Thema Archive und Selbstzeugnisse ⁄ Berlin

Unumkehrbar!

Paul Mellenthin im Gespräch mit Michael Hollmann, dem Präsidenten des Deutschen Bundesarchivs, über Geschichte in Fahrtrichtung und die Zukunftsressource Archiv Fotografien von Maurice Weiss

Preußische Backsteinkasernen verbinden sich nahtlos mit einer modernen Glasfassade. Die visuelle Nachbarschaft von Vergangenheit und Gegenwart in der Architektur des Standorts Berlin-Lichterfelde verweist unmissverständlich auf den Auftrag des Bundesarchivs: Hier wird Geschichte erforscht, hier arbeitet, wer künftig die Vergangenheit Deutschlands mitformulieren möchte.

Als Institution mit gesetzlichem Auftrag hat das Bundesarchiv eine wichtige Aufgabe zu bewältigen: Es gilt, die gesamten zentralstaatlichen Überlieferungen des Deutschen Reiches von 1867/71 bis 1945, der DDR von 1945 bis 1990 und der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 zu sichern. Vor kurzem hat das Archiv auch die Unterlagen der Stasi übernommen, des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der DDR. Damit zählt das Bundesarchiv zu einer der größten Kultur- und Gedächtniseinrichtungen der Welt. Über 540 Kilometer Akten, 150.000 Spiel- und Dokumentarfilme, mehr als 15 Millionen Fotografien und mittlerweile nur noch in Petabyte zu messende digitale Bestände machen das Bundesarchiv zu einem wahren Giganten seiner Art. Diese schier unüberschaubare Sammlung ist das Material, aus dem Geschichte gemacht wird – aber immer mit Blick nach vorne, „in Fahrtrichtung“, wie Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs, im Interview mit Arsprototo betont. Das Archiv ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie Kultur und Wissenschaft zusammenkommen, um das kollektive Gedächtnis unseres Landes zu gestalten

Paul Mellenthin: Herr Hollmann, Sie sind seit über einem Jahrzehnt, genauer gesagt seit 2011, Präsident des Deutschen Bundesarchivs. Wenn Sie heute zurückblicken, würden Sie wieder Archivar werden?

Michael Hollmann: Ja, ich würde wieder Archivar werden. Schon während meines Studiums habe ich bewusst ein Dissertationsthema gesucht – angeregt durch Urkundenübungen –, das mich durch viele Archive geführt hat. Der praktische Umgang mit Archivgut hat meine Faszination für Quellen sehr verstärkt. Allerdings fasziniert mich nicht unbedingt nur das herausgehobene Einzelstück im Sinne einer „archivalischen Nofretete“, sondern das Dokument, das Foto, die Karte in ihren Überlieferungskontexten. Aber natürlich gibt es auch im ­Archiv vergleichbare Solitäre. Wenn man in Wien die Goldene Bulle von 1356 oder im ­Bundesarchiv ein Exemplar von „Schindlers Liste“ in der Hand hält, weht einen schon Geschichte an.

Welche Rolle spielt Geschichte in Ihrem Leben? Sie haben in Mainz Germanistik und Geschichte studiert. Wie hat Sie das auf die Arbeit im Archiv vorbereitet?

Geschichte gibt meinem Leben eine Tiefendimension. Wenn ich Urlaub mache, möchte ich z. B. wissen, wer an diesem Ort im Mittelalter das Sagen hatte, zu welchem Bistum der Ort gehörte, welcher Fürst da regiert hat; später dann, ob das eine evangelische oder eine ­katholische Gemeinde war und wie sich das Gemeinwesen im 19. Jahrhundert entwickelt hat. Deshalb erhält ein Spaziergang durch eine Stadt für mich eine vierte Dimension, einen Blick hinter die Fassaden. Zu meinen Studienzeiten lehrte der Historiker ­Winfried Baumgart in Mainz; sein Bücherverzeichnis zur Deutschen Geschichte war damals allen Geschichte Studierenden ein wichtiges Hilfsmittel. Baumgart war und ist ein Historiker, der eine besondere Begeisterung für Quellen weitergeben kann. Wir hatten Spaß daran, Urkunden und Akten zu lesen und in ihnen den besonderen Pfiff zu finden, um festzustellen: Das ist die Geschichte, die man damit erzählen kann.

Allerdings habe ich heute dafür nur noch wenig Zeit. Das Bundesarchiv ist mittlerweile eine Einrichtung mit 2.300 Kolleginnen und Kollegen an derzeit 24 Standorten. Was da regelmäßig an Verwaltungstätigkeit aufläuft, ist schon tagesfüllend.

Nun besteht die Grundgewissheit des positivistischen Historikers seit den 1960er-Jahren vielleicht nicht mehr in derselben Weise fort. Mit Michel de Certeau und Michel Foucault ging man dazu über, den Status von Quellen neu zu bewerten und auch das Archiv als eine eigene Schrift mit Syntax und Ideologie zu lesen. Verfügt das Bundesarchiv über eine solche Syntax?

Ich persönlich habe ein anderes Archivbild, das sich stärker an der konkreten Institution orientiert. Daher halte ich die Verunklarung des Archivbegriffs im Anschluss an Foucault für problematisch. Und von einer Syntax des Archivs würde ich nicht sprechen. Aber dennoch ist der Vergleich von Archiv und Sprache unter systematischen Aspekten interessant. Wie die Wörter einer Sprache müssen auch die Quellen in einem Archiv in einem kommunikativen Kontext gesehen werden. Zum Verständnis einer Quelle gehört, ihren Entstehungszusammenhang zu kennen, die spezifischen Kontexte der Aufzeichnung und Mitteilung zu analysieren. Diese kritische Betrachtung von Quellen ist die Voraussetzung dafür, der hinter ihnen liegenden vergangenen Wirklichkeit auf die Spur zu kommen.

Aber der Vergleich hat auch seine Grenzen. Es würde zu weit gehen, dem Archiv oder auch nur einem Archiv eine so durchgehende Logik zu unterstellen, wie es das Bild einer Syntax nahelegt.

Im Archiv bemühen wir uns darum, dass mit der Überlieferung von Archivgut, die notwendig einen Auswahlprozess voraussetzt, kein Corpus von Traditionsquellen entsteht, denen ein bestimmtes inhaltliches Überlieferungsinteresse zu Grunde liegt. Vielmehr soll der Überrest-Charakter der archivischen Quellen weitestgehend erhalten bleiben. Nur so bleibt das Archivgut insgesamt deutungsoffen.

Was ist konkret die Zuständigkeit des Bundesarchivs?

Wir sind zuständig für die Bundesregierung und die Bundesverwaltung. Das ist ein Riesending angesichts der Tatsache, dass da das Bundeskanzleramt, (derzeit) 15 Bundesministerien, das Bundesverfassungsgericht und die obersten Bundesgerichte sowie in der Summe deutlich über 50 Bundesbehörden dranhängen. Über das Bundesarchivgesetz sind wir mit diesen Behörden fest verbunden. Alle diese Institutionen dürfen ihre Unterlagen nicht einfach entsorgen, wenn sie diese nicht mehr benötigen. Vielmehr müssen sie alle Unterlagen zunächst dem Bundesarchiv zur Übernahme anbieten. Aus dieser kaum überschaubaren Menge versuchen wir, ein zugängliches Quellen­corpus zu formen, das ein Maximum an Information mit einem Minimum an ­Archivgut garantiert. Es ist ein Urwald an Überlieferung, der uns Tag für Tag angeboten wird. Aus diesem Urwald machen wir durch die archivische Bewertung und Erschließung einen Staatsforst, durch den man durchkommen und den man auch nutzen kann.

Um im Bilde zu bleiben: Wie wird der einzelne Baum, das einzelne Blatt ausgewählt? Wie wird über Relevanz entschieden und wer entscheidet?

Komplexität wird durch Formalisierung reduziert. Wir erhalten jedes Jahr allein aus den Bundesministerien zwischen fünf und sechs Kilometern Akten. Wenn die verantwortliche Abteilung mit weniger als 50 Archivarinnen und Archivaren das alles im Einzelnen in den Blick nehmen sollte, könnte sie das nie bewältigen. Wir berücksichtigen deshalb die angebotenen Unterlagen grundsätzlich nur dann, wenn sie bei der zuständigen Institution entstanden sind. Das heißt, wir nehmen nach dem Provenienz- und Zuständigkeitsprinzip die Unterlagen nur aus den jeweils zuständigen Ministerien und Behörden sowie aus dem Kanzleramt als der übergeordneten Stelle in der Bundesregierung. Alle weiteren Akten aus anderen Behörden werden wir in der Regel vernichten. So können wir die zu überliefernde Archivgutmenge überschaubar halten und gleichzeitig sicherstellen, dass der Gesellschaft keine wesentlichen „Erinnerungslücken“ entstehen.

Das bedeutet, dass das Bundesarchiv die Arbeit, die Vorgänge und die Entscheidungen auf Bundesebene dokumentiert, indem es bestimmte „Überreste“ aufbewahrt. Gibt es auch Lücken, nach denen Sie suchen? Gibt es Fehlstellen, bei denen Sie zurückgehen und prüfen, ob Ihnen etwas durch die Lappen gegangen ist?

Ja, das gibt es. Ich möchte ein Beispiel geben: Als ich vor 34 Jahren im Bundesarchiv angefangen habe, war es für meine Kolleginnen und Kollegen völlig klar, dass man Eingaben aus der Bevölkerung kassiert. Es interessierte, dass und wie eine Behörde gearbeitet hat, nicht was die Bürgerinnen und Bürger darüber dachten. Diese sehr etatistische Grundhaltung hat sich glücklicherweise in den letzten Jahren deutlich geändert. Heute würden wir überhaupt nicht mehr auf die Idee kommen, Eingaben aus der Bevölkerung zu kassieren. Im Gegenteil: Wir haben erkannt, dass dies eine besonders wichtige Quellengattung ist. Wir erhalten aus Bürgerbriefen eine Menge Resonanz auf das, was die Politik macht, wie man Politik wahrnimmt und wie Politiker empfunden werden. Das sind Quellen, nach denen wir heute bewusst suchen würden.

Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie auch für die Überlieferungen des Finanzamts zuständig sind? Muss ich befürchten, dass meine persönliche Steuergeschichte Teil des Bundesarchivs ist oder wird?

Im Archiv gibt es eine Regel, die besagt, dass massenhaft gleichförmige Unterlagen der sogenannten Leistungsverwaltung nur in einer zufälligen Auswahl überliefert werden. Diese überaus sinnvolle Regel gilt auch für Steuerunterlagen, die freilich nicht im Bundesarchiv, sondern in den Landesarchiven archiviert werden. Vor 40 Jahren hätten wir dieses Prinzip grundsätzlich auf alle massenhaft auftretenden Akten angewendet. Damals hätten viele Kolleginnen und Kollegen auch im Fall der Akten zum Lastenausgleich, der Unterlagen der früheren Wehrmachtsauskunftsstelle und auch der Stasi-Unterlagen für die Bildung sehr überschaubarer Samples votiert. Auf diese Idee würden wir heute gar nicht mehr kommen. Nicht zuletzt infolge der biografisch-persönlichen Wende, die die Geschichtswissenschaft im Archiv genommen hat, würde man heute nicht mehr rein aus Prinzip versuchen, die Überlieferungsmenge schmal zu halten.

Es gibt neben der DDR weitere Themen in der aktuellen Geschichtsschreibung, die über eine besondere Archivrelevanz in Deutschland verfügen, z. B. die südafrikanische Apartheid. Gibt es im Bundesarchiv das Potenzial, dass man zu diesem Gebiet forscht?

Ja, das ist durchaus möglich, auch wenn hier eine der wenigen Durchbrechungen der Zuständigkeit des Bundesarchivs zur Sprache kommt. Wenn ich eben gesagt habe, dass wir für die Bundesregierung, ihre Vorgängerinstitutionen und die Bundesministerien zuständig sind, dann war das eine legalistische Aussage. Das Auswärtige Amt ist das „gallische Dorf“ unter den Bundesministerien. Weil auch aktuelle Außenpolitik immer wieder auf geschichtliche Vorgänge zurückgreift, liegen die Unterlagen der Auswärtigen Ämter – und zwar seit Bismarck und damit auch die des Ministeriums des Auswärtigen der DDR – weitestgehend nicht im Bundesarchiv. Wir haben bei uns vor allem zwei außenpolitische Überlieferungsstränge: zum einen die Unterlagen der Reichskanzlei beziehungsweise des  Bundeskanzleramtes, die immer in der Außenpolitik eine besondere Rolle gespielt haben, und zum anderen mit Blick auf die DDR die Überlieferungen der Sozialistischen Einheitspartei und mittlerweile auch der Stasi.

Interessieren sich die Benutzerinnen und Benutzer vor allem für die Akten aus der DDR? Oder welche Bereiche werden bei Ihnen besonders häufig nachgefragt?

Wir haben immer noch einen deutlichen Schwerpunkt in der Nutzung von Unterlagen des Dritten Reiches, insbesondere im Bereich des Zweiten Weltkrieges und des Holocausts. Dieses Thema hat weltweit Relevanz und führt nach wie vor eine globale Nutzerschaft ins Bundesarchiv. Wichtige Quellen wurden in der Edition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933 – 1945“ veröffentlicht. Aber der Umfang unserer Bestände ist grenzenlos – und damit auch die Möglichkeit, die historischen Ereignisse gegen den Strich zu lesen und neu zu verstehen. In den ersten Jahren verfügte das Bundesarchiv hauptsächlich über Verwaltungsakten, so dass die Forschung sich lange vorrangig mit dem Dritten Reich und seiner Organisation, seinen Behörden und dergleichen beschäftigt hat. Der größte Teil der personenbezogenen Akten, etwa aus dem Berlin Document Center und der Wehrmachtsauskunftsstelle, kam erst Mitte der 1990er-Jahre und später hinzu. Dies führte zu einer Art personal turn, so dass viele Themen neu angegangen und Fragen neu gestellt wurden. So lässt sich nach der „Medizin im Dritten Reich“ nun auch das Thema „Ärzte im Dritten Reich“ auf breiter Quellenbasis erforschen. Man kann die Komponente der Menschen, insbesondere der Täter, mittlerweile besser darstellen.

Ist das Bundesarchiv denn ein Ort der Stabilität oder im Gegenteil eher ein Ort der Unbehaglichkeit? Birgt das Archiv womöglich Gefahren, Unsicherheiten und Ambivalenzen?

Schaut man sich an, was in den letzten Jahren mit der Behördenforschung über die Kontinuitäten – sowohl personell als auch mental – zwischen dem Dritten Reich und der frühen Bundesrepublik herausgekommen ist, wird klar, dass das Bundesarchiv durchaus Unruhe produzieren kann. Anhand der archivalischen Quellen kann man ziemlich gut herausarbeiten, wie sich der Übergang vom Dritten Reich und der NS-Ideologie zur Bundesrepublik und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung vollzogen hat. Man wird dabei immer noch auf so manche irritierende Kontinuitätslinie stoßen.

Dennoch führen diese Diskussionen meines Erachtens nicht zu einer Infragestellung der Bundesrepublik. Ganz im Gegenteil wirkt eine offene Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte auf der Basis gesicherter archivalischer Quellen stabilisierend auf unsere Gesellschaft. Denn hier wird deutlich, dass wir kein Staatsarchiv sind, das nur überliefert und bereitstellt, was der Regierung genehm ist und ein bestimmtes offizielles Narrativ verstärkt. Jede und jeder kann zu uns kommen und sich an den Akten – im Rahmen der gesetzlichen Zugangsregeln – ein eigenes Bild der Geschichte erarbeiten und die Narrative anderer überprüfen. Wir stellen sicher, dass der Staat in einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung kein Monopol über historisches Wissen gewinnen kann. Im Bundesarchiv wird nichts unter den Teppich gekehrt. Auf diese Weise sichert es das Grundrecht der Meinungs- und Informationsfreiheit und stützt unsere freiheitlich-demokratische Grund­ordnung.

Ist das Bundesarchiv also ein Ort, der gesellschaftliche Veränderungen möglich macht? Im aktuellen Diskurs ist immer wieder die Rede von der Zukunftsressource Archiv.

Ich denke, die archivarische Arbeit des Sicherns wäre weitgehend sinnlos ohne die Option der Bereitstellung. Wir wollen das Archivgut potenziell für unbegrenzte Zeit sichern, obwohl das ein Riesenproblem ist – alles Material ist vergänglich. Deshalb suchen wir ständig nach neuen Methoden und Möglichkeiten. Wenn wir am Ende die Dokumente nicht mehr sichern können, weil die Originale einfach zerfallen, versuchen wir wenigstens, die Informationen über eine möglichst gute Reproduktion zu retten. Dafür bietet sich heute die Digitalisierung an. Ja, wir verstehen uns als Ressource für die Zukunft.

Bevor wir abschließend auf die Digitalisierung zu sprechen kommen, möchte ich noch einmal kurz auf die Bereitstellung zurückkommen. Denn Bereitstellung erfordert Ordnung und Systematik, was wiederum Möglichkeiten als auch Einschränkungen schafft. Wie ist das Bundesarchiv geordnet?

Das Bundesarchiv folgt, wie alle Staatsarchive in Europa, dem Provenienzprinzip als oberstem Grundsatz. Das bedeutet, dass Unterlagen in ihren Entstehungskontexten verbleiben. Vor 250 Jahren herrschte noch das Pertinenzprinzip vor, bei dem alle Akten und Urkunden – z. B. zu einem bestimmten Dorf – zusammengeführt wurden, egal woher sie kamen. Damit konnte man sich über das Dorf informieren. Sobald man aber an größeren Zusammenhängen interessiert war, stand man vor großen Problemen. Wenn wir jedoch die Unterlagen in ihrem Kontext belassen, brauchen wir im Prinzip nur der Rationalität der Behörde zu folgen, Unterlagen in einer bestimmten Art und Weise zu sichern. Daher wird der Beruf des Archivars trotz aller Digitalisierung auf Dauer nicht unnötig werden. Denn es ist eine Leistung, den Perspektivwechsel mitzumachen und den Nutzern zu helfen, die Quellen in deren eigener Rationalität zu verstehen. Dadurch können wir Geschichte nicht immer nur im Rückspiegel sehen, sondern auch in Fahrtrichtung. Wenn wir uns in die Perspektive derjenigen hineinversetzen, die die Dokumente produziert haben, ja nicht um Geschichte zu schreiben, sondern um ihre derzeitige Arbeit zu organisieren, können wir frühere Rationalitäten verstehen.

Im Rückspiegel nehmen wir die Dinge aber häufig auch anders und distanzierter wahr. Führt diese Per­spektive nicht auch zu Problemen?

Ja, das kann durchaus ein Problem sein, denkt man z. B. an das Wording. Wir greifen nicht unnötig in die Quellensprache ein, weil die Sprache der Quellen selbst Quelle ist. Daher können unsere Erschließungsinformationen bisweilen auch irritierend sein. Wenn also die Frage aufkommt, warum in den Erschließungsdaten zum Reichskolonialamt in Einzelfällen von „Negern“ die Rede ist, liegt das daran, dass dieses Wort zeitgenössisch eine bestimmte Bedeutung und somit Konnotationen hatte, die verlorengehen, wenn wir es in unseren Findmitteln durch nicht diskriminierende Begriffe ersetzen.

Sie beziehen sich zwar auf den historischen Kontext, verwenden aber die ursprüngliche Bezeichnung weiter, auch wenn diese heute zu Irritationen führen kann?

Ja, wir wollen aber nicht provozieren, sondern versuchen, den Kontext quellennah wiederzugeben. Ein weiteres Beispiel ist die Verwendung des Wortes „Reichskristallnacht“. Diese Bezeichnung der Novemberpogrome von 1938 ist zeitgenössisch, auch wenn sie heute als zynisch und verharmlosend bewertet wird. Aber der heute oft verwendete Terminus „Reichspogromnacht“ ist eine Neuschöpfung und suggeriert nur Historizität; in den Quellen wird man ihn nicht finden.

Einerseits hat sich die Sprache verändert, aber andererseits hat sich heute auch die Art und Weise verändert, wie wir nach Dingen suchen. Wäre es in Zukunft denkbar, dass man im Bundesarchiv wie mit Google sucht? Oder ist das sogar schon zu kurz gedacht? Erwartet man nicht bereits, dass die Antworten selbst aus dem Archiv heraus generiert werden können?

Man muss sich noch einmal unsere Größe vor Augen führen: Wenn wir nur unsere Akten hochkant mit ihren dünnen Seiten aneinanderreihen, bilden sie eine Strecke von 540 Kilometern Akten – die Fahrstrecke von Berlin bis fast nach Köln. Das alles zu digitalisieren und dann so aufzubereiten, dass eine künstliche Intelligenz damit arbeiten kann, ist mehr als eine Lebensaufgabe. Das wird uns in den nächsten Jahren stark beschäftigen. Wir haben allerdings bereits erste Erfolge erzielt, indem wir die Akten des Reichskolonialamts digitalisiert haben und dann von einer Künstlichen Intelligenz so aufbereiten ließen, dass die KI mithilfe meiner Kolleginnen und Kollegen in mehreren Wochen die Handschriften lesen gelernt hat. Unser Ziel ist, mit einer einfachen Suchschlitz-Eingabe z. B. nach Namen in den Digitalisaten der Originalakten suchen zu können. Die Maschine muss dann von sich aus „überlegen“, wie dieser Name in der Schrift des späten 19. Jahrhunderts aussehen könnte, damit sie in den Dokumenten nach diesen Zeichenketten suchen kann. Das setzt zwar im Moment immer noch sehr viel Menschenarbeit voraus, aber das Verfahren wird für das Finden von Dokumenten und von Informationen enorm wertvoll sein.

Steht die Zukunft des Archivs in einem Zusammenhang mit der Digitalisierung? Wie lautet abschließend Ihre persönliche Vision für das Bundesarchiv?

Ich würde das Thema in Anlehnung an Walter Benjamins berühmten Aufsatz so formulieren: Das Archivgut im Zeitalter seiner digitalen Verfügbarkeit. Dass unser Material unikal ist, war schon immer ein Vorzug, aber auch ein Problem. Wer archivalische Quellen einsehen wollte, musste zu uns ins Archiv kommen. Archivarinnen und Archivare haben sich über Jahrhunderte daran gewöhnt, als Monopolisten über das Archivgut zu verfügen und den Zugang kontrollieren zu können. Andererseits gibt es seit langem den Versuch, diese Singularität insbesondere durch Editionen aufzubrechen. Die Digitalisierung kann uns helfen, diesen Weg konsequent weiterzugehen. Meine Vision für das Bundesarchiv ist, das Archiv gleichsam nach außen zu kehren und seinen Bereitstellungsauftrag aktiv anzugehen. Damit würden wir ein unumkehr­bares Statement setzen für die Freiheit von Meinung und Information.

Vielen Dank! 
Das Gespräch fand am 3. Mai 2023 im Bundesarchiv in Berlin statt.

 

Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde
Finckensteinallee 63, 12205 Berlin
Telefon 030 - 1877700
www.bundesarchiv.de

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