angekommen, florierte dessen Verlag „Bibliographisches Institut“, der den klassenübergreifenden Zugang zu Literatur und Wissen ermöglichen wollte, dank preiswerter Klassikerausgaben sowie durch das populäre „Meyers Konversationslexikon“. Auf die Niederlassung in Hildburghausen, der damals wohlgemerkt sechstgrößten Druckerei Deutschlands, folgten Paris, Amsterdam, Philadelphia und New York.
Die Familiengeschichte können wir heute auch deshalb so genau nachvollziehen, da sich in der Sammlung des Museums eine 1925 sorgfältig von einem Nachfahren angelegte Familienchronik befindet. Auch sie ist ein Zeitzeugnis: Die Sprache des Chronisten quillt fast über vor Stolz auf das „Blut [aus dem] wir alle hervorgegangen sind“. Als Motiv für seine archivarischen Mühen gibt er „die Hebung des Stammes“ an. Eindrücklich illustriert das Dokument die Gesinnungen seiner Entstehungszeit und stellt unter Beweis, wie lange Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit salonfähig waren. So verzeichnet die Chronik auch den „mehrfach überliefert(en)“ Ausspruch des Stammesersten Johann Heinrich „Zigeuner u. Juden sind schlimm; gefährlicher die Franzosen“, um ihn im nächsten Satz für „seine Tüchtigkeit, seinen unermüdlichen Fleiß und seine beharrliche Sparsamkeit“ zu loben, der man den „geschäftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg unsres Geschlechts“ zu verdanken habe.
Besucht man Hildburghausen, fällt einem bereits auf dem Weg vom Bahnhof zum Marktplatz, hinter dem das Stadtmuseum liegt, der Glanz der alten Zeiten ins Auge. Jugendstilvillen, von Industriellen Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, säumen die Straße und scheinen mit ihren pittoresken Türmchen und schmuckvollen Fassaden um die Wette zu eifern. Dem kleinen Städtchen, das sich von der Residenzstadt hin zu einer der wichtigsten Druck- und Verlagsstädte Deutschlands entwickelte und so als „Werra-Athen“ Bürgertum und Kultur anzog, sind diese Epochen ebenso ins Stadtbild eingeschrieben wie die anschließende DDR-Zeit, in der Hildburghausen als Grenzregion besonders von der deutschen Teilung betroffen war. Einige Ortsteile fielen ins Sperrgebiet der innerdeutschen Grenze und durften ab 1952 nicht mehr betreten werden.
Angekommen im hübschen Innenhof des Stadtmuseums, seinem kühlen Gewölbekeller und den Räumen, deren Wände teils noch von einer aus dem 19. Jahrhundert stammenden Wandbemalung geschmückt werden, scheint die Zeit stillzustehen. Entlang der Räume der Dauerausstellung wandelt man durch die Jahrhunderte, in fast jedem fällt der Name Scheller. Und so ist nahezu allen der mit Hilfe des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder frisch restaurierten Gemälde bereits ein Präsentationsort zugewiesen. Johann Heinrich soll im „Residenzraum“ unweit seiner adeligen Kundschaft und eines von ihm ausgestellten Friseur-Gesellenbriefes, der ebenfalls im Besitz des Museums ist, seinen Platz finden. Für Johann Wilhelm ist eine Ecke im Carl Joseph Meyer gewidmeten Zimmer, den er so tatkräftig unterstützte, reserviert. Und das Kinderporträt wird neben dem schon erwähnten Skizzenbuch seines Malers Carl August Hohnbaum, von dem weitere Gemälde Teil der Ausstellung sind, präsentiert werden. Für die beiden Gattinnen wird noch ein angemessener Ort gesucht.
Kurz hinter dem Museum liegt das „Berthotshaus“, die ehemalige Scheller-Villa. „Eine von ursprünglich zweien“, erklärt Michael Römhild, „aber die einzige, die noch erhalten ist.“
Eine Stadt ist ein Konglomerat von Zeitlichkeiten und Zeitzeugen, die sich in ihre Architektur einschreiben – aber auch in Kunst, Schrift, Sprache und ephemere Objekte. Das Stadtmuseum Hildburghausen beweist das ganz eindeutig und zeigt, wie wichtig es ist, Orte wie diesen zu wahren. Weltgeschichte liegt in lokalem Wissen und Erzählungen, wenn nicht sogar im Keller um die Ecke verborgen.
Anna Marckwald ist Kuratorin und Kunstpädagogin in Frankfurt am Main.