Die Konzentration des öffentlichen Raums auf den modernen National- und Verfassungsstaat im 19. und 20. Jahrhundert hat den Blick dafür getrübt, dass die europäische Kultur und Gesellschaft in Wirklichkeit seit Jahrtausenden von einer komplexen Interaktion unterschiedlich strukturierter hierarchischer und heterarchischer Kollektive geprägt ist. Allerdings hat die zunehmende Ausdifferenzierung der Gesellschaft dazu geführt, dass heute Unterscheidungen zwischen Akteursgruppen getroffen werden, die historisch relativ neu sind. Auch wurden und werden diese Gruppen nicht unvoreingenommen und gleichermaßen in den Blick genommen, weil Herrschaft stets eine besondere Anziehungskraft hat und dank ihres Privilegs der Steuererhebung über Ressourcen verfügt, die anderen Akteuren im öffentlichen Raum nicht auch nur annähernd zu Gebote stehen. Allerdings lässt sich an zahlreichen Beispielen zeigen, dass die Wirkmächtigkeit ressourcenarmer kollektiver oder sogar einzelner Akteure die machtvoller Herrscher deutlich übertreffen kann. Der Amerikaner Joseph Nye hat dafür den Begriff der soft power geprägt. Gerade Künstler haben dies immer wieder unter Beweis gestellt, wenn sie ihrer frühzeitigen Erahnung von gesellschaftlichen Entwicklungen wirksam künstlerischen Ausdruck verliehen haben. Nicht selten haben sie die Herrschenden herausgefordert.
Zur Verteilung von Aufgaben im öffentlichen Raum
Die besonders in Deutschland oft gehörte Meinung, Kultur sei eine staatliche Aufgabe, zu der nicht-staatliche Akteure ergänzend und unterstützend beitragen dürften, ist deshalb nicht nur normativ zu bezweifeln; sie lässt sich auch durch den empirischen Befund widerlegen. Beispielsweise tragen und betreiben zivilgesellschaftliche Körperschaften, in der Regel Vereine oder Stiftungen, rund 45% aller Museen in Deutschland (= rd. 3.000), die rund 35% der Museumsbesucher anlocken. Dies ist kein Einzelfall. Im öffentlichen Raum bewegen sich neben den staatlichen und wirtschaftlichen rund 800.000 kollektive Akteure, die der Zivilgesellschaft zuzurechnen sind. Sie sind aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht wegzudenken und werden doch oft unterschätzt. Die Spannweite reicht von Vereinen mit über 20 Millionen Mitgliedern und Stiftungen mit Milliardenvermögen oder fast 20.000 Beschäftigten bis zu kleinen und kleinsten Initiativen, die selbstbestimmte Aufgaben wahrnehmen. Altehrwürdige Vereinigungen von Honoratioren stehen neben Startups, die jeden Tag neu entstehen. Dies gilt auch im kulturellen Bereich. Das einst von Hilmar Hoffmann öffentlich verkündete „Kultur für alle“ ist längst, genau betrachtet, einem „Kultur von allen“ gewichen, auch wenn staatliche Kultureinrichtungen dominierend erscheinen. Am kulturellen Leben wirken zivilgesellschaftliche Akteure engagiert mit – wie an anderen Themen von öffentlichem Interesse. Dennoch dauert die Geringschätzung, Verdrängung und gelegentliche Bekämpfung von nicht unmittelbar beherrschbaren Orten des Diskurses, der Kreativität und Gestaltung an.
Zur Genese des Begriffs Zivilgesellschaft
Eine unmittelbar einleuchtende Bezeichnung für die Arena, in der sich die nicht-staatlichen und nicht wirtschaftlichen Akteure tummeln und die sich von der Gesamtheit aller Mitglieder einer Gesellschaft durchaus unterscheiden lässt, gibt es nicht. Im 21. Jahrhundert hat sich in Übertragung des englischen civil society der deutsche Begriff Zivilgesellschaft durchgesetzt, auch wenn er missverständlich ist und eine Begriffsgeschichte mit mehreren Bedeutungsveränderungen hinter sich hat. Geistesgeschichtlich lässt sich der Beginn dieser Geschichte bei Aristoteles verorten, der mit seinem Begriff der polis, den Leonardo Bruni im 15. Jahrhundert mit societas civilis übersetzte, noch keine Trennlinie zur staatlichen Struktur herausstellen, sondern den Abstand zu sonstigen Bewohnern, etwa Frauen und Sklaven, markieren wollte. Allerdings bildeten sich schon zu seiner Zeit, vor allem aber in den hellenistischen Städten herrschaftsunabhängige heterarchische und hierarchische Kollektive, das heißt Vereine und Stiftungen, heraus, die als wesentliche Beiträger zum Gemeinwohl und ganz besonders zum ornatus, das heißt zum kulturellen Rang dieser Städte wahrgenommen wurden. Dass damit stets auch eine religiöse Dimension verbunden war, steht dem nicht entgegen. Roms erster Kaiser, Augustus, appellierte an die civilitas, die Bürgerschaftlichkeit der Bürger Roms, die sich durchaus in unabhängigen Gemeinschaften manifestieren sollte. Sein Staatskanzler Gaius Cilnius Maecenas, der dem Mäzenatentum den Namen gab, folgte diesem Appell allerdings allein, als wohlhabender Bürger.
Im 17. und 18. Jahrhundert ist bei John Locke und Adam Ferguson von civil society als Kollektiv die Rede, noch nicht im gleichen Sinn wie heute, aber doch in Abgrenzung von der Sphäre der Herrschaft und als Gegenthese zu Hobbes’ Herrschaftsauffassung. Als diese im 19. Jahrhundert von Hegel weiterentwickelt wurde, fehlte jedoch die Gegenthese. Im allgemeinen Bewusstsein blieb der alles überwölbende Staat. Dies ist um so erstaunlicher, als in dieser Zeit unabhängige bürgerliche Vereinigungen, etwa Lesegesellschaften und Kulturvereine, später auch Arbeiterkulturvereine die Herausbildung der modernen Gesellschaft mitprägten.
Die Herausbildung der modernen Zivilgesellschaft
Die Krise des Nationalstaats und der Demokratie seit dem späten 20. Jahrhundert lässt alternative Konzepte wieder attraktiv erscheinen, so die deliberative Demokratie bei Jürgen Habermas, die Abhängigkeit des Staates von Voraussetzungen, die dieser selbst nicht schaffen kann bei Ernst-Wolfgang Böckenförde oder die Notwendigkeit des Konflikts zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft für die Resilienz einer offenen Gesellschaft bei Ralf Dahrendorf. Zahlreiche Autoren des 21. Jahrhunderts, beispielsweise Colin Crouch oder Parag Khanna, betonen die Unverzichtbarkeit eines bürgerschaftlichen Raums für die Gestaltung einer demokratischen Kultur. Die Ausdifferenzierung in drei Arenen plus dem Individuum in seiner unverwechselbaren Dignität als Mitte und Ausgangspunkt ist theoretisch als zentrales Prinzip einer liberalen Gesellschaft erkannt. Für diese bildet eine unabhängige Zivilgesellschaft eine unabdingbare Prämisse; in der Welt des 21. Jahrhunderts ist diese aber in jeder Gesellschaftsform nachweisbar. In manchen steht sie unter erheblichem Druck. Sie gehört weltweit zum öffentlichen Raum und macht sich in politischen Zusammenhängen von besonderer Bedeutung bemerkbar.
Zivilgesellschaft und ihre Akteure lassen sich mit Charakteristika belegen, die sie unbeschadet ihrer Heterogenität von den anderen Arenen unterscheidbar machen. Zu diesen gehören die Selbstermächtigung und Selbstorganisation ebenso wie der Verzicht auf die Teilhabe an politischer Herrschaft bei gleichzeitiger subjektiver Gemeinwohlorientierung. Praktische Bedeutung hat das Verbot, finanzielle Überschüsse aus der Tätigkeit an Mitglieder oder Eigentümer auszuschütten.
Von gesamtgesellschaftlich besonderem Rang ist das Prinzip der Freiwilligkeit, indem communities of choice, Gemeinschaften, denen man freiwillig beitritt und die man wieder verlassen kann, gegenüber communities of fate, Gemeinschaften, in die man hineingeboren wurde, exponentiell an Bedeutung gewinnen. Dies gilt um so mehr, als globale (oft erzwungene) Mobilität und infolgedessen auch Diversität und Inklusionsanstrengungen unser Leben zunehmend bestimmen und interkulturelle Prozesse für den sozialen Frieden einen wachsenden Stellenwert haben. Gerade hier kann die inter- und transnationale Zivilgesellschaft Lehrmeisterin der Staatengemeinschaft sein, auch wenn eine gegenläufige Zivilgesellschaft nicht zu übersehen ist. Eine sachgerechte Einschätzung dieser Arena als gesellschaftliche Kraft setzt allerdings voraus, dass ihr Vorhandensein nicht pauschal bestritten und eine analytische Definition zugrundegelegt wird. Diese, auch als Bereichskonzept bezeichnet, ist international anschluss- und mehrheitsfähig und setzt sich von dem gelegentlich in Deutschland noch favorisierten Handlungskonzept ab, das der Zivilgesellschaft eine starke normative Komponente im Sinne eines zivilen Miteinanders unterlegt, aber kaum lösbare methodische Schwierigkeiten birgt.
Zur Eingrenzung
Hilfe in der Not ist eine zwar wichtige, aber keineswegs die alleinige Aufgabe der Zivilgesellschaft im öffentlichen Raum. Andererseits sind auch Protestbewegungen nur ein Ausschnitt aus einem breit gefächerten Tätigkeitsspektrum. Bewegungen, Organisationen und Institutionen sowie die immer wichtiger werdende informelle oder spontane Zivilgesellschaft, die allen Unkenrufen zum Trotz immer zur Stelle ist, wenn Not am Mann ist, haben stets auch eine politische Dimension und bilden insoweit auch keine netten addenda, sondern essentiales einer modernen Gesellschaft.
Die organisierte Zivilgesellschaft lässt sich unter anderem anhand der Funktion ihrer Akteure einteilen, wobei zahlreiche Organisationen in mehreren Funktionen unterwegs sind. Anhand von Beispielen lässt sich zeigen, dass auch kulturelle Ziele in fast jeder Funktion von einer zivilgesellschaftlichen Organisation verfolgt werden können:
— Dienstleistungen: z. B. der Betrieb eines Museums,
— Themenanwaltschaft (engl. advocacy): z. B. das Eintreten für verfolgte Künstler,
— Wächter: z. B. der Schutz eines bedrohten Kulturdenkmals,
— Mittler: z. B. die Förderung des Erwerbs von Kunstwerken,
— Selbsthilfe: z. B. Künstlervereinigungen,
— Gemeinschaftsbildung: z. B. Laienmusik,
— politische Mitgestaltung: z. B. der Deutsche Kulturrat,
— persönliche Erfüllung: eine in der gesamten Zivilgesellschaft ausgeprägte Querschnittsfunktion.
Die auf den ersten Blick markanteste Unterscheidung, nach den Zielen der Organisationen, ist nicht unwichtig, aber auch keinesfalls allein ausschlaggebend. Wohlfahrtspflege, Forschung, Bildung und Erziehung, Kultur, Natur- und Umweltschutz, Sport und andere konkret benennbare Ziele stehen dabei neben übergeordneten wie Menschen- und Bürgerrechten. Gemischte Ziele sind für die Zivilgesellschaft durchaus typisch. Schon der älteste deutsche Kunstverein, der Industrie- und Kulturverein Nürnberg, gründete sich 1819 mit dem erklärten Ziel, die Kultur, die Wissenschaft und das gesellige Leben zu fördern. Die Pandemie hat gezeigt, welch entscheidende Bedeutung „das gesellige Leben“ für eine Gesellschaft hat und wie unverantwortlich es ist, wenn Politik und Staatsverwaltung dies nicht verstehen wollen. Dass sie alle, wenn die übrigen Bedingungen vorliegen, zu gemeinsamer Zugehörigkeit zur Zivilgesellschaft führen, ist für viele, vor allem ältere Organisationen nach wie vor gewöhnungsbedürftig, wird aber heute überwiegend zugestanden. Allen Zielen, auch den kulturellen, ist gemeinsam, dass sie von zivilgesellschaftlichen, wirtschaftlichen und staatlichen Akteuren verfolgt werden – kooperativ oder im (gesunden) Wettbewerb.
Zum bürgerschaftlichen Engagement
Einen besonderen Zusammenhang zwischen den Arenen, der durch den einzelnen Bürger und die einzelne Bürgerin hergestellt wird, markieren kollektive Anstrengungen im öffentlichen Raum. Folgerichtig wird heute gern vom bürgerschaftlichen Engagement gesprochen; der Ausdruck verdrängt allmählich ältere Bezeichnungen wie Ehrenamt. Der Ausdruck wurde erstmals im Zusammenhang mit der Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements geprägt, die der Deutsche Bundestag 1999 einsetzte und die 2002 ihren Bericht vorlegte. Er stellte den ersten Versuch dar, umfassend darzustellen, wo, warum und wofür sich Bürgerinnen und Bürger engagieren und vor allem, welche Schlüsse politisch daraus zu stellen seien. Während dies im wesentlichen gelungen ist, waren die politischen Reaktionen mehr als verhalten. Konkrete Vorschläge wurden nur zu einem geringen Teil umgesetzt, Maßnahmen hatten allzuoft eher den Charakter von Trostpflastern als von gezielten Bestrebungen zur Verwirklichung einer partizipativen Demokratie. Anerkennung blieb im konventionellen Rahmen stecken. Dennoch hat das Engagement in den letzten Jahren stark zugenommen. Dass alte Vereine keine Schriftführer mehr finden, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich junge Menschen in immer größerer Zahl für Aufgaben des Gemeinwohls interessieren und kollektiv engagieren.
Dieses Engagement ist ein Geschenk an die Gesellschaft. Es zeichnet die Zivilgesellschaft aus, denn 80% des Engagements finden hier statt. Messbar sind Geschenke in Form materieller Ressourcen (auch von Kunstwerken), allenfalls auch Geschenke von Zeit. Hinzu treten aber grundlegende, aber nicht messbare Geschenke von Empathie, Know-how, Kreativität und Reputation. Sie machen die Zivilgesellschaft mit all ihren Akteuren zu dem, was sie ist: dem lebendigen Ort des gemeinsamen Denkens und Tuns und unverzichtbaren Sparringspartner von Wirtschaft und Staat – gerade dann, wenn sie aufsässig, widerborstig oder unbequem daherkommt. Überwiegend ist sie dies allerdings nicht, sondern bietet – gerade in der Kultur – sachkundige, engagierte, kluge, erfahrene, aber auch sehr kooperationsbereite Partner, die es vielfach noch zu entdecken gilt.
Ausblick
Die nicht ohne Grund so benannte Zeitenwende, in der wir uns befinden, enthält mehrere Komponenten von hoher Bedeutung für die Thematik der Zivilgesellschaft. Wir erleben mit großer Bewunderung in der Ukraine, in Belarus, Kasachstan und Russland wieder einmal, dass eine Zivilgesellschaft sichtbar für die Prinzipien kämpft, die wir als zugleich wichtig und bedroht erachten: Freiheit, Menschen- und Bürgerrechte. Wir erleben auch, dass diese Bewunderung noch nicht dazu geführt hat, dass auch in Deutschland der Wert einer aktiven Zivilgesellschaft für den Kampf um eine resiliente offene Gesellschaft erkannt wäre. Wir erleben schließlich, dass neben den anderen Herausforderungen, denen sich unsere Welt gegenübersieht, eben dieser Kampf gegen die Gegner einer offenen Gesellschaft zu den drängendsten gehört. Ohne Zivilgesellschaft ist dieser Kampf nicht zu gewinnen.