Wissen aus der Bewegung

Weltweit sind Alexander von Humboldts Amerikanische Reisetagebücher ein Faszinosum. Nicht nur, weil sie das wissenschaftsgeschichtlich bedeutsamste Manuskript des ausgehenden 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darstellen. Nicht nur, weil sie im nationalen wie im internationalen Maßstab ebenso die Sicht auf die Neue Welt wie unser Verständnis der Erde im Lichte eines zukunftsoffenen Weltbewusstseins vorformulieren. Nicht nur, weil uns hier jene „glückliche Revolution“ vor Augen tritt, die Humboldt in den Wissenschaften um 1800 herauf­ziehen sah – und zugleich jene Unabhängigkeitsrevolution der künftigen Länder Lateinamerikas, für die das Humboldt’sche Denken und Schreiben nach eigenem Bekunden die Geburtsurkunde war. Denn die Amerikanischen Reisetagebücher setzen an die Stelle eines monadischen, in sich abgeschlossenen Verstehens ein nomadisches Denken, das sein Wissen aus der Bewegung schöpft. Aus einer Bewegung in Raum und Zeit, durch verschiedenartigste Kulturen, durch unterschiedlichste Gesellschaften, durch die Sprachen der Wissenschaften wie durch die Sprachwelten der Völker Europas und Amerikas. Die Amerikanischen Reisetagebücher sind das Mobile eines sich (und uns) ständig bewegenden und verändernden Wissens – und sie sind als handschriftliche Originale in ihrer Originalität ein Stück großer Kunst.

Alexander von Humboldt, Skizze des Orinoco-Gebiets (Tagebuch VIIbb/c, Bl. 149r); Staatsbibliothek zu Berlin
Alexander von Humboldt, Skizze des Orinoco-Gebiets (Tagebuch VIIbb/c, Bl. 149r); Staatsbibliothek zu Berlin

Alexander von Humboldt hat an ihnen im Verlauf jener epochemachenden Reise, die ihn gemeinsam mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland von 1799 bis 1804 durch die amerikanischen Tropen führte, geradezu besessen geschrieben: tagsüber „im Angesicht der Dinge“ und nachts in Zusammenfassungen des auf der Reise Gesehenen und des Gedachten. Sie sind Bewegungsbilder von motions wie von emotions: zu Papier gebracht in jener winzigen, nach rechts oben ansteigenden Handschrift, die für Humboldts Schreiben so charakteristisch ist (und sie so schwer entzifferbar macht).

Der Aura dieses weitgereisten und erst gegen Ende seines Lebens in Schweinsleder gebundenen Manuskripts, dessen Transkription viereinhalbtausend Seiten umfasst, vermag sich niemand zu entziehen. Wie die berühmten Graphismen von Cy Twombly zeigt uns die Kunst der Humboldt’schen Tagebücher, dass die Handschrift nicht allein auf die Übermittlung von Botschaften und das Verzeichnen von Verstehensprozessen zielt. Humboldts Graphismen zeichnen die Bewegungen seiner Reise buchstäblich nach, dokumentieren das leibhaftige Erleben der Bewegung: vom Schreiben und Zeichnen am Wegesrand über kurze Notizen an Bord einer schaukelnden Piroge bis hin zum verzweifelten Anschreiben gegen Schwärme von Mosquitos, in denen der Dante-Leser das Inferno erblickte.

Zugleich aber wusste sich Humboldt im Paradies: in einem Eldorado nicht nur der Wissenschaften, sondern eines Wissenschaftsprojekts, das sich in den amerikanischen Tropen – „Die Tropenwelt ist mein Element“ – Seite um Seite in ein Lebensprojekt zu verwandeln begann. Wie Voltaire wusste Humboldt, dass man „ohne ein wenig Enthusiasmus“ nichts Großes zu schaffen vermag – weder in den Wissenschaften noch in der Literatur oder den Künsten. Wie im Zeitraffer ziehen vor den Zuschauern dieses Schauspiels, vor den Betrachtern dieser Bände, die Schrift-Bilder eines Denkens, der Entfaltung einer Weltsicht im Zeichen des Projekts einer anderen, unvollendet gebliebenen Moderne vorüber: einer Moderne, der es um die Abschaffung der Sklaverei, die Überwindung des Kolonialismus und globale Gerechtigkeit ging. Dabei enthalten die Amerikanischen Reisetagebücher keineswegs nur die Notizen und Notate der amerikanischen Forschungsexpedition. Auf diesen dicht beschriebenen Seiten finden sich auch Berichte von früheren oder späteren Reisen: nach England, Frankreich, Spanien oder Italien. Nach der Reise war für Humboldt bis ins hohe Alter stets vor der Reise. Unzählige Anmerkungen, Notizen, Kollektaneen und eingeklebte Zettel zeugen davon, dass Humboldt ein Leben lang nicht nur mit, sondern auch an seinen Reisetagebüchern arbeitete und weiterschrieb. Der Handschrift des jungen, kaum dreißigjährigen Humboldt gesellen sich so die Handschriften des Vierzig-, Fünfzig-, Sechzig-, Siebzig- und Achtzigjährigen bei. So entstand, gleichsam unter der Hand, das Reisetagebuch eines herausragenden Menschen, das Bordbuch jenes „vielbewegten Lebens“, von dem Humboldt in der Eröffnung seines „Kosmos“ sprach.

Wenn er bereits in seinen bis heute populär gebliebenen „Ansichten der Natur“ programmatisch die „Verbindung eines litterarischen mit einem rein scientifischen Zweck“ ankündigte, so dürfen wir in seinen Amerikanischen Reisetagebüchern die gelungene Verknüpfung zwischen den Wissenschaften und den Künsten erkennen. Hier entsteht, was in der Wissenschaftsgeschichte als die „Humboldt’sche Wissenschaft“ (Humboldtian Science) bezeichnet wird: eine sich vernetzende, transdisziplinäre, interkulturelle, transmediale und demokratisierende Lebenswissenschaft, die sich anders als die heutigen Biowissenschaften (Life Sciences) der Tatsache bewusst ist, dass das griechische Wort bios gerade auch die kulturellen Dimensionen des Lebensbegriffes miteinschließt. Humboldt war Naturwissenschaftler und Kulturwissenschaftler in einer Person.

Die Amerikanischen Reisetagebücher demonstrieren, wie in Humboldts Handschrift die moderne Pflanzengeographie als Disziplin ebenso entsteht wie die Altamerikanistik mit ihrem Wissen von den Kulturen der Völker Amerikas. Hier bildet sich jene doppelte, „Natur“ und „Kultur“ aufeinander beziehende Stoßrichtung heraus, die in späteren Buchprojekten wie den „Ansichten der Kordilleren und Monumente der eingeborenen Völker Amerikas“ zum Tragen kommt. Alexander von Humboldt war kein Universalgelehrter, war – so viel ihn auch in seiner Genialität und Neugier mit Leonardo da Vinci verbinden mochte – kein Vertreter eines wissenschaftlichen Auslaufmodells, sondern der Pionier eines neuen, transdisziplinären Verständnisses einer Wissenschaft, die Ethik und Ästhetik zu integrieren suchte.

Neben die Entstehung einer Humboldtian Science tritt in den Amerikanischen Reisetagebüchern folglich die Entfaltung eines Humboldtian Writing: jenes Schreibens im Angesicht der Dinge, in dem er sich (wie im Gemälde von Friedrich Georg Weitsch auf dem Cover dieser Ausgabe) an seinem „Schreibtisch“ am Orinoco oder (wie im Gemälde von Julius Schrader) an seinem „Schreibtisch“ am Chimborazo selbst wieder(er)fand. Wo könnte dieses Schreiben aus der Bewegung, das sich in einen klaren Gegensatz zu den nie verlassenen europäischen Arbeitszimmern eines Kant, eines Buffon, eines Cornelius de Pauw setzt, anschaulicher demonstriert werden als in den Amerikanischen Reisetagebüchern? Die Handschriften Humboldts zeichnen anschaulich und detailreich die unterschiedlichsten Landschaften, verzeichnen die Messdaten von Luft- und Wassertemperatur, von Klima und Schneegrenze, von geologischen und vulkanologischen Phänomenen; und sie porträtieren mit ebenso sparsam wie präzise ausgeführten Pinselstrichen die unterschiedlichsten Gesprächspartner: Gouverneure, Kaziken, Minenarbeiter, indigene Bergführer, Latifundisten, einfache Bauern – sie alle erscheinen in oft meisterhaften Vignetten, festgehalten in ihren Bewegungen mit raschen Strichen.

Und überhaupt: Alles ist in den Humboldt’schen Reisetagebüchern in Bewegung – die aus Asien eingewanderten indigenen Kulturen, die aus Europa über Amerika hereingebrochenen iberischen Eroberer, die aus Afrika verschleppten Sklavinnen und Sklaven, die Kapitäne und Matrosen, die im Atlantik wie im Pazifik unterwegs sind, die europäischen Tiere, die in den Wäldern Amerikas heimisch wurden, die amerikanischen Nutzpflanzen, die längst in Europa angebaut werden, ja selbst die Kontinente, wird sich Humboldt doch auf seiner Reise zunehmend der Bezüge bewusst, die im Sinne der späteren „Kontinentaldrift“ Alfred Wegeners das amerikanische mit dem afrikanischen Festland verbinden. Mit diesen Migrationen von Menschen, Tieren, Pflanzen, Kontinenten und Archipelen gehen die Wege des Wissens einher, jene Zirkulationen von Kenntnissen, Migrationen von Sprachen, Transfers von Traditionen, die Humboldt als der wohl erste Globalisierungstheoretiker erkennt. Die Amerikanischen Reisetagebücher geben den Blick frei auf das neue Weltbewusstsein einer längst schon vernetzten und sich weiter vernetzenden Welt, die nur in Bewegung und aus der Bewegung heraus adäquat verstanden werden kann.

So greifen denn in den Reisetagebüchern die Humboldt’schen Handschriften aus unterschiedlichen Jahrzehnten, mit immer anderen Tinten, Schreib- und Zeichenutensilien festgehalten, spektakulär ineinander: unterschiedliche Vektorisierungen des Schreibens, Zusätze schräg hineingestellt in den Reiseverlauf, Kommentare und kritische Anmerkungen quer zur Leserichtung, immer wieder den Fortgang der Lektüre brechend, Kontinuitäten unterbrechend, Gewissheiten unterlaufend. Ein Schriftbild, das ein Wissen in Bewegung demonstriert: ausgeführt von einem, der sich seines Glückes bewusst war (und darüber Bewegendes schrieb), nicht dem tödlichen Fieber an Bord der Fregatte „Pizarro“ schon vor der Ankunft im heutigen Venezuela erlegen, nicht beim Kentern seiner Piroge im Orinoco ertrunken, nicht von einem Schneebrett in den Krater eines Vulkans im heutigen Ecuador gerissen, nicht von einem Raubtier verschlungen oder von Wegelagerern getötet worden zu sein. Von einem, dem das Leben Jahrzehnte schenkte, um aus den Amerikanischen Reisetagebüchern sein großes dreißigbändiges Amerikanisches Reisewerk zu entwickeln und den Entwurf einer keineswegs nur physischen Weltbeschreibung zu entfalten, der die Humboldt’sche Reise um die Dimensionen des Kosmos erweiterte. Positionsbestimmung auf der Erde und Ausrichtung an den Sternen: Die astronomischen Beobachtungen und Messungen gehen in den Reisetagebüchern einher mit Philosophemen, die nach dem Zusammenhang aller Dinge fragen. Niemals aber hört die Bewegung auf, denn: „Alles ist Wechselwirkung.“ Das Mobile des Wissens.

Das Schriftbild der Handschrift wirkt niemals statisch. Und dies nicht allein, weil sich hier die Handschriften aus mehreren Jahrzehnten ein Stelldichein geben (was für Humboldt immer eine Selbstvergewisserung bezüglich seines Denkens, aber auch seines eigenen Lebensweges war). Vielmehr öffnet sich das Schrift-Bild der Hand-Schrift an ungezählten Stellen zur Bild-Schrift der Zeichnung, der Skizze, des Plans, ja des Graphismus. Die zeichnerische Ausbildung des Forschers und Schriftstellers zeigt sich ebenso in den Darstellungen von Fischen oder von Affen, von Berggipfeln oder von Kratern, von Palmen oder von Kräutern, von Straßen, Häusern und Türen. Und dazwischen überall Entwürfe künftiger Karten: Kartographien des Gesehenen, aber auch Kartographien der Vergangenheit (etwa der historischen Suche nach dem Eldorado) wie der Zukunft (beispielsweise des Durchstichs eines interozeanischen Kanals in Mittelamerika). Dabei entstehen nicht selten Ikonotexte: Denn die Zeichnungen „illustrieren“ den Text ebensowenig wie die Texte die Zeichnungen „erläutern“. Aus dem schriftbildlichen Zusammenspiel generiert sich etwas Neues. Humboldt verbindet bereits in seinen Amerikanischen Reisetagebüchern das Gesehene mit dem Sichtbaren und das Sichtbare mit dem Unsichtbaren. Texte und Zeichnungen, Schrift-Bilder und Bilder-Schriften machen auf unterschiedlichste Weise sichtbar, um verstehbar zu machen: Sie visualisieren und visibilisieren, was die Wechselwirkungen zwischen den Medien erlauben. Eine Schreib-Art entsteht unter unseren Augen, die Kunst ist: eine Kunst, die sich für alles öffnet und noch im Detail, noch im pars pro toto, die Kunst als ars pro toto schriftbildlich entfaltet. In den Amerikanischen Reisetagebüchern entwickelte Humboldt eine Theorie der Landschaft, die sich in ihren ständigen Veränderungen nur als Bewegungsbild erfassen lässt. Er skizzierte, wie etwas einst ausgesehen haben mag, wie etwas dereinst aussehen könnte. Aber er fand in den amerikanischen Tropen auch seine Landschaften der Theorie: Landschaften folglich, die sein Denken, seine Vorstellungen von der Welt sichtbar machten. Da ist zum einen das Bild jenes Chimborazo, mit dem sich Humboldt auch ikonographisch stets sehr bewusst in Verbindung brachte: gewiss, weil er hier bergsteigerisch einen Höhenweltrekord aufgestellt hatte, aber auch und vor allem, weil er den Gipfel dieses Bergriesen, der damals als der höchste Berg der Welt galt, nicht zu erreichen vermochte. Humboldt ging es nicht um das Ankommen, sondern um das Auf-dem-Weg-Sein. Denn nur aus der Bewegung, so wusste er noch am Ende seines vielbewegten Lebens, kann neues Wissen entstehen.

Friedrich Georg Weitsch, Alexander von Humboldt, 1806, 126 × 92,5 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin
Friedrich Georg Weitsch, Alexander von Humboldt, 1806, 126 × 92,5 cm, Alte Nationalgalerie, Berlin

Die andere große Landschaft der Theorie, mit der sich Humboldt verband, war die Flusslandschaft von Orinoco und Amazonas: miteinander verzweigt über jene Flussgabelung des Casiquiare, die er sorgsam beschrieb und deren Kartographie er mit größtmöglicher Akribie vorantrieb. Die sich miteinander vernetzenden Flüsse und Ströme visualisieren ein Denken, in dem sich die unterschiedlichsten Ursprünge und Wege, Herkünfte und Zukünfte, Aktivitäten und Disziplinen, Künste und Wissenschaften miteinander unauflöslich verbinden: eine Welt im ständigen Fluss, in der jeder Teil für alles stehen und einstehen kann. Eine Welt, die unter der Feder des Schreibenden im Angesicht der Dinge entsteht: eine Welt, in der sich im Fluss der Tinte kunstvoll jene Vernetzungen entfalten, die ein Leben als Wissenschaftler, Schriftsteller und Künstler bewegen. In den blendend erhaltenen Manuskripten wird all dies zum ästhetischen Erlebnis – und für uns alle lebendig.