Die Idee einer Kulturstiftung – Der Briefwechsel zwischen Willy Brandt und Günther Grass
Die Vorgeschichte der Kulturstiftung der Länder reicht weit zurück bis in die frühen 70er Jahre. Damals begann im Bundestag eine Debatte über die Gründung einer auf nationaler Ebene tätigen Stiftung, die Kunst und Kultur fördert. Eine Debatte, die sich über anderthalb Jahrzehnte hingezogen hat. Drei Bundeskanzler, fünf Bundesregierungen und unzählige Landesregierungen waren damit befasst und sogar ein Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika hat sich dazu geäußert. Wir haben einmal die Bundestagsprotokolle dieser Jahre gesichtet.
Ihren Anfang nahm die Diskussion mit der Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt vom 18. Januar 1973: „Für alle Kunst ist der Weg in die Politik kürzer geworden, und das ist gut so. Es würden sich, wie ich meine, meine Damen und Herren, viele Träume erfüllen lassen, wenn eines Tages öffentliche und private Anstrengungen zur Förderung der Künste in eine Deutsche Nationalstiftung münden könnten!“
Was Willy Brandt in seiner Regierungserklärung über seine Idee einer Deutschen Nationalstiftung sagt, klingt fast beiläufig. Es geht um Träume, nicht etwa um eine weitere große Linie für das Regierungshandeln des zweiten sozialliberalen Kabinetts, die Brandt zuvor in seiner Rede gemalt hat. Und es klingt weniger wie die Formulierung einer entschlossenen Vision, eher wie eine dahingeworfene Idee, auf deren Konkretisierung er gerade mal zwei weitere Sätze verwendet: „Ansätze dazu böte die Stiftung preußischer Kulturbesitz, an der neben dem Bund Bundesländer beteiligt sind. In einer Nationalstiftung könnte auch das lebendige Erbe ostdeutscher Kultur eine Heimat finden.“
Die Stiftung Preußischer Kulturbesitz als Vorbild! 1957 war die – zehn Jahre nach Auflösung des Staates Preußen – gegründet worden, um das Eigentum an den bedeutenden öffentlichen Sammlungen des einstigen Staates Preußen neu zu regeln. Dieses Eigentum war 1957 der von Bund und Ländern zu tragenden Stiftung Preußischer Kulturbesitz übertragen worden.
Eine solche Stiftung könne sich, so Brandt – auch aber nicht nur – dem lebendigen ostdeutschen Kulturerbe widmen. Mit „ostdeutsch“ dürfte Brandt nicht nur die DDR gemeint haben, die er in seiner Rede durchgängig als DDR bezeichnete. Vielmehr ging es hier um jene Gebiete, die infolge des Zweiten Weltkriegs nicht mehr zur Bundesrepublik Deutschland gehörten.
Die Idee einer Deutschen Nationalstiftung, die Willy Brandt in seiner Regierungserklärung aus dem Januar 1973 skizziert, geht zurück auf eine Korrespondenz, die er bereits seit acht Jahren mit dem Schriftsteller Günther Grass pflegt. Grass, ein Bewunderer und seit 1961 Wahlkämpfer Brandts, mittlerweile mit ihm per „Du“, hatte Brandt bereits zwei Jahre zuvor geschrieben:
„Die ehemaligen Flüchtlinge aus Ostpreußen, Schlesien, Pommern und Danzig saßen nach bisheriger Politik, obgleich wirtschaftlich fest integriert in der Bundesrepublik, immer noch abrufbereit auf dem Koffer. Die gelegentlich von Seiten der CDU/CDU gegebenen Versprechen, eine Rückkehr in die verlorenen Provinzen sei möglich, erlaubte es besonders den älteren ehemaligen Flüchtlingen nicht, in der Bundesrepublik heimisch zu werden. Umso schlimmer wird es für diese alten Menschen sein, wenn ihnen nun, 25 Jahre nach Kriegsende, die letzte Illusion genommen wird, d.h. wenn sie und nahezu ausschließlich sie, die eigentlich Betroffenen des ausgesprochenen Verlustes sein werden, und sich nichts außer dem üblichen Lastenausgleich abzeichnet, das ihren Verlust, nämlich platterdings den Verlust der Heimat, auch nur annähernd ersetzen könnte.
Das so entstehende Gefühl der Enttäuschung, auch der Leere und Sinnlosigkeit kann sich auswachsen zu einem Vakuum, das dann neuerdings durch demagogischen Nationalismus ausgefüllt werden könnte.“
Den Brief hatte Grass im Februar 1970 geschrieben in einem Deutschland, das im Zeichen der Entspannungspolitik der ersten sozialliberalen Koalition stand. Kurz zuvor hatte die Bundesrepublik mit der Sowjetunion und Polen Gespräche über zwei Gewaltverzichtsverträge aufgenommen. Noch im gleichen Jahr sollten der Moskauer Vertrag und der Warschauer Vertrag unterzeichnet werden. Darin werden sich Deutschland mit der Sowjetunion und Polen auf Gewaltverzicht und die Unverletzlichkeit der deutsch-deutschen Grenze und der Grenze zwischen Polen und der DDR einigen.
In der Bundesrepublik sind die Ostverträge heftig umstritten. Die Vertriebenenverbände kritisieren die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze. Im Bundestag beschränkt sich der Widerstand nicht nur auf die oppositionelle CDU/CSU-Fraktion, die von einem „Ausverkauf deutscher Interessen“ spricht. Mehrere Abgeordnete wechselten aus Protest gegen die Ostpolitik Brandts ins Unions-Lager.
Als im Frühjahr 1972 die Ratifizierung der Ostverträge im Deutschen Bundestag ansteht, ist die Regierungsmehrheit dahin. Die CDU/CSU-Opposition sieht ihre Chance gekommen, mit einem konstruktiven Misstrauensvotum die Regierung abzulösen und so die anstehende Ratifizierung der Verträge zu verhindern. Das Misstrauensvotum scheitert; wie sich später herausstellt, hatte die Stasi einen, wahrscheinlich zwei Abgeordnete für ihre Stimmabgabe zugunsten der Ostverträge gekauft. Beide Verträge werden schließlich am 17. Mai 1972 im Bundestag ratifiziert.
Zwei Tage darauf – am 19. Mai 1972 – schlägt Günther Grass in einem Brief an Willy Brandt eine auf nationaler Ebene tätige Stiftung zur Förderung von Kunst und Kultur vor:
„Jetzt, zwei Tage nach der Ratifizierung der Ostverträge, komme ich noch einmal mit einem Vorschlag, den ich schon zu Beginn der Legislaturperiode, damals einer Entwicklung vorbeugen wollend, gemacht habe: Ich schlage vor, aus Bundesmitteln eine Stiftung zu machen, die sich die Aufgabe stellen sollte, die verstreuten, laienhaft verwalteten Kulturgüter der verlorenen Ostprovinzen zu sammeln und sie in wissenschaftliche Obhut zu nehmen. Ich schlage vor, von Anbeginn mit polnischen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten und so auch hier dem Deutsch-Polnischen Vertrag Inhalt zu geben. Ich schlage vor, diese Stiftung großzügig zu planen, sie modern und offen zu gestalten, sie in Berlin anzusiedeln.“
Der Heimatverlust, den der gebürtige Danziger mit anderen deutschen Autoren wie Siegfried Lenz oder Johannes Bobrowski teilte, war für Grass ein zentrales Motiv, das sich durch sein gesamtes literarisches Schaffen zieht. Ihm ging es schon früh darum, die Kultur der im Zweiten Weltkrieg „verlorenen Gebiete“ weiterleben zu lassen. So schreibt Grass weiter:
„Weil Du zu Recht wiederholt darauf hingewiesen hast, dass die Flüchtlinge aus den verlorenen Ostprovinzen zusätzlich für den verlorenen Krieg bezahlt haben, ist, nach Verabschiedung der Verträge, eine besondere Anstrengung der bundesdeutschen Gesellschaft notwendig (wenn es zur Finanzierung der Olympiade eine Fernseh-Lotterie gibt, warum dann nicht eine für die von mir vorgeschlagene Stiftung). Ein Volk, das durch Krieg und Kriegsschuld mehr als drei Provinzen verliert, ist geschlagen und hat Verlust erlitten; ein Volk jedoch, das aus freien Stücken darauf verzichtet, einen Teil der kulturellen Substanz jener verlorenen Provinzen zu sammeln, zu retten und abseits vom üblichen musealen Denken andernorts öffentlich, das heißt weiter wirksam zu machen, ein solches Volk versagt erbärmlich vor sich und seiner eigenen Kultur.
Nachdem Willy Brandt in seiner Regierungserklärung vom 18. Januar 1973 die Idee einer Nationalstiftung geäußert hatte, folgte eine 15-jährige Debatte darüber im Deutschen Bundestag. Schon nach sechs Tagen signalisiert die Opposition Zustimmung: Richard von Weizsäcker hält die Idee für „sehr gut“. Das ist Thema des nächsten Podcasts in dieser Reihe zur Vor- und Entstehungsgeschichte der Kulturstiftung der Länder.
Alle Podcasts dieser Serie finden Sie auf der Seite Die Vorgeschichte der Kulturstiftung der Länder.