Wie Museen vergessen – Sieben Weisen

Museen – obschon so oft als Institutionen der Erinnerung konzipiert – können auch ­Akteure des Vergessens sein. Dieser zunächst widersinnig erscheinenden These möchte ich in meinem Essay nachgehen.

In seiner Abhandlung „How Modernity Forgets“ gewährt der britische Sozialanthropologe Paul Connerton einen interessanten und aufschlussreichen Einblick darin, welches „besondere Problem mit dem Vergessen“ die moderne Welt seiner Meinung nach hat. In der Moderne, so Connerton, verändern sich durch einen Wandel von Räumlichkeit und Zeitlichkeit auch die Voraussetzungen für das Erinnern. Die Folge ist ein Paradox: Unsere Welt ist von einer beispiellosen kul­turellen Amnesie und zur selben Zeit von einem regelrechten Erinnerungsboom geprägt. Die fortschreitende Urbanisierung, ein Schlüsselelement der Moderne, hatte laut Connerton zur Konsequenz, dass wir die Verbindung zum sogenannten „locus“ – eine tiefergehende, gefühlte Verbindung zu dem Ort, an dem wir leben – verlieren. Das Resultat: Sich zu erinnern, ist kein so selbstverständlicher Teil des Alltags mehr wie zuvor. Um dem entgegenzuwirken, setzt die Gesellschaft in Sachen Erinnerung vermehrt auf „Denkmäler“, zu denen auch Museen gehören. Städte sind die Keimzellen der Beschleunigung – des „ungeduldigen Tempos“, das ein weiteres Charakteristikum der Moderne darstellt. Diese beschleunigte Zeitlichkeit, in der sich Trends rasend schnell verändern – was heute passiert, war gestern noch undenkbar –, setzt uns unter immer größeren Druck, uns zu erinnern, denn sie verstärkt das Gefühl, das Leben rase an uns vorbei und wichtige Momente oder Dinge könnten verpasst werden. Damit erscheint uns auch das Risiko groß, dass vieles in Vergessenheit gerät. Weiter verstärkt wird dieses Empfinden durch die rasanten Produktions- und Konsumzyklen, die ein nie dagewesenes Verhältnis zwischen Mensch und Objekt zur Folge haben: Währten Objekte in früheren Zeiten zumeist länger als Menschen, so hat sich die Beziehung in unserer modernen Welt ins Gegenteil verkehrt. Dieser „beschleunigte Metabolismus von Objekten“ wiederum „bedingt eine Schwächung des Gedächtnisses“. Wir können uns nicht mehr so einfach darauf verlassen, dass Gegenstände unsere Erinnerungen für uns tragen.

Connerton sieht im Vergessen der Moderne daher eine unvermeidliche Begleiterscheinung der wachsenden räumlichen und zeitlichen Mobilitäten. Zudem ist das Vergessen einigen Prozessen des modernen Kapi­talismus inhärent; hiermit ist nicht nur die schnelle Obsoleszenz von Gegenständen gemeint, auf der die kapitalistische Produktion beruht, sondern auch das Vergessen der im Hintergrund verborgenen Arbeitskraft, über das schon Marx schrieb. „Das Vergessen“, formuliert Connerton, ist „in den kapitalistischen Prozess eingebaut“, und die moderne Gesellschaft „erzeugt kulturelle Amnesie […] natürlicher- und notwendigerweise“.

Vieles spricht dafür – und in der Vergangenheit wurde bereits derart argumentiert – dass es sich bei Museen, die in unserer modernen Welt allgegenwärtig und wesentliche Bestandteile städtischer Regionen sind, um Institutionen handelt, welche sich dem neuen Ausmaß an Vergessen mit dem Versuch zu erinnern entgegenstellen. Die Furcht vor der kulturellen Amnesie ist es, die Museen zu florierenden Orten der kulturellen Erinnerung macht. Im Angesicht der Angst, die Ver­gangenheit durch die gewaltige Zugkraft der Moderne zu verlieren, werden die Sammlungsbemühungen von Museen essenziell, denn sie halten all das fest, was ansonsten zu verschwinden und in Vergessenheit zu geraten droht. In einer Welt, in der die wenigsten Objekte die Menschen noch überdauern, werden ­Museen außerdem zu Schutzräumen, in denen Gegenstände Bestand haben. Darüber hinaus bieten sie in Zeiten des Verlusts von „loci“ – hierzu zählen zum Beispiel Straßen als Plätze des gelebten Ortsgedächtnisses – eine denkmalartige Form der Erinnerung an, die dieses Defizit teilweise ausgleicht: ein Ortsgedächtnis, das bewusst als solches geschaffen wurde. Das Museum, insbesondere das städtische, erschafft gezielt Räume und Ortsgedächtnisse und rückt Orte und deren Vergangenheit somit ins Bewusstsein der Bürger.

Zahlreiche Wissenschaftler, unter anderem Connerton und auch ich selbst, argumentierten so. Ohne diese Argumente entkräften oder kleinreden zu wollen, werde ich im Folgenden die scheinbar – aber nicht tatsächlich – gegensätzliche These vorstellen, dass Museen in der Moderne eine wichtige Rolle für das Vergessen spielen. Dabei geht es mir nicht darum, die Sichtweise auf Museen als Denkmäler und Orte der Erinnerung als falsch zu bezeichnen – das ist sie nicht. Aber sie ist nur eine Seite der Medaille. Wie so viele andere Institutionen und Praktiken – und wie die moderne Welt selbst – sind auch Museen ambivalent und haben viele verschiedene Dimensionen. Neben ihrer Rolle als Orte der Erinnerung und dem impliziten Aufruf an die Bürger, sich zu erinnern, tragen sie auch zum Vergessen bei – und ermutigen die Bürger indirekt dazu. Daran ist jedoch nichts zwielichtig oder scheinheilig – zumindest für gewöhnlich nicht –, sondern diese Doppelrolle ist vielmehr unumgänglich, ja sogar notwendig.

In seinem Essay „Seven types of forgetting“ nimmt Connerton eine nützliche „Entwirrung der verschiedenen Arten von Handlungen, die sich unter dem Begriff ‚vergessen‘ bündeln“, vor. Das sind die Folgenden: „repressives Auslöschen; vorschriftsmäßiges Vergessen; Vergessen, das für die Bildung einer neuen Identität konstitutiv ist; strukturelle Amnesie; Vergessen als Nichtigkeitserklärung; Vergessen als geplante Obso­leszenz; [und] Vergessen als gedemütigtes Schweigen“. Es kann durchaus, so Connerton, noch weitere Arten geben. Mit Sicherheit sind Museen an den meisten dieser Formen des Vergessens beteiligt. Die Behauptung, Museen würden Obsoleszenz planen, ist vielleicht am weitesten hergeholt, obwohl die Sonderausstellungen – und auf längere Zeit gesehen sogar die „Dauerausstellungen“ – mit dem Hintergedanken konzipiert werden, eines Tages ersetzt zu werden. Die Attraktivität für das Museumspublikum und damit auch der gesamte Museumsmarkt beruhen schließlich auf genau diesem Wechsel.

Mehr oder minder überzeugende Beispiele lassen sich auch für die sechs anderen von Connerton postulierten Formen des Vergessens finden. Die Auswahl bestimmter Geschichten und Objekte – und die Nicht-Auswahl anderer – kann als eine Form des „Vergessens, das bei der Bildung einer neuen Identität konstitutiv ist“, betrachtet werden; das kann zum Beispiel eine nationale Identität sein, oder auch die einer Stadt. Zwangsläufig sind Museen auch an der „strukturellen Amnesie“ beteiligt. Damit ist gemeint, dass die Entscheidung darüber, was wir erinnern, davon abhängt, welchen Dingen wir gesellschaftliche Relevanz beimessen und welchen nicht. Da Museen durch ihre thema­tische Ausrichtung, ihre Sammlungskriterien sowie ihre Sammlungspolitik darauf ausgelegt sind, ganz bestimmte Dinge zu bewahren, fallen andere aus dem Muster und werden in Folge dessen strukturell vergessen. Ebenso können Museen gut und gerne als Mittel der „Nichtigkeitserklärung“ bezeichnet werden. Man kann sich hier auf die Auffassung beziehen, dass etwas, sobald denkmalartig festgehalten, nicht mehr in lebendiger Erinnerung behalten werden muss. Der US-amerikanische Sprachwissenschaftler und Judaist James E.Young formuliert es wie folgt: „In dem Irrglauben, dass unsere Gedenkstätten stets da sein werden, um uns zu erinnern, kehren wir ihnen den Rücken und kommen nur dann zurück, wenn es uns gerade passt. Je mehr wir die Erinnerungsarbeit unseren Denkmälern überlassen, desto vergesslicher werden wir“. Connerton schreibt dazu: „Wurde etwas gespeichert – in einem Archiv, in einem Computer – bedeutet das so viel wie: Obwohl es im Prinzip immer abrufbar ist, können wir es uns leisten, es zu vergessen“. Dieser Denkweise zufolge wird die Notwendigkeit, etwas aktiv zu erinnern, mit dem Speichern dieses etwas in einem Museum für nichtig erklärt.

Des Weiteren werden museale Institutionen gelegentlich mit „repressivem Auslöschen“ konfrontiert, zum Beispiel, wenn ein antagonistisches Regime oder eine oppositionelle Organisation versucht, die Schätze ihres Feindes zu zerstören, wie es der Islamische Staat in seinen Raubzügen durch zahlreiche Museen getan hat. Auch in das „vorschriftsmäßige Vergessen“ sind Museen verwickelt. Das kommt immer dann vor, wenn es einen breiten gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, dass man sich an bestimmte Teile der Vergangenheit besser nicht erinnern sollte. Oft handelt es sich dabei um nationale Demütigungen, um eines von Connertons Beispielen aufzugreifen. Zu solcherlei Demütigungen – und ebenso zu anderen umstrittenen Elementen des eigenen Kulturerbes, beispielsweise zur Täterschaft in Gewaltverbrechen etwa während des Kolonialismus – haben Museen allzu oft geschwiegen, und schweigen immer noch. Lästige Geschichten dieser Art werden dadurch vorschriftsmäßig verdrängt und vergessen.

Zweifellos könnte man Connertons verschiedene Formen des Vergessens Museen betreffend noch weiter nutzbringend ausbreiten. Die meisten dieser Arten des Vergessens beziehen sich dabei auf Museumsinhalte – darauf, welche Vergangenheiten sie sammeln und bewahren und welche nicht. Es besteht kein Zweifel, dass diese Frage nach Inklusion oder Exklusion hochbedeutsam ist und dass Museen innerhalb unserer Gesellschaft eine zentrale Rolle einnehmen, indem sie darüber entscheiden, was erinnert und was verworfen wird. Doch nicht nur durch das Ignorieren von Inhalten nehmen Museen am Vergessen teil. Nachfolgend möchte ich einige von Connertons Formen des Vergessens aufgreifen, anpassen und ergänzen, um verschiedene Modi des Vergessens im Museum zu erarbeiten. Ich verwende bewusst die Bezeichnung „Weisen“ anstelle von „Formen“, weil es mir vor allem um die Vorgehensweisen von Museen geht. Wie schon Connerton bei seiner aus sieben Formen bestehenden Liste – eine Zahl, die ich als Hommage an seine Schrift aufgreife – so möchte auch ich darauf hinweisen, dass die Liste keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt.

1. Vergessen durch stellvertretendes Erinnern

Was ich als „stellvertretendes Erinnern“ bezeichne, deckt sich größtenteils mit dem, was Connerton unter „Vergessen als Nichtigkeitserklärung“ zu verstehen scheint. Das Argument ist hier, dass Menschen das gesellschaftlich so bedeutsame, kollektive Erinnern getrost den Museen überlassen können. In ihrer Rolle als Bewahrer von Erinnerungen erlauben Museen es anderen, zu vergessen. Wenn ich zwecks meiner Feldforschung einen neuen Ort besuche und nach der Geschichte oder den Erinnerungen dieses Ortes frage, so verweisen mich meine Anthropologenkollegen – ich selbst habe mich auch schon dabei ertappt – meist oft auf das lokale Museum. In vielerlei Hinsicht ist das eine durchaus sinnvolle Arbeitsteilung: Man betraut eine bestimmte Institution mit der Erinnerungsarbeit. Doch diese Institutionalisierung des Erinnerns ist eng verzahnt mit einer Billigung – oder gar Ermutigung – des Nicht-Erinnerns anderenorts, und trägt dadurch zum Vergessen bei. Sie hat auch einen anderen Effekt, den ich bei meiner Feldforschung oft zu spüren bekomme: Mit Erinnerungskompetenz von offizieller Seite konfrontiert, reden die Bürger ihre eigenen, lokalen Erin­nerungen oft klein oder verwerfen sie ganz. „Vielleicht liegen wir falsch“, hört man dann oft, oder auch: „Sie werden die richtige Geschichte schon kennen.“ Museen können das Vergessen also auch dadurch ankurbeln, dass sie eine Art Superlativ des Erinnerns ausstrahlen, neben dem andere Erinnerungen blass und nichtig erscheinen.

Nichts von dem Gesagten soll andeuten, dass Museen keine Strategien parat haben – denn diese werden zahlreich angewendet –, die das lokale, gesellschaftliche Erinnern fördern und aufwerten. Hier geht es vielmehr darum, Museumspraktiken aufzudecken, die das Vergessen unbeabsichtigterweise begünstigen.

2. Vergessen durch Nicht-Sammeln  

Was Museen nicht sammeln, das bleibt dem Vergessen überlassen – zumindest von offizieller Seite, denn an anderer Stelle können diese Dinge durchaus fortbestehen, zum Beispiel in Privatsammlungen, auf verstaubten Dachböden oder in Memoiren. Doch wird die Entscheidung zum Nicht-Sammeln von einer Institution getroffen, die von der Gesellschaft offiziell mit dem Bewahren von Erinnerungen betraut ist, so bedeutet sie zweifellos eine empfindliche Marginalisierung oder gar Auslöschung – ein kulturelles Vergessen. Unter diesem Modus ließen sich viele von Connertons Formen des Vergessens zusammenfassen. In Bezug auf Museen stehen seine sieben Vergessensarten – wie oben bereits kurz angerissen – vor allem für verschiedene Formen des Nicht-Sammelns. Diese reichen von der aktiven Entscheidung, gewisse Erinnerungen auszuklammern – beispielsweise die erwähnten demütigenden oder beschämenden Geschichten – bis zu einem mit der strukturellen Amnesie einhergehenden unbewussten Übergehen von Erinnerungen: Bestimmte Dinge werden gar nicht erst als „sammelbar“ wahrgenommen. Auch gibt es zwangsläufig vieles, was nicht gesammelt werden kann. Nicht nur einzelne Objekte, sondern auch ganze Kategorien sind davon betroffen; letztere deshalb, weil Kategorien sich ständig wandeln: Die Welt kann jederzeit neu und anders segmentiert werden, und wird es auch. Wirft man einen Blick auf die Geschichte der Museen, so wird zwar deutlich, dass sich der Umfang der Sammlungen – ebenso wie die Anzahl an Museen und Museumstypen – stark vergrößert hat. Objekte, die vom Alltagsleben bestimmter gesellschaftlicher Gruppen wie Frauen, Arbeiter, Immigranten etc. erzählen, werden seit der sozialen Bewegung der 1960er-Jahre beispielsweise viel reger gesammelt als davor. Besonders für Stadtmuseen war diese Bewegung bedeutsam, denn sie eröffnete ihnen völlig neue und breitgefächerte Möglichkeiten des Erinnerns. Trotz dieses allgemeinen Erinnerungsbooms kann unser Erinnern aber stets nur unvollständig bleiben. Dinge werden in Vergessenheit geraten. In der Zukunft wird man dann neue Schwerpunkte setzen, auf unsere Gegenwart zurückblicken und erkennen, auf welchem Auge wir blind waren. Gleichzeitig räumen wir heut­zutage einigen Dingen, die unseren Vorfahren einst so sammlungswürdig erschienen – wie die Kuriositäten in den Wunderkammern, Totenmasken der Gesichter berühmter Persönlichkeiten, die sich zu Tausenden in Museumssammlungen befinden, oder Fragmenten bestimmter Arten von Keramik –, nicht mehr im selben Umfang einen Platz an unseren Orten der Erinnerung ein.

3. Vergessen durch Lagern

Das führt mich zum nächsten Modus des Vergessens: der Amnesie des Depots. Die Behauptung, dass Museen durch stellvertretendes Erinnern zum Vergessen beitragen, erscheint noch einleuchtender, wenn man dabei nicht an die öffentlich zugänglichen Ausstellungen denkt, sondern an die Unmengen an Objekten, die in Museumsdepots vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen liegen. Zahlenmäßig übertreffen diese das Präsentierte um ein Vielfaches – im Großen und Ganzen geht man davon aus, dass 95 Prozent aller Sammlungsstücke sich in nicht öffentlichen Depots befinden. Selbstverständlich steht diese Aufbewahrung offiziell im Dienste der Erinnerung. Doch in Wirklichkeit handelt es sich hier nicht bloß um eine Form des Vergessens durch stellvertretendes Erinnern – oder durch „Nichtigkeitserklärung“ –, sondern viele dieser Gegenstände werden buchstäblich vergessen. Wie sollte man auch all diese unzähligen Dinge im Gedächtnis behalten? Viele Kuratoren, mit denen ich über die Jahre hinweg ins Gespräch kam, erzählten mir, dass sie vergessen, was ihre Institutionen besitzen. Und fragt man Museen nach bestimmten Sammlungsstücken, so erhält man oft die Antwort, dass erst zeitaufwendig geprüft werden müsse, ob sich besagtes Objekt überhaupt im eigenen Besitz befindet. Dass das Finden sich derart zeitintensiv gestaltet, macht deutlich: Weder die manuellen noch die computergestützten Datenbanken sind der Aufgabe eines schnellen Speicherabrufs gewachsen – manchmal deshalb, weil die Suchkriterien nicht mit den Merkmalen übereinstimmen, die dem Depotbestand zugewiesen wurden. Einige Gegenstände aus Museumsdepots fallen einer noch fortgeschritteneren Stufe des Vergessens zum Opfer: Sie werden nur unvollständig – wenn überhaupt – inventarisiert. Schnell wird ihnen dadurch die nach heutigen Standards gewünschte Informationsdichte genommen, die sie als „brauchbar“ qualifizieren würde (auf diesen speziellen Modus des Vergessens werde ich unter Punkt 4 noch zu sprechen kommen).

Der Museumsforscher Dirk Heisig stellt die Behauptung auf, dass viele Museen ihre gelagerten Sammlungsstücke durch unzureichende Konservierung und unvollständige Inventarisierung passiv „entsammeln“. Er macht sich für ein geordnetes Entsammeln stark; das ungeordnete Entsammeln durch schlechte Depotsituationen und mangelhafte Speicherung von Informationen hingegen bedeutet für ihn nichts anderes, als sich der Objekte effektiv zu entledigen. Wenn das Lagern an sich schon im Vergessen enden kann, dann erst recht das Horten auf oftmals viel zu engem Raum. Manchmal scheint in solchen Fällen gar ein bewusstes Auslöschen dahinterzustecken, insbesondere, wenn Objekte unzureichend konserviert oder absichtlich in einem Zustand zurückgelassen werden, in dem sie gerade genug verkommen, um restlos vergessen – und dadurch passiv entsammelt – zu werden.

4. Vergessen durch Unzureichendes Erinnern

Wird man von einem Kurator durch das Museums­depot geführt, so kann man sich fast sicher sein, dass früher oder später beklagt wird, wie dürftig die Informationen über bestimmte Sammlungsgegenstände doch sind. Manchmal fehlen wichtige Details darüber, woher genau ein Objekt stammt oder in wessen Gebrauch es war. Bei einigen dieser Gegenstände könnte man mit zielgerichteter Forschungsarbeit sicherlich das ein oder andere fehlende Puzzleteil aufdecken. In anderen Fällen sind die Verzeichnisse so gähnend leer, dass es unmöglich erscheint. Dieser Mangel, so betonen die Kuratoren richtigerweise, macht die Objekte nur schwer einsatz­fähig oder gar unbrauchbar. Man könnte sagen, diese Sammlungsstücke werden durch unzulängliches Erinnern disqualifiziert. Manchmal liegt das Problem darin, dass Informationen verloren gegangen sind oder nie bereitgestellt wurden. Das kann zum Beispiel bei Spenden vorkommen. In anderen Fällen sind es die veränderten Ansichten darüber, welche Informationen wichtig sind, die rückblickend entlarven, was die Kuratoren der Vergangenheit vergessen haben und auf welchem Auge sie blind waren. So mag es ein Stadtmuseum heutzutage beispielsweise bedauern, dass die ehemaligen Kuratoren es versäumt haben, die persönlichen Geschichten rund um die Sammlung an Fabrikarbeiterkleidung festzuhalten, oder dass niemand dokumentiert hat, unter welchen Bedingungen die Missionare an jene Gegenstände gelangten, die sie während ihres Aufenthalts in Kolonien sammelten und später an das Museum übergaben.

5. Vergessen der Wandlungsfähigkeit und Lebendigkeit von Objekten

Nicht nur Informationen über Objekte werden von Museen vergessen, sondern auch gewisse Eigenschaften, die sie aufweisen. Verfechter des „neuen Materialismus“ stellten fest, dass die Wandlungsfähigkeit, Lebendigkeit und Wirkkraft von Objekten nur allzu oft übersehen und vergessen wird. Das Vergessen dieser Eigenschaften kann man Museen durchaus vorwerfen – vielleicht sogar deren „repressives Auslöschen“. Konservierung ist darauf ausgerichtet, Veränderung über die Zeit hinweg zu minimieren oder gar zu verhindern: Wie Konserven werden Objekte „eingelegt“, auf dass ihr physischer Zustand auf Dauer erhalten bleibt. Fernab von der Welt, der sie vor ihrer Zeit im Bestand des Museums angehörten, mit all ihren Transaktionsgeschäften, sind sie keinerlei Veränderung, Umgestaltung oder Umfunktionierung mehr ausgesetzt.

Gewissen Objekten schadet das Vergessen dieser Lebendigkeit ganz erheblich. Ein Beispiel: Amerika­nische Ureinwohner haben dafür gekämpft, dass bestimmte Gegenstände wie Kachina-Puppen nicht in Kunststoff verpackt werden, damit sie atmen können, und setzten sich dafür ein, dass Museen die Kachinas mit Essen versorgen. Mit Hilfe der richtigen Behandlung können diese Objekte weiterleben, anstatt an den musealen Praktiken zu ersticken. Ein ernstes Problem kann auch das Vergessen der Wandlungsfähigkeit von Objekten oder ihrer geplanten Obsoleszenz darstellen. Auch hier soll ein Beispiel genügen: Die Malanggan-Schnitzereien aus der Pazifikregion wurden ursprünglich geschaffen, um nach ihrer Fertigung der Witterung ausgesetzt und dem Verfall überlassen zu werden, damit sie letztendlich verschwinden – im Zuge von Zeremonien, die sich mit dem menschlichen Tod auseinandersetzen. Doch heutzutage fristen diese Skulpturen in zahlreichen westlichen Museen ein endloses Dasein. In den genannten Fällen handelt es sich um lediglich zwei besonders bemerkenswerte Fälle des weit verbreiteten Vergessens der „alternativen Ontologien“ von  Objekten.

6. Vergessen all derer, die das Museum nicht anspricht

Museen sind dieser Tage redlich bemüht, ihre Ausstellungen – und manchmal auch ihre Sammlungen – für ein größtmögliches Publikum attraktiv und zugänglich zu machen. Sie versuchen mit aller Kraft, nicht zu vergessen, dass manche Menschen nur eingeschränkt oder gar nicht lesen können, dass andere auf einen Rollstuhl angewiesen sind, dass wieder andere weder Deutsch noch Englisch sprechen und dass ihr Publikum aus Menschen verschiedenster kultureller Hintergründe besteht – aber es ist schwer, all das im Auge zu behalten. Indem sie ihr Hauptaugenmerk auf ihre „Besucher“ richten, laufen Museen Gefahr, ihre „Nicht-Besucher“ zu vergessen – obwohl oft versucht wird, dem mit Initiativen zur „Erweiterung der Zielgruppe“ oder mit Projekten für „mehr Diversität“ entgegenzuwirken. Und doch vergessen Museen unweigerlich einige potenzielle Zielgruppen, und sei es nur, weil es schlicht unmöglich ist, jeden Menschen anzusprechen – ein spezifisches „Publikum“ könnte möglicherweise aus nur einer einzigen Person bestehen. Zudem hat die gezielte Ausrichtung auf eine bestimmte Personengruppe beinahe zwangsläufig zur Folge, dass andere vergessen werden. Wer ruhige, zum Nachdenken anregende, hauptsächlich informative Veranstaltungen bevorzugt, wird sich vermutlich nicht von einer Ausstellung angesprochen fühlen, die für ein Zielpublikum konzipiert wurde, das nach einer schnelleren, lauteren, vielleicht sogar interaktiven und in erster Linie spaßigen Erfahrung sucht. Es allen recht machen zu wollen – niemanden zu vergessen – mag am Ende gar in einem einzigen Tohuwabohu enden.

7. Vergessen, um Kulturerbe Wert beizumessen

Museen sind Teil des kulturellen Instrumentariums, mit dem wir Kulturerbe erschaffen: Sie bewahren die Geschichten und Materialien, die eine Gesellschaft, oder eine bestimmte Gruppe innerhalb der Gesellschaft, für dauerhaft bewahrenswert hält. Ganz offensichtlich ist es nicht praktikabel, alles zu sammeln. Selbst, wenn wir alle Supermärkte, Flughafenhallen, Kirchen und Schulen zu Museumsdepots umfunktionieren würden, würde der Platz auf Dauer nicht ausreichen. Doch abgesehen davon können Museen auch deshalb nicht alles bewahren, weil die Kategorie „Kulturerbe“ dann jegliche Bedeutung verlieren würde. Kulturgütern kommt ja gerade deshalb ein besonderer Wert bei, weil wir beschlossen haben, dass sie spezielle Aufmerksamkeit verdienen – dass sie gesammelt, bewahrt und (möglicherweise) ausgestellt werden sollen. Das ist nur in einem Kontext möglich und sinnvoll, in dem die meisten Objekte nicht zu Kulturgütern erklärt und damit zum Vergessen freigegeben werden.

Wie wir gesehen haben, geschieht das Vergessen in Museen nicht nur hin und wieder versehentlich. Vielmehr ist es ihnen ebenso inhärent wie das Erinnern. Am Ende sollte uns das aber nicht überraschen – schließlich ist das Vergessen nicht nur der Verlust von Erinnerung, sondern auch die Voraussetzung fürs Erinnern.

Der Essay von Sharon Macdonald erschien zuerst im Begleitband zur Sonderausstellung „Vergessen – Warum wir nicht alles erinnern“ des Historischen Museums Frankfurt. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung.