Walzer in Betschwesterato

Der Ankauf des historischen Archivs des Mainzer Schott-Verlags im November 2014 ließ die Herzen mancher Archivdirektoren und Institutsleiter höher schlagen: Die Staatsbibliotheken in Berlin und München durften mit großer Freude die Regal-kilometer füllenden Archivalien des Geschäfts- und Herstellungsarchivs entgegennehmen, deren digitale Erfassung eine große Herausforderung sein wird, soll aus ihnen eine allgemein nutzbare Grundlage zur Erforschung dieses Archivs werden. Auch sechs Komponisteninstitute, darunter das Max-Reger-Institut in Karlsruhe, waren unter den Beglückten. Doch was bedeutet der Zugewinn von 15 Autographen über die zwar beeindruckende, aber lapidare Feststellung der großen Anzahl hinaus für ein Spezialinstitut, das seit seiner Gründung darum bemüht ist, die von Max Reger (1873 –1916) und seiner Witwe Elsa (1870 –1951) in alle Welt verstreuten Manuskripte zu sammeln? Das es mit einem Künstler zu tun hat, der derart unter dem Furor des Schaffens und Konzertierens stand, dass ihm ein ordnendes Innehalten, wie wir es von Brahms, Schönberg oder Hindemith kennen, nicht möglich war?

Max Reger, 1896; Max-Reger-Institut, Karlsruhe
Max Reger, 1896; Max-Reger-Institut, Karlsruhe

Wir müssen genauer hinsehen, um den Wert ermessen zu können: Das Konvolut umfasst ausschließlich frühe, zwischen 1890 und 1898 entstandene Werke, darunter die ersten Lieder op. 4, 8 und 12, die, romantischen Vorbildern folgend und dies mit der Widmung „Den Manen Franz Schuberts“ (Opus 12) dokumentierend, zugleich mit modulationsreichen Harmonien und prosahafter Melodik die Eigenart des jungen Komponisten zeigen. Der zweite der „Drei Chöre“ op. 6 beleuchtet wie in einer Momentaufnahme die Einführung der charakteristischen Zweifarbigkeit: Von diesem Augenblick an hat Reger in all seinen Autographen die Noten mit schwarzer Tinte, die Vortragsangaben zu Dynamik, Tempo und Artikulation mit roter Tinte geschrieben und damit nicht nur dem Stecher geholfen, den Überblick im Notendickicht zu wahren, sondern auch die Bedeutung der Interpretation vor Augen geführt. Im Liederopus 15 mit der geheimnisvollen Widmung „Dir“ und dem Schlüssellied „Verlassen hab ich mein Lieb“ verarbeitet der 21-Jährige eine erste unglückliche Liebe, während er sich mit dem Duett „Ich wandre durch die stille Nacht“ op. 14,1 erstmals einem Text Joseph von Eichendorffs zuwendet, der ihn bis in sein letztes Lebensjahr inspirieren sollte. In den Charakterstücken – etwa in den „Walzercapricen“ op. 9 im „tempo betschwesterato“ – erprobt er seinen musikalischen Humor und schreibt Walzer, die den Spieler aus dem Takt bringen, während die nach dem Zwang des „einjährig freiwilligen Militärjahrs“ komponierten „Improvisationen“ op. 18 sich alle kompositorischen Freiheiten nehmen und mit einem Bravourstück „Etüde“ op. 18,8 aufwarten, das er dem berühmten Kollegen Ferruccio Busoni widmet. Nicht zuletzt verraten 110 zwei- und dreistimmige „Canons durch alle Dur- und Molltonarten“ mit satztechnischen Tricks aller Art den künftigen Kompositionslehrer, dem keine Aufgabe für seine Schüler kompliziert genug sein konnte.

Niemand wird leugnen, dass derartig aufschlussreiche Dokumente über die Entwicklung des Komponisten und Menschen Reger in das Institut gehören, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, sein Leben und Werk zu erforschen und an eine breite Öffentlichkeit zu vermitteln. Zur Realisierung des glücklichen Erwerbs aber mussten viele beitragen: Der Kulturstiftung der Länder ist zu danken, dass sie alle Betroffenen zusammenrief, das gemeinsame Vorgehen koordinierte, wichtige Verbindungen herstellte und, unterstützt von der Bayerischen Staatsbibliothek, die kulturelle Großtat zu glücklichem Ende brachte. Mit ihr zusammen förderten auch das Land Baden-Württemberg, die Wüstenrot Stiftung, der Arbeitskreis selbständiger Kultur-Institute e.V. und viele private Spender großzügig den Ankauf, denen allen das Max-Reger-Institut zu großem Dank verpflichtet ist.

Max Reger, Manuskriptseite aus den Improvisationen op. 18 für Klavier, Nr. 8 Etude brillante, 1897; Max-Reger-Institut, Karlsruhe
Max Reger, Manuskriptseite aus den Improvisationen op. 18 für Klavier, Nr. 8 Etude brillante, 1897; Max-Reger-Institut, Karlsruhe

Die neuen Schätze werden nicht im Depot verschwinden: Vom 10. September bis 28. Oktober 2015 werden sie in einer Ausstellung „Neue Fülle“ (nach einem Liedertext Stefan Zweigs) in der Badischen Landesbibliothek in Karlsruhe zu bewundern sein, die zusammen mit einer interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung „hinübergetragen durch die Zeit…“ (so erinnert sich Stefan Zweig in „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers“ an Regers Vertonungen) und zwei Liederabenden der renommierten Interpreten Markus Schäfer und Markus Becker sowie Frauke May und Bernhard Renzikowski am 23. und 24. September 2015 den Auftakt zum zweiten Modul der hybrid angelegten Reger-Werkausgabe gibt, die alle verfügbaren Quellen der Lieder und Chöre in digitalisierter und vernetzter Form herausbringt. Die Weichen für die angestrebte „bestmögliche Nutzbarkeit für die Wissenschaft“, die die Verteilung der Schott-Archivalien auf die verschiedenen Sammlungen leitete, sind gestellt und werden Regers frühe Werke aus unverdienter Vergessenheit holen.