„Wir leisten Pionierarbeit“

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Kaum ein Bereich der Kultur hat im Zweiten Weltkrieg so gelitten wie der der Bibliotheken und Archive. Die russische Seite spricht von 200 Millionen auf dem Territorium der Sowjetunion vernichteten oder verloren gegangenen Bestandseinheiten, wobei in Russland jedes aufbewahrte Dokument, etwa eine Zeitung, als Bestandseinheit galt – nicht etwa gebundene Kompendien, wie es in Westeuropa üblich war. Über 10 Millionen Kriegsverluste sind auf der deutschen Seite zu verzeichnen, darunter 750.000 Bücher allein aus der Staats­bibliothek zu Berlin. Als „kriegsbedingt verbrachte Kulturgüter“ wurden einzelne Bände, aber auch ganze Büchersammlungen und Archive, Handschriften, Inkunabeln und frühe Buchdrucke auf zahlreiche russische Bibliotheken in Moskau, Petersburg, Rostow, Novosibirsk, Woronesch, Tomsk und andere Städte verteilt. Jahrzehntelang blieb der Verbleib der „Trophäen-Fonds“ und deren genaue Zusammensetzung russischen wie deutschen Fachleuten ein Geheimnis. Seit 10 Jahren versucht der „Deutsch-Russische Bibliotheksdialog“ Licht ins Dunkel zu bringen.

Für Arsprototo sprach die Kultur­journalistin Anastassia Boutsko mit den beiden Vorsitzenden der Initiative: Barbara Schneider-Kempf ist General­direktorin der Staatsbibliothek zu Berlin und Vadim Duda ist Generaldirektor der Russischen Staatbibliothek Moskau.

Frau Schneider-Kempf, Herr Duda, vor zehn Jahren ist der Deutsch-Rus­sische Bibliotheksdialog gegründet worden – eine Plattform zum Austausch der Kolleginnen und Kollegen aus den beiden Ländern. Wie waren die damals gesetzten Ziele und wie ist die bisherige Erfahrung?

Duda: Man muss sich vor Augen führen, wer den Deutsch-Russischen Bibliotheksdialog initiiert hat. Von russischer Seite wurde der Dialog von der M.I. Rudomino-Bibliothek für ausländische Literatur unter der Leitung von Ekaterina Genijewa ins Leben gerufen. Die „Inostranka“ (M.I. Rudomino-Bibliothek für ausländische Literatur) hatte schon immer eine besondere historische Mission. Die Bibliothek war schon immer Plattform für den Dialog, Anlaufstelle und Vermittler zwischen Ost und West im weitesten Sinne des Worts. Das Ziel dieser Gründung lag auf der Hand – man wollte Lösungen für komplexe, oft heikle Probleme finden, die nicht durch diplomatische Noten oder Verhandlungen auf hoher, staatlicher Ebene gelöst werden können. Es ist erforderlich, jene Parteien mit einzubeziehen, die an bestimmten Angelegenheiten und Projekten beteiligt sind. Und das waren die Bibliotheken, denn uns verbindet eine Vielzahl gemeinsamer Angelegenheiten. Die Hauptaufgabe des Dialogs ist daher, als Plattform für die Lösung sehr komplexer Probleme im Hinblick auf die Wiedervereinigung historischer Sammlungen zu dienen.

Schneider-Kempf: Die Ziele des Bibliotheksdialogs waren von Anfang an, die verlagerten Bestände sichtbar zu machen, zu suchen, wo etwas ist, vielleicht auch Hinweisen nachzugehen, um sich dem zu nähern. Es war nie auch nur eine Minute das Thema Rückgabe als Ziel formuliert.

Zehn Jahre sind schon eine solide Zeit. Was konnte konkret erreicht werden?

Schneider-Kempf: Es gab Höhen und Tiefen. Was auf jeden Fall erreicht wurde und was, würde ich sagen, über allem steht, ist der persönliche Kontakt. Das hört sich jetzt vielleicht etwas simpel an. Aber es ist von enormer Bedeutung, dass die Kollegen hier in Deutschland und in Russland sich überhaupt kennengelernt haben, sich mehrfach an unterschiedlichen Orten getroffen haben – ich meine jetzt nicht nur unsere regulären Treffen, die alle zwei Jahre stattfinden, sondern auch andere vertiefte Kontakte. Es ist eine Vertrauensbasis entstanden. Das ist schon mal ein gutes Ergebnis.

Duda: Im Laufe der zehn Jahre dieses Dialogs erhielt Deutschland Kenntnis von Exponaten, die zuvor als vermisst galten. Auf der anderen Seite gingen seltene Ausgaben in die Bucharchivbestände Russlands zurück: Dank der gemeinsamen Bemühungen der Beteiligten des Deutsch-Russischen Bibliotheksdialogs wurde 2017 das aus dem Alexanderpalast gestohlene Buch „Le cardinal Dubois et la régence de Philippe d’Orléans: les cardinaux-ministres“ [1861, Anm. d. Redaktion] von Jean-Baptiste Capefigue an das Museums­reservat „Zarskoje Selo“ zurückgegeben. Ein Jahr später gingen dank seiner erfolgreichen Aktivitäten sieben wertvolle Bücher aus dem 18./19. Jahrhundert an das Staatliche Museumsreservat von Nowgorod zurück. Durch den Museumsdialog gingen ferner 135 Bände aus der Sammlung von der Schulenburg mit russischen Stempeln nach Pawlowsk, neun Bände nach Smolensk, ein Band nach Kaliningrad mit Stempel der Stadtbibliothek Königsberg. Das rechnen wir den deutschen Kolleginnen und Kollegen sehr hoch an, diese Rückgaben haben einen hohen emotionalen Wert.

Verglichen mit den Millionenzahlen der Verluste ist das ja wie ein Sandkorn am Meeresstrand. Wo sehen Sie noch Nachholbedarf, wo könnte es schneller, effizienter gehen?

Duda: Wissen Sie, diese Fragen lassen sich nie endgültig lösen, aber wir werden uns auch weiterhin bemühen, historische Sammlungen nach bestem Wissen und Gewissen wiederherzustellen. Unsere Kollegen vom Deutsch-Russischen Bibliotheksdialog in Deutschland sind ideale Partner, sie tun viel, um das eine oder andere verlorene Buch und andere Gegenstände ausfindig zu machen, und jedes Jahr kommt etwas in die historischen Sammlungen zurück. In diesem Sinne glaube ich, dass unsere Partner äußerst gewissenhaft alles ihnen Mög­liche und sogar mehr tun.

Die Rückgabe war zwar nie Ziel und auch nie Thema beim Bibliotheksdialog. Nichtsdestotrotz gibt es in Russland eine Reihe von Archivalien und Sammlungen, die für Deutschland besonders große nationale oder regionale Bedeutung haben – wie etwa die Hanse-Sammlung aus Lübeck, die vor allem die Geschichte des Ostseeraums spiegelt, oder die 5.000 Drucke aus den Zeiten von Martin Luther – eine Geschichte der deutschen Reformation in Buchform. Gibt es bestimmte Fälle, wo sie sagen würden: Diese Bestände gehören nach Deutschland?

Schneider-Kempf: Ich kann da nur die offizielle Position der Bundesrepublik Deutschland einnehmen, die lautet: Diese Bestände gehören der Bundesrepublik Deutschland. Ich verstehe aber auch, dass es ganz bestimmt zu keinen Rückgaben von russischer Seite kommen wird, allein schon, weil das Duma-Gesetz über die kriegsverbrachten Kulturgüter dies verbietet, und so müssen wir nach anderen Wegen suchen. Unser Austausch ist ein fachlicher, kein politischer. Wir erreichen auf anderen Wegen inzwischen Kenntnis über Bestände und Möglichkeiten der virtuellen Zusammenführung der Sammlungen, die uns ja die Möglichkeiten der Digitalisierung eröffnen.

Glauben Sie, dass Digitalisierung eine Lösung in langfristiger Sicht sein kann?

Duda: Das ist wirklich enorm wichtig! Derzeit ist der Dialog nicht nur eine Plattform für die Erörterung schwieriger Fragen im Zusammenhang mit geraubten Kulturgütern, sondern auch eine Plattform für eine virtuelle Rekonstruktion von Sammlungen.

Schneider-Kempf: Auch ich sage „ja!“ – zumal es aus meiner Sicht keine andere Lösung als die Digitalisierung geben wird. Bei der virtuellen Zusammenführung von Beständen haben Sie „nur“ die Betrachtung am Bildschirm. Aber Sie haben natürlich alle Informationen für die Wissenschaft und Forschung, die Sie brauchen. Und wenn ich als Forscher etwa mittelalterlicher Handschriften, die nach Moskau oder Sankt Petersburg verlagert worden sind, die Originale einsehen möchte – die Reisemöglichkeiten sind gegeben und die Bestände sind zugänglich. Bei sehr wertvollen Büchern oder Handschriften ist es ja die Aura des Originals.

Außerdem ist es eine Frage der Generationen: Meine Generation, aber auch Menschen, die in ihren Vierzigern-Fünfzigern sind, sind tatsächlich einfach noch damit groß geworden, dass sie Papier oder ein oder mehrere Bücher vor sich liegen haben

Was sind die größten Hindernisse in Ihrer Arbeit?

Schneider-Kempf: Dass alles so lange dauert! Bis der Antrag auf Drittmittel­förderung geschrieben ist, dann die Reaktion darauf kommt, und bis dann der Finanzierungsplan steht… Es sind Routinen, die nicht die Schnellsten sind. Aber  sie  sind  da,  und  sie  sind  auch verlässlich in der Kooperation mit den russischen Institutionen. Man muss allerdings dabei hoch anrechnen, dass wir alle da gewisse Pionierarbeit leisten. Vor anderthalb Jahren gab es eine Sitzung des Bibliothekdialogs in Kaliningrad, wo endlich konkrete Schritte für Projekte eingeleitet wurden. Das war ein kritischer Punkt: Wenn es diesen Durchbruch nicht gegeben hätte, weiß ich gar nicht, ob wir jetzt das zehnjährige Jubiläum feiern könnten.

Worin bestand dieser Durchbruch?

Schneider-Kempf: Bei diesem Treffen ist die Möglichkeit von virtuellen Sammlungsrekonstruktionen kriegsbedingt verlagerter Sammlungen von beiden Seiten, deutscher wie russischer, als Option und Ziel für gemeinsame Projekte akzeptiert worden. In Kaliningrad kündigte die Bibliothek des INION [Institut für wissenschaftliche Information in den Geisteswissenschaften der Russischen Akademie der Wissenschaften, Anm. d. Redaktion] eine Übergabe von mehr als 1.400 Digitalisaten von Büchern aus der Gothaer Bibliothek an, die 1955 bei der Restitution der Gothaer Bibliothek an die DDR in Moskau verblieben waren. Während des Treffens in Kaliningrad nahm die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden den Vorschlag der RSB Mokau auf, die Digitalisierung der in Moskau lagernden Musiksammlung der Prinzessin Amalie von Sachsen als gemeinsames Projekt zu entwickeln. Im November 2018 wurde dann während des Internationalen Kulturforums in Sankt Petersburg ein entsprechender Vertrag unterzeichnet.

Duda: Es geht auf jeden Fall voran, und wir hoffen auf weitere Schritte in der nächsten Zukunft.

Was geben Sie dem Bibliotheksdialog mit auf den Weg für die nächsten zehn Jahre?

Schneider-Kempf: Ich wünsche mir eine weitere Verstärkung der persönlichen und fachlichen Kontakte. Und ich wünsche uns allen mehr konkrete Projekte, die naturgemäß im virtuellen Raum realisiert werden.

Duda: Da stimme ich der Kollegin vollkommen zu!

Vielen Dank an Sie beide für das Gespräch!