Wie ästhetische und kognitive Bildung zusammengehen

Von Geist ist heutzutage selten die Rede, von Kultur dagegen viel. Ästhetik ist in aller Munde, und Kognitionen sowieso. Auch die Verbindung „ästhetische Bildung“ kommt uns geläufig über die Lippen und in die Ohren. Die Verbindung „kognitive Bildung“  klingt dagegen sperrig – da fällt einem eher kognitive Kompetenz ein. Wenn man die Verbindungen ansieht, kann man ins Grübeln kommen – wieso eigentlich Kultur und Geist? Kann es denn geistlose Kultur oder kulturlosen Geist geben? Und wieso eigentlich ästhetische und kognitive Bildung? Ist denn das eine ohne das andere denkbar? Ästhetische Bildung ohne kognitive, kognitive Bildung ohne ästhetische? Man kann die Hermeneutik dieses Titels noch ein bisschen weitertreiben, und z.B. danach fragen, was denn das „zusammengehen“ bedeuten könnte – zusammenpassen? Oder zusammenführen? Oder Gleichschritt, also parallele Bewegung in gleicher Richtung? Und was steckt dann in dem „Wie“? Eine These? Oder eine Frage über die Modalität, die Art und Weise des Zusammengehens?  Offenbar gibt es da einiges zu klären. Ich versuche es in sieben Schritten. Ich werde eingehen auf Sehnsucht, Kreativität, Geist, Kunst, Wissen(schaft), Kultur und Bildung.

1. Sehnsucht

Für die große Mehrheit der heutigen Jugendlichen ist Jugendzeit als eine lange Bildungs- und Ausbildungszeit definiert. Nicht wenige Jahre, sondern ein bis zwei Jahrzehnte dauert die Jugendzeit heute, wenn man die jungen Erwachsenen einbezieht. Jugend und junge Erwachsenheit sind keine kurze, möglichst schnell abzuwickelnde Übergangszeit mehr, wie das noch bei der Elterngeneration im Durchschnitt der Fall war. Das aber bedeutet, dass für immer mehr Menschen und für immer längere Zeiten ein unabsehbarer Übergangszustand zur Normalität wird. Für die Kinder und Jugendliche stellt sich die private und berufliche ebenso wie die gesellschaftliche und politische Zukunft dementsprechend häufig als eine individuell vollkommen offene, unberechenbare und  nur begrenzt beeinflussbare Mischung aus Risiken und Chancen dar: Zeitarbeit als Metapher. Dass sich junge Menschen dann umso mehr für ihre Gegenwart interessieren, leuchtet unmittelbar ein.

Sie haben ja nicht nur die neuartigen sozialen Reifungs- und Übergangsprobleme, sondern nach wie vor auch die klassischen leiblichen Reifungs- und Übergangsprobleme zu bewältigen. Ist es dann überraschend, wenn sie sich nach Bewältigung des inneren und äußeren Chaos, nach Sinn, Glück, Orientierung sehnen? Sehnsucht entspricht in hohem Maße der jugendlichen Lebenssituation, und zwar beider Geschlechter. Man sehnt sich aus dem merkwürdigen Übergangskörper heraus in den schönen, fertigen Körper. Man sehnt sich aus dem seelischen Durcheinander heraus in klare Haltungen. Man sehnt sich aus der Einsamkeit heraus in befriedigende Beziehungen. Und man sehnt sich vor dem Hintergrund radikaler Kontingenzerfahrung nach Perspektiven, nach Verbindungen, Gemeinschaften, nach Sinn. Sehnsucht ist eine romantische Haltung; die blaue Blume kann lebensbestimmend für die Entfaltung der Person werden, gerade weil sie nie gefunden wird.  Mit dem Chaos, mit dem Unwägbaren („Curriculum des Unwägbaren“ hieß der schöne Kongress der Yehudi-Menuhin-Stiftung im letzten Jahr in Essen; vgl. Bilstein u.a. 2007) umgehen, sich dabei selbst gestalten und dadurch in die Welt eingreifen – es gibt eine Entsprechung zwischen der Situation der Jugendlichen und der Situation der Künstler. Und es ist diese Entsprechung, die die Künstler und die Künste für die Jugendlichen attraktiv macht. Gefordert ist Kreativität.

2. Kreativität

Kreativität ist allerdings kein romantisches, kein einladendes, kein schmeichelndes, es ist ein eher unangenehmes Wort. Harte Konsonanten, spitze Vokale; nur das „a“ und das „v“ bringen etwas weicheren Klang; großzügig könnte man auch das „r“ noch zu den milderen Tönen zählen. Ein hartes Wort also, und auch ein harter Begriff. „Kreativität“  ist die  Fanfare der Modernisierung seit 20, 25 Jahren, und das nicht nur in der Schule. Das Neue zu entdecken, das Noch-Nie-Da-Gewesene zu gestalten, die Welt zu erfinden, ist die Aufgabe. Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kultur: Alle sind sich einig, dass es auf Kreativität ankommt und dass Kreativität gefördert werden muss.

Wenn alle so übereinstimmen,  lohnt es sich meistens genauer hinzuschauen.
Hans Zender hat in seinem Beitrag über den „Ort der Musik in der Bildung“ eindrucksvoll das Lob der Kreativität angestimmt. Ich bin da skeptischer.  Kreativität ist ein formaler Begriff, als solcher inhaltsleer. Er beschreibt nicht mehr als die bloße Tatsache der Erfindungskraft, der Kraft also zur schöpferischen Überbrückung der Differenz zwischen Vorhandenem und Neuem. Zur Waffenkonstruktion ist Kreativität ebenso erforderlich wie zur Entwaffnung. Leider ist keineswegs festgelegt, dass der Mensch als Erfinder und Schöpfer nur Gutes, Wahres und Schönes erfindet und schöpft; Geschichte und Gegenwart sprechen jedenfalls gegen eine solche Annahme.  Kreativität als solche ist ethisch und ästhetisch indifferent und damit als pädagogisches Ziel nicht allein tragfähig. Es kommt auf den Geist an, mit dem sie verbunden ist. Kreativität wird überwiegend aus der Haltung harter Aufklärung gefordert, aus utilitaristischen – wirtschaftlichen, politischen, sozialen oder auch wissenschaftlichen – Gründen. Kunst und Kultur werden dann zum Mittel zum Zweck. Viel seltener wird Kreativität aus idealistisch-humanistischen Gründen protegiert, weil sie für Kunst und Kultur, für Freundschaft, Liebe und das Zusammenleben im Alltag wichtig ist, also selbst als Mittel zum kulturellen Zweck gebraucht wird. Dass man Kreativität braucht, um mit dem Chaos der subjektiven Innenwelt umgehen zu können: diese romantische Perspektive findet sich dann allenfalls noch bei den Künstlern, Pädagogen und Therapeuten, die sich für solche seltsamen Themen interessieren. (Für die Jugendlichen ist das, wie gesagt, der zentrale Aspekt.)  Die pädagogische Kritik an diesem schwachen Begriff ist nicht neu (Liebau 1995, Hentig 1998); bewirkt hat diese Kritik wenig – nach wie vor wird landauf, landab die Förderung der Kreativität gefordert. Und tatsächlich braucht man sie ja auch, wenn man denn der Welt geistvoll, also angemessen, begegnen will.

3. Geist

Im Gegensatz zur Kreativität hat der Geist seit etwa vierzig Jahren überhaupt keine Konjunktur. Er ist aus den öffentlichen Debatten nahezu vollständig verschwunden. Die bildungs- und schulpolitische Rhetorik z.B. kommt ganz ohne Geist aus. Dass Schule zur Bildung des Geistes beitragen solle, wäre heute eine höchst ungewöhnliche Formulierung. Vom Kopf ist die Rede, vom Wissen, vom Intellekt, vom Gehirn sogar, von Begabung, Intelligenz und Kompetenz, aber nicht vom Geist. Eine Verbindung von Schulentwicklung und Geist ist mir jedenfalls noch nicht begegnet. Weder Humboldt noch Hegel noch Dilthey bilden in den aktuellen Debatten zentrale Referenzen. Humboldts „Geist der Menschheit“ (1797) ist offenbar nicht gefragt. Hegels „Weltgeist“ (1807) wird ohnehin nur noch ironisch herbeizitiert. Und dass die mit Kultur befassten Geisteswissenschaften tatsächlich mit Dilthey (1910) etwas richtig „verstehen“ könnten, wird unter den Vorzeichen des psychologischen Konstruktivismus ebenso massiv in Frage gestellt und relativiert wie unter den Vorzeichen einer relativistischen historischen Kulturanthropologie. Konjunktur hat nicht der Geist, Konjunktur haben psychologische, relativistische und neuerdings verstärkt physiologische Begriffe. Reden die einen, die Psychologen, von den Kognitionen und der kognitiven Entwicklung, die anderen, die Kulturanthropologen, von der historischen und sozialen Perspektivität und Relationiertheit aller kulturellen Phänomene, so reden die dritten, die Mediziner, vom Gehirn, den Synapsen  und dem Neuronenfeuer. Nicht einmal die Geisteswissenschaften sind sich noch sicher, ob sie Geisteswissenschaften sein wollen; vielerorts haben sie sich bereits, wenn auch etwas verschämt, in Kulturwissenschaften umbenannt – trotz des gegenwärtigen „Jahres der Geisteswissenschaften“, in dem doch „Geist begeistern“ soll. Man wird sehen, was aus diesem späten Rettungsversuch wird.

Pädagogisch führen diese psychologischen, medizinischen und kulturanthropologischen Perspektiven der Abschaffung des Geistes aber nicht recht weiter, auch wenn sie uns helfen, die Bedingungen der pädagogischen Arbeit besser zu verstehen. Aber sie können nicht zeigen, wohin die Reise gehen soll, wie sie am besten zu organisieren ist und welches Gepäck man braucht. Und sie können auch nicht zeigen, wie man mit den allfälligen Schranken, Grenzen, Problemen und Hindernissen adäquat umgehen kann. Sie können schon gar nicht sagen, aus welchem Geist heraus dies alles geschehen soll. Offenbar kommt man pädagogisch ohne einen Begriff des Geistes nicht gut aus.  Die Alltagssprache weiß das. Sie kritisiert „geistlose Routinen“  und Praktiken, redet davon, dass „man seinen Geist anstrengen“ muss zur Lösung individueller Probleme; sie erwartet „geistvolle Lösungen“ für soziale und politische Probleme, redet vom „Geist einer Institution“  und sie will „das geistige Leben fördern“, die Künste, die Wissenschaften, manchmal auch die Spiritualität.  Geist bezieht sich also auf wenigstens drei Dimensionen, die subjektive, die inter-subjektive und die in den Ausdrucks- und Erkenntnisformen objektivierte. (Das ist in der Alltagssprache übrigens so ähnlich wie bei Hegel, der zwischen dem „subjektiven Geist“ des einzelnen Menschen, dem „objektiven Geist“ der menschlichen Gemeinschaftsformen von Recht, Gesellschaft und Staat und dem „absoluten Geist“ unterscheidet, dem er dann Kunst, Religion und Philosophie zuordnet.)  Geist ist also vieldeutig; aber er stellt offenbar zugleich ein entscheidendes Qualitätskriterium dar: Er verbindet rationale, moralische und ästhetische Elemente in  einer übergreifenden Einheit, die sich subjektiv als gebildete Haltung, inter-subjektiv als humane, angemessen geformte Kultur des Zusammenlebens und objektiviert als Kunst und Wissenschaft äußert; das sehr komplexe eigene Thema Religion lasse ich jetzt mal aus. Pädagogik ist dann nichts anderes als die geistvolle Kunst der Vermittlung der Künste und der Wissenschaften in einer angemessen geformten, und das heißt: demokratischen Kultur des Zusammenlebens zu Gunsten der subjektiven Bildung des Zöglings bzw. der Zöglinge. Dafür braucht man offensichtlich die Künste und die Wissenschaften, und zwar gleichberechtigt.

4. Kunst

Wenn wir heute von Kunst reden, sind meistens die so genannten freien Künste gemeint, die klassischen bildenden Künste (Malerei, Plastik, Architektur) und die neuen Raum- und Medienkünste, von der Fotographie über Film und Video bis zur Internet-Installation, die aufführenden Künste, Theater, Tanz, Performance, Musik, die Literatur und all die neuen Mischungen, die die Grenzen der Sparten überschreiten. Kunst ist da erstmal das, was Künstler tun. Und Künstler sind erstmal die, die sich als solche definieren und die gesellschaftlich als solche durch die entsprechenden Instanzen, die Hochschulen, die einschlägigen Praxis-Institutionen, die öffentliche Kritik und den Markt,  anerkannt werden. Nicht gemeint sind die praktischen Künste des Handwerks und des Alltags, vom Schränke-Bauen bis zum Essen-Kochen, nicht gemeint sind die professionellen Künste der wissenschaftsbasierten Professionen: Heilen, Lehren, Richten, Trösten, also die Künste der Mediziner, der Lehrer, der Richter, der Priester, nicht gemeint sind die Künste der Entwicklung des Zusammenlebens, also die Politik, und schon gar nicht gemeint ist die individuelle Lebenskunst: Ars vivendi und ars moriendi.

Wenn wir von Kultur und von Kultureller Bildung reden, ist das offensichtlich anders: dann geht es um die ganze Bandbreite der jedermann und jederfrau zugänglichen freien und der praktischen Künste, also um die Pflege und Entwicklung der individuellen, der subjektiven Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils-, Handlungs-, Ausdrucks- und Darstellungsformen in ihrer gesamten Vielfalt (Liebau/Zirfas 2007).

Man kann sich durchaus darüber streiten, welcher Kunstbegriff der Arbeit in der Schule zugrunde gelegt werden soll, der engere der freien Künste oder der weitere der kulturellen Bildung. Wahrscheinlich ist das aber eine falsche Alternative; denn es sind nur die freien Künste, die uns, so Matthias Winzen (2007), Bilder von Bildern zeigen, die mit den Grenzen der Wahrnehmung und des Ausdrucks experimentieren und spielen und hier mit ihren Prozessen und Ergebnissen die Maßstäbe in Produktion und Rezeption setzen. Die freien Künste erkunden und erforschen die Welt – die Außenwelt ebenso wie die Innenwelt und die symbolischen Welten – auf mehr oder minder experimentelle Weise, indem sie sie darstellen oder gestalten. Genau das macht die Prozesse, die Produkte und nicht zuletzt die Akteure für Kinder und Jugendliche hoch attraktiv, da es hier, wie oben schon angedeutet, in manchen Hinsichten strukturelle Analogien zur Situation von Kindern und Jugendlichen gibt. So weit die freien Künste also auch von der ästhetischen Praxis von Schulkindern oder Jugendlichen entfernt sein mögen, so bilden sie doch letztlich den Referenzrahmen, auf den auch die Schulkünste im engeren Sinne zu beziehen sind. Das ist der entscheidende pädagogische Grund für die Schulen, auch die direkte Kooperation mit Künstlern zu suchen. Den Lehrern kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, denn solche Ansätze gelingen auf Dauer nur kooperativ. Dass die Orientierung an den freien Künsten  eine Kultivierung des Schulalltags im Sinne kultureller Bildung nicht ausschließt, sondern im Gegenteil nachdrücklich befördert, sei immerhin schon an dieser Stelle angemerkt: für eine hinreichend breite Allgemeinbildung bedarf es nicht nur der freien, sondern auch der angewandten Künste.  Und, selbstverständlich, des wissenschaftlichen Wissens und Forschens, also der Wissenschaften.

5. Wissenschaften

Das kann ich kurz machen:  es ist völlig unbestritten, dass Wissen und Wissenschaft zugleich als Grundlage, Ziel und Methode zur pädagogischen Praxis gehören: Wer, wie, was, wieso, weshalb, warum… Und es ist völlig eindeutig, dass Wissenschaft nicht nur als fertiges Wissen vermittelt werden kann und darf, wenn man will, dass Kinder und Jugendliche ihren Sinn und ihre Möglichkeiten erfahren sollen. Wissenschaft bietet in allen ihren Bereichen zahllose Abenteuer, wenn man sich selber, in der Zusammenarbeit mit anderen, auf die Suche macht. Den Kern der Wissenschaft bildet die Forschung. Das Entscheidende an ihr ist die Suchbewegung, dass man vorher nicht weiß, was später herauskommt. Genau das müssen Schüler in der Schule lernen: durch eigenes Tun und durch eigene Erfahrung. Wissenschaft, übrigens, orientiert sich nicht nur an Wahrheit und, wenn sie gut ist, Verständlichkeit, sondern auch  an ästhetischen Kriterien; in den empirischen Wissenschaften gilt eine Theorie dann als besonders gut, wenn sie elegant ist, also mit sparsamen Mitteln auf direktem Weg einen überzeugenden Erklärungsansatz darstellt. Im Begriff der Ästhetik ist die Frage nach der Form enthalten. Ungeformte Wissenschaft kann es aber per definitionem nicht geben – nur mehr oder weniger bewusst geformte, und nur besser oder schlechter geformte. Ästhetik spielt also in jedem Erkenntnisprozess und in jeder Ergebnisdarstellung eine zentrale Rolle. Unter diesem Aspekt hat es auch im Blick auf den Schulunterricht wenig Sinn, von kognitiven Fächern einerseits, ästhetischen Fächern andererseits zu sprechen: diese Alternative führt vollständig in die Irre. Sinnvoller ist eine Unterscheidung zwischen eher wissenschaftlichen und eher künstlerischen Fächern, ggf. noch einmal differenziert in die freien und die praktischen Künste. Ebenfalls ist es unbestritten, dass Pädagogik nicht in Wissenschaft aufgeht, auch wenn das nach PISA manchmal vergessen worden ist.
Schwierig ist die Frage, was Schüler heute wissen müssen, wirklich wissen und können. Nicht als Testwissen, sondern als Wissen und Können, über das sie jeder Zeit verfügen können und das ihnen die Teilhabe an der globalisierten Kultur, in der sie leben, zuverlässig ermöglicht.

6. Kultur

Jede Mutter, jeder Vater, jedes Kind weiß es. Die Begründer der modernen Pädagogik, Rousseau, Pestalozzi, Humboldt, haben es gewusst. Kopf, Herz und Hand müssen gemeinsam gebildet werden, wenn der Bildungsprozess gelingen soll. Auch die Schulen wissen, was eigentlich nötig wäre. Sie werben mit Kultur, mit Chor, Orchester, Big-Band, Theatergruppe und individueller, ganzheitlicher Förderung für alle Kinder. Sie geben sich redlich Mühe. Die Ergebnisse sind oft brillant; die einschlägigen Wettbewerbe und Festivals bezeugen es. Die Kultivierung der Schule ist nicht nur in der Spitze, sondern auch in der Breite weit fortgeschritten. Das ist die gute Nachricht. Dass Kultur und Kunst vielen – auch in den Schulen selbst – immer noch als kürzbar und damit als Beiwerk gelten, ist die schlechte.

Die über Jahrzehnte aufgebaute Schulkultur ist seit einiger Zeit massiv gefährdet. Es ist paradox, aber es ist so: Die Schule nach PISA steht in der Gefahr, kulturell zu verarmen. Besonders hart trifft es die Gymnasien.  Sie sollen mehr Test-Wissen und Können in weniger Zeit erreichen.  Messbare, an Durchschnittsstandards orientierte Qualifikationen in eng umgrenzten Kompetenzbereichen werden zum entscheidenden  Bezugspunkt und die Einrichtung von Lernschnellwegen wird zur Regel: die doch endlich  überwunden geglaubte Paukschule feiert fröhliche Urständ.  Die Schüler müssen dementsprechend vor allem für die wichtigen, abschluss- und übergangsbedeutsamen Fächer büffeln: Mathematik, Naturwissenschaften, Fremdsprachen, Deutsch. Das geht nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv vor allem auf Kosten von Musik, Kunst, Sport, Theater, Chor und Orchester, Interessengruppen und Arbeitsgemeinschaften aller Art. Ihr Anteil am Zeit-Budget sinkt. Lehrer, Eltern und die Schüler bedauern das zwar häufig. Aber sie sind meistens Realisten: Sie wissen, dass wichtig ist, was gemessen wird und was für die Abschlüsse und Übergänge zählt. Und sie richten sich danach. In den Schulen geht also vielerorts nicht nur das kulturell-künstlerische Angebot zurück, sondern auch die Nachfrage. Die Kinder und Jugendlichen haben oft schlicht keine Zeit mehr für Kultur und Kunst; sie können dann auch keinen Sinn dafür entwickeln.

Nötig ist aber das genaue Gegenteil: Im Artikel 131 der bayerischen Verfassung z.B. wird der Bildungsauftrag unmissverständlich dargestellt: „Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden.“ Und dann ist auch von der „Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne“ die Rede. Manchmal wussten die Alten ziemlich gut, was man wirklich braucht, auch wenn es heute altertümlich klingt. Und sie wussten, dass alle das brauchen, jeder Junge, jedes Mädchen. Es ist höchste Zeit für eine erneute Kultivierung der Schule, für eine Schule nicht nur einer engen Qualifikation, sondern einer weiten  Bildung.

7. Bildung

Die Künste (Theater, Literatur, Musik, Bildende Kunst, Sport) sind kein überflüssiger Luxus, sondern – gemeinsam mit den Wissenschaften – das wesentlich definierende Element schulischer Bildung. In den Schulen gehören sie ausgebaut, nicht abgebaut. Eine der wichtigsten bildungspolitischen Aufgaben besteht darin, allen Kindern und Jugendlichen ihren eigenen Zugang zu den Künsten zu eröffnen, also die künstlerisch-kulturelle Bildung innerhalb und außerhalb der Schule massiv und nachhaltig zu stärken und zugleich dauerhaft zu sichern.

Dabei kommt heute dem Theater in der Schule höchste Bedeutung zu (Liebau u.a. 2005). Theaterspiel fordert und fördert alle wesentlichen sozialen und kulturellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, weil sie  für das Gelingen des Spiels wirklich gebraucht werden: Aufmerksamkeit, Wahrnehmung, Gedächtnis, sprachlicher und körperlicher Ausdruck, Präsenz im Auftritt, Verlässlichkeit, Pünktlichkeit,  Phantasie, Emotion, kulturelles Wissen, soziale Erfahrung, geistige und körperliche Bewegung und Beweglichkeit. Das gilt für alle Schularten und für alle Alterstufen, für das Märchen, den „Sommernachtstraum“, das selbst entwickelte Stück zu Jugendproblemen bis hin zum Tanz-Theater. Viel wichtiger ist aber, dass Theater Bildungsmöglichkeiten eröffnet, die nicht kalkulierbar sind: Bildung geschieht ausschließlich in der Wechselwirkung zwischen Ich und Welt, durch die subjektive Gestaltung der Welt und ihre Rückwirkung auf das gestaltende Subjekt, also im Hin und Her, das nicht planbar ist. Man weiß nicht vorher, wie die – immer einmalige – Aufführung wird und was die Erfahrung der Aufführung mit dem Spieler und auch mit dem Zuschauer macht. Genau darin liegt die bildende Wirkung. Theater und Wissenschaft, so Hartmut von Hentig, sind die machtvollsten Bildungsmittel, die wir haben (1997, S.120). Theater (in einem weiten Sinn, also einschließlich Tanz, Performance, Oper, Musical…) erlaubt Erfahrungen, die nur hier und in keiner anderen Kunstform (und schon gar nicht in den Wissenschaften) gewonnen werden können. Es verknüpft Sprache, Musik, bildende Kunst,  Medien, Sport, Tanz  etc.  Und es hat mehr und anderes zu bieten als die Reproduktion schlechter Fernsehshows.

Kultur und Geist: Wie ästhetische und kognitive Bildung zusammengehen, war mein Thema. Nicht zufällig bin ich beim Theater, beim Spiel der Welt, gelandet. Theater muss also sein, für alle Schüler und in allen Schularten. Und da in der Schule, wie sie heute noch ist, nur gilt, was als Fach eingerichtet ist, muss Theater erst einmal als gleichberechtigtes drittes künstlerisches Fach neben Musik und Kunst eingerichtet werden. Es wäre schön, wenn auch diese Botschaft von diesem Kongress ausgehen könnte. Denn, um Anne Bamford [1] sinngemäß zu zitieren: Wir müssen nicht mehr begründen, warum kulturelle Bildung nötig ist – da stimmt heute sowieso jeder zu.  Aber wir müssen sagen, was wir wollen, wie es geht und wen und was wir dafür brauchen: Kunst der Vermittlung.

[1] Bei einem Podiumsgespräch im Rahmen der Tagung der Hanns-Seidel-Stiftung „Evaluation kultureller Bildung?“ am 14.5. 2007 in Wildbad-Kreuth. Vgl. auch: Bamford 2006