Vitruvs stiller Jünger
Der deutsche Architekt Heinz Bienefeld (1926 –1995) wurde gelegentlich als ein Vorläufer der postmodernen Baukunst bezeichnet. Das hat mit Blick auf sein Werk zwar eine gewisse Berechtigung, doch darf man ihn keineswegs als Protagonisten jener verspielten, gebrochenen und Regeln brechenden, ganz un-bauhaus-mäßigen Architektur deuten, die heutzutage das Bild der Postmoderne prägt. Dass er unmittelbar nach seinem Tod als „Architekt der Stille“ und „Baumeister der Bescheidenheit“ gewürdigt wurde, zeigt, wie fern er einem geschwätzigen Postmodernismus und einer lauten architecture parlante stand, wie fremd ihm Selbstinszenierungen waren. Sein baukünstlerisches Wirken war zunächst nahezu unbemerkt geblieben. Er war, wenn man so will, ein überzeugter und eigenwilliger, aber eben auch ein stiller Jünger Vitruvs.
Mit den Postmodernen berührt er sich in dem Bestreben, architektonische Traditionen nicht radikal zu überwinden (wie es die Moderne gefordert hatte), sondern sich ihrer kreativ zu bedienen, ohne einem allzu oberflächlichen Eklektizismus zu verfallen. Kreativität und Solidität, das waren die Standbeine, auf die er sein Werk stellte.
Die „Zehn Bücher über Architektur“, die der römische Ingenieur und Theoretiker Vitruv im ersten Jahrhundert vor Christus verfasst hatte, wirkten in der Architekturgeschichte wie kein zweites Traktat nach. Für Vitruv war der Architekt eine Person, die ihr Wissen aus „fabrica“ (Handwerk) und „ratiocinatio“ (geistiger Arbeit) schöpfte. Das trifft punktgenau auf Bienefeld zu, der selbst einer Handwerkerfamilie entstammte, sich ganz unironisch als „Detailfetischisten“ bezeichnete und überaus reflektiert an seine Entwürfe heranging. In seinem Studio befanden sich Aberdutzende von Materialproben, um deren Oberflächenwirkung beim Planen berücksichtigen zu können. Der Planungsprozess eines Bauwerks war bei ihm langwierig und durchdacht. Es wäre ihm dennoch wohl nie in den Sinn gekommen, sich selbst als Theoretiker zu versuchen. Wenn er sich zu architektonischen Grundsatzfragen geäußert hat, dann allenfalls in kurzen Interviews oder Beiträgen in Architektur-Zeitschriften.
Sein Nachlass indes spricht Bände über seine Art des planerischen und ausführenden Arbeitens. Denn so schmal auch sein Lebenswerk wirken mag – etwas mehr als drei Dutzend Wohnhäuser, ein paar Kirchenbauten, ein Kindergarten und eine Reihe kleinerer Umbauprojekte –, so akribisch ist es in Bienefelds Nachlass dokumentiert. Er umfasst weit mehr als 15.000 Zeichnungen und Skizzen sowie 52 Arbeitsmodelle, die der Architekt zumeist aus Plastilin geformt hat. Dass sich außerdem etwa 25 laufende Meter Aktenordner mit Korrespondenzen und ergänzenden Materialien zu den Bauplanungen erhalten haben, deutet auf die Sorgfalt hin, mit der Bienefeld bei jedem Projekt zu Werke ging – und teilweise auch auf die Auseinandersetzungen mit Bauherren, die nicht immer die Detailversessenheit und die Geduld des Architekten teilten.
Bienefeld, 1926 in Krefeld geboren, studierte zunächst an der Werkschule Köln bei Dominikus Böhm Sakral- und Profanbau. 1952 wurde er dessen Meisterschüler, zwei Jahre lang blieb er Böhms Assistent. Auf eine Amerika-Reise folgte die Zusammenarbeit mit Gottfried Böhm, dem Sohn des Lehrers, und mit Emil Steffann, einem weiteren ausgewiesenen Kirchenarchitekten. Seit 1963 arbeitete Bienefeld selbstständig, sein erster Auftrag war die Restaurierung der im Zweiten Weltkrieg ausgebrannten spätklassizistischen St. Laurentius-Kirche in Wuppertal. Es folgten die ersten der mittlerweile berühmten Wohnhäuser. Die Reihe beginnt mit Haus Nagel in Wesseling-Keldenich, das zwischen 1966 und 1968 erbaut wurde. Im Katalog zur Frankfurter Bienefeld-Ausstellung 1999 schrieb Ulrich Höhns zutreffend: „Aus palladianischen Proportionsschemata, funktionalem Grundriss und perfektionistischer Handwerklichkeit mit Hang zum Dekor und Ornament entstand auf kleinstem Raum ein vollkommen auf sich selbst bezogenes Haus.“ Hatte Palladio im 16. Jahrhundert die vitruvianischen Regeln souverän auf den Villenbau des Veneto übertragen, so gelang Bienefeld im 20. Jahrhundert die Verschmelzung palladianischer Ideen mit dem Funktionalismus der Moderne und einem letztlich auf das Bauhaus zurückführenden Gestaltungsideal.
Auch bei den nachfolgenden Aufträgen für private Wohnhäuser ließ sich Bienefeld immer wieder vom antiken Atriumhaus und der Renaissance-Architektur Palladios anregen, ohne auch nur ansatzweise in einen Schematismus zu verfallen. Denn er imitierte dabei nicht bloß kanonische Vorbilder oder arbeitete mit Architekturzitaten, sondern wandelte sich die überkommenen Formen in genialer, dem jeweiligen Projekt angemessener Weise an. Dabei wählte er als bevorzugten Baustoff den Ziegelstein, dessen Format unterschiedliche Möglichkeiten des Versatzes mit reicher ästhetischer Wirkung eröffnete und gleichzeitig einen überbordenden Ornamentismus verhinderte. Das ästhetische Empfinden Bienefelds und sein Drang zur Perfektion zeigen sich auch darin, dass er sich mit der Proportionslehre, der Wechselwirkung zwischen Oberfläche und Raum oder eben der Gestaltung diverser Einzelelemente auseinandersetzte: „Die meiner Meinung nach wesentlichsten Elemente der Baukunst sind einmal die Wahl der richtigen Proportionen und zum anderen das verwendete Material – genauer die von der Materialoberfläche beeinflußte Wirkung auf die Netzhaut. Der Sehvorgang ist ein sehr komplizierter. Wir nehmen nicht Einzelfaktoren nacheinander wahr und setzen sie später wieder additiv zu einem Gesamtbild zusammen, sondern das Sehen ist das gemeinschaftliche Produkt des Gegenstandes auf der einen Seite und des Lichts, der Umgebung und des Standpunktes des Betrachters auf der anderen Seite.“
Der „Detailfetischismus“ des als ganzheitlicher concepteur eines Bauwerks agierenden Architekten drückt sich im Nachlass in zahlreichen Einzelentwürfen aus. Kein Detail war ihm zu unbedeutend, als dass er sich nicht mit derselben Sorgfalt seiner Formgebung gewidmet hätte wie dem Gesamtentwurf. Türklinken, Zargen, Fensterscharniere, Treppengeländer – alles musste formal wie funktional durchdacht und ästhetisch ausgewogen sein: „Die klassische Architektur ist nur noch als Fragment möglich, denn man müßte sie mit allen Konsequenzen vollziehen; aber das übersteigt unsere heutigen Möglichkeiten. Wenn man ein Detail entwirft, muß jeder Punkt, an dem Lasten und Tragen aufeinandertrifft – Ecken, Türen, Wand, Fenster usw. –, jede Bewegungsrichtung, Beginn und Ende in einem bestimmten Verhältnis, einer bestimmten Dimensionierung ausgebildet werden. Das macht die künstlerische Arbeit aus.“
Bienefeld, so könnte man sagen, vereint in seiner Arbeit das jeweils Beste der Bewegungen der architektonischen Moderne und Postmoderne. Er praktizierte eine Architektur der Erinnerung, die ihre mediterranen Wurzeln nicht leugnet, und wendete gleichzeitig die Prinzipien der Reformarchitektur des frühen 20. Jahrhunderts an, die auf Klarheit, Lichthaltigkeit und handwerkliche Gediegenheit zielte. All dies tat er, wie gesagt, in aller Stille – und so kam es, dass sein Werk erst allmählich ins Bewusstsein der Fachöffentlichkeit rückte. Als der Bund Deutscher Architekten (BDA) 1995 beschloss, dem Architekten Heinz Bienefeld den Großen BDA-Preis zu verleihen, war dieser kurz zuvor verstorben. Die Würdigung erfolgte postum. Es entsprach wohl ganz dem Wesen und Charakter des stillen Jüngers Vitruvs, dass er erst nachträglich in eine Reihe mit Hans Scharoun, Ludwig Mies van der Rohe, Egon Eiermann, Frei Otto und Oswald Mathias Ungers gestellt wurde.
Förderer dieser Erwerbung:
Kulturstiftung der Länder