Unvergesslicher Stunden eingedenk

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Blick auf Frankfurt von der Gerbermühle aus, kolorierte Radierung von Rosette Städel mit einem Gedicht Goethes: „Also lustig sah es aus“ vom 28. August 1816; Bibliotheca Bodmeriana, Cologny / Genf

Ward es doch am Tage klar!
Neu begann’s umher zu grünen,
Nach der Nacht wo jenes Paar,
Sternengleich, uns angeschienen
Zum Andencken des 16 Aug. 1815.

Johann Wolfgang Goethe dichtete diese Verse Jahre später in Erinnerung an eine Begegnung auf der Gerbermühle bei Frankfurt, wo ihn Herzog Ernst August und Herzogin Friederike von Cumberland im August 1815 überraschend besucht hatten. Er nahm sie in das Gedicht „Wohlerleuchtet, glühend-milde … – Doch am Morgen ward es klar …“ auf, das er dem „dauernden Andenken des unerwartet beglückenden Nachtbesuchs“ des fürstlichen Paares widmete. Am 18. Juni 1826 schickte er es in eigenhändiger Reinschrift an die Herzogin, eine geborene Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz, Schwester der legendären preußischen Königin Luise und spätere Königin von Hannover.

Eine erste Gelegenheit, Friederike und ihre Schwester aus unmittelbarer Nähe zu beobachten, bot sich Goethe bereits 1793, als er mit dem Weimarer Herzog Carl August im preußischen Feldlager bei Bodenheim weilte, wo die Prinzessinnen zur königlichen Tafel geladen waren. In seinen Aufzeichnungen über die Belagerung von Mainz berichtete er darüber: „Und wirklich konnte man in diesem Kriegsgetümmel die beiden jungen Damen für himmlische Erscheinungen halten, deren Eindruck auch mir niemals verlöschen wird.“ Zur persönlichen Bekanntschaft kam es dann im Juli 1806 während Goethes Kur in Karlsbad. In den folgenden Jahren begegneten sich Goethe und Friederike wiederholt in den böhmischen Bädern, und zwischen ihnen entstand eine freundschaftliche Beziehung.

Den vorliegenden Gedichtentwurf hob Goethe zeitlebens unter seinen Papieren auf. Nach seinem Tod gelangte er in die Obhut seines Sekretärs und Vertrauten Johann Peter Eckermann, der noch von Goethe selbst mit der Edition des Nachlasses betraut worden war. Anlässlich der Verleihung der hannoverschen Königswürde an Friederike im Jahr 1837 nahm Eckermann als „geborener Hannoveraner“, wie er sich selbst bezeichnete, die Gelegenheit wahr, das Blatt zusammen mit seiner jüngst erschienenen Ausgabe der „Gespräche mit Goethe“ der von ihm ebenfalls verehrten Friederike zu schenken. Die Briefe Eckermanns an sie enthalten Belege dafür, dass er seine große Verehrung für die Königin wiederholt durch die Schenkung von Autographen aus dem Nachlass des Dichters zum Ausdruck brachte. Mit Briefsendungen an Friederike und weiteren Dokumenten aus Goethes engstem Umkreis ist so im Laufe der Zeit ein einzigartiges Konvolut entstanden, das später in der Familienbibliothek der Welfen auf Schloss Cumberland bei Gmunden aufbewahrt wurde. Zur großen Überraschung von Goethe-Kennern ist das Konvolut in diesem Jahr auf dem Autographenmarkt angeboten worden. Dank schnellen Handelns und großer Unterstützung von vielen Seiten gelang es dem Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar, die geschlossene Sammlung zu erwerben. Der Ankauf ist umso erfreulicher, als dadurch verhindert wurde, dass die ihrer Provenienz nach zusammenge­hörenden Stücke unwiderruflich zerstreut wurden.

Von herausragender Bedeutung im Range nationalen Kulturguts sind neben zwei Briefen des Dichters an Friederike die insgesamt sechs eigenhändigen Gedichthandschriften. Allen voran ist Goethes Gedicht „Im Nahmen dessen der Sich selbst erschuf …“ als ein Beispiel für seine Weltanschauungslyrik zu nennen. Das auf „März 1816“ datierte Blatt ist die einzige überlieferte Handschrift des Dichters von diesen Versen. Goethe hat mit diesem Gedicht 1817 seine Zeitschrift „Zur Naturwissenschaft überhaupt“ eröffnet und es später im dritten Band seiner Ausgabe letzter Hand an den Anfang der Gruppe „Gott und Welt“ gestellt. Der Weimarer Ausgabe von Goethes Werken war das Autograph nicht bekannt, wie Abweichungen in der Text­gestalt zwischen Druck und Handschrift belegen.

Auch die anderen vier eigenhändigen Gedicht­handschriften („Vom Himmel steigend Jesus brachte“, „Frage nicht durch welche Pforte“, „Hochländisch“ und „Fehlt der Gabe gleich das Neue“) sind neben dem bereits erwähnten Gedichtentwurf großartige und repräsentative Beispiele für das poetische Schaffen Goethes, sowohl inhaltlicher Natur – von der Gelegenheitslyrik über sein Übersetzungswerk und seine Weltanschauungsgedichte bis hin zum „West-östlichen Divan“ – als auch in Hinsicht auf den Schreibprozess Goethes von der Entwurfshandschrift mit Ergänzungen und Korrekturen bis hin zur Reinschrift. Darüber hinaus sind sie von grundlegender Bedeutung für die noch ausstehende neue Edition der Gedichte Goethes.

Neben den Gedichten enthält die Sammlung zwei von höchster persönlicher Wertschätzung zeugende Briefe Goethes an Friederike. In seinem Brief vom 30. Dezember 1811 von der Hand seines Sekretärs Riemer bedankte sich der Dichter für einen Brief Friederikes vom 11. November dieses Jahres, der sich in Goethes Nachlass erhalten hat. Friederike hatte ihm mitgeteilt, dass sie ­seit ihrer letzten Begegnung in Teplitz „unvergesslicher ­Stunden eingedenk“ Goethes „Pandora drey mal wieder gelesen habe“. In seinem Schreiben bat der Dichter Friederike darum, ihr „unschätzbares Schreiben als die schönste Zierde“ in seine Sammlung aufnehmen zu dürfen. Zu Neujahr 1812 fügte er dem Brief noch ein eigenhändiges Begleitschreiben hinzu, in dem es heißt: „Ew Hoheit verzeihen gnädigst wenn beyliegendes von einer fertigeren Hand als die meinige geschrieben sich darstellt. Der Schreiber Dr Riemer empfielt sich zu Gnaden und findet sich glücklich bey dieser unterthänigsten Neujahrs Aufwartung seine aufrichtigen Glückwünsche mit den meinigen verbinden zu dürfen. Unwandelbar Ew Hoheit geeignet. W. d. 1 Jan 1812. Goethe“.

Der Brief gehört zusammen mit Goethes Brief vom 16. Februar 1827 zu insgesamt sechs überlieferten Briefen des Dichters an Friederike, über deren Verbleib seit Jahrzehnten nichts mehr bekannt war. Einen weiteren Brief Goethes an Friederike konnte das Archiv bereits 2001 erwerben, ein anderer befindet sich heute in Krakau, von den übrigen zwei Briefen fehlt nach wie vor jede Spur. Da die Ausfertigungen der neu erworbenen, sehr inhaltsreichen Goethe-Briefe den Bearbeitern der Weimarer Ausgabe nicht vorgelegen haben, konnten sie dort nur nach dem Konzept gedruckt werden. Der Erwerb der beiden Briefe für das Goethe- und Schiller-Archiv ist daher ein unschätzbarer Gewinn, da er die Möglichkeit bietet, die Brieftexte in der hier entstehenden historisch-kritischen Edition sämtlicher Briefe Goethes nach der Ausfertigung zu drucken.

Insgesamt ist die neu erworbene Sammlung von Goethe-Autographen von höchstem Rang, indem sie den in Weimar als UNESCO-Weltkulturerbe aufbewahrten Dichternachlass in besonders glücklicher Weise ergänzt und Lücken schließt, die Eckermann mit der Schenkung der Autographen an die Königin Friederike gerissen hat.