Archive und Selbstzeugnisse

Unterirdisches Universum

Pilgerstätte für Schiller-Fans, schwäbischer Literaturhimmel, globaler Erinnerungsort für zeitgenössische Literatur: ein Porträt des Deutschen Literaturarchivs Marbach von Johannes Fellmann.

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Podcast mit Dr. Jan Bürger, stellv. Leiter der Archivabteilung des DLA Marbach, über die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Erwerbung eines unbekannten Briefkonvoluts von Else Lasker-Schüler

 

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Das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA Marbach) erwirbt von den Nachkommen des Lyrikers Rainer Maria Rilke (1875-1926) dessen schriftlichen Nachlass. Das Video zur Präsentation des Archivs (2022).

 

Die Rosen kommen aus Zürich, abgeschickt am 27. März 1923: „Wir empfehlen die Wurzeln und Zweige der Pflanzen vor dem Einsetzen mit scharfem Messer etwas zurück zu schneiden. Die Pflanzen sollten in gut umgearbeitete Erde mit ein wenig Dünger etwas tief gesetzt, gut eingeschwemmt, bei heissem Wetter im Anfang etwas schattiert und später bei Trockenheit regelmäßig begossen werden“, grüßen die Gebrüder Martens vom Gartenbaugeschäft aus der Jupiterstraße nach Miège. Dort im Wallis, etwas oberhalb des Ortes, in einem Schloss aus dem 13. Jahrhundert, lebt seit 1921 ein begeisterter Hobby-Gärtner inmitten der Weinberge und Obstgärten. Als der seit längerem an Leukämie erkrankte Bewohner wenige Jahre später stirbt, werden in Raron, ganz in der Nähe, auf seinem Grabstein Verse stehen, die er selbst in seinem Testament dafür ausgewählt hat: „Rose, oh reiner Widerspruch, Lust / Niemandes Schlaf zu sein unter soviel / Lidern.“

Ulrich von Bülow, Leiter der Archivabteilung im Deutschen Literaturarchiv Marbach, hatte beliebig in den Schrank mit den vielen grünen Kästen gegriffen, eine Mappe herausgezogen, geöffnet und laut vorgelesen: „Im Auftrag von Frau Wunderly-Volkart in Meilen senden wir Ihnen 12 schlingende Rosen, welche zur Pflanzung längs des Obstgartenhanges vorgesehen sind.“ Ergriffen lauschen die Zuschauer in dem engen Raum. „Er hat wirklich alles aufgehoben, das ist schon toll“, sagt Ulrich von Bülow. „Er“ – das ist „Rilke, Rainer Maria“.

 

Ulrich von Bülow war mit einigen neugierigen Mitgliedern des Kuratoriums der Deutschen Schillergesellschaft in den Keller des Archivs hinabgestiegen, von Tür zu Tür dickerer Stahl, die Decke näherkommend, die Regale vollgepackt mit 40.000 grünen Archivkästen, vorbei an den Nachlässen von Friedrich Schiller, Siegfried Lenz und Paul Celan, er hatte ein paar Ecken umrundet, sodass die Besucher alleine wohl nicht mehr hinausfinden würden. Tief im Berg, in der Sackgasse dann der „Pannwitz-Bunker“, ein kleiner, separater Raum. Ein Extra-Raum sei vor vielen Jahrzehnten die Bedingung für die Übernahme des Nachlasses von Rudolf Pannwitz gewesen, sagt Bülow, „seine Witwe hat alles gezahlt“. In diesem Raum ist noch Platz für einen der spektakulärsten Coups in der Geschichte des Deutschen Literaturarchivs. Nach langjährigen intensiven Bemühungen konnte der Nachlass von Rainer Maria Rilke (1875–1926) nach Marbach geholt werden.

„Das Deutsche Literaturarchiv ist ein Ganzes“, sagt die Direktorin Sandra Richter, die das DLA auch als außeruniversitäre Forschungseinrichtung führt. Das Erschließen und Erforschen sei in Marbach immer fest verbunden mit dem Ausstellen. Denn ihre Institution bestehe zwar aus drei Bereichen, denke Projekte aber immer integrativ. Genau darin liege die Besonderheit und die Stärke des DLA. Beim Nachlass Rilkes sei zur Vorbereitung von großen Ausstellungen u. a. zum 100. Todestag Rilkes 2025/26 deshalb sofort bei Erwerbung ein gemeinsames Team aus allen Abteilungen tätig geworden, drei Mitarbeiterinnen aus der Bibliothek sowie drei aus dem Archiv erarbeiten mit einem Kurator und Kolleginnen des Museums die Ausstellungselemente. Und auch in den zahlreichen, methodisch avancierten Forschungsprojekten, in denen das Haus mit Universitäten aus der ganzen Welt und Forschungseinrichtungen wie etwa dem IWM in Tübingen kooperiert, kommt die Kompetenz aller Abteilungen zum Tragen.

Den so unterschiedlichen Beständen und der Vielschichtigkeit des darin enthaltenen Literaturbegriffs entspricht auch das Forschungsprogramm des Hauses. In den fünf Forschungslinien, die die Einrichtung programmatisch entwickelt hat, trägt sie der Vielschichtigkeit und Lebendigkeit der Literatur, wie sie sich auch im Archiv dokumentiert, Rechnung.

In den Katakomben läuft Ulrich von Bülow ein paar Schritte weiter, dort türmen sich in einem großen Raum zwei Dutzend Umzugskartons. Er legt die Hand auf einen von ihnen: „Martin Walsers Vorlass. Nach und nach übergibt er uns die Dokumente aus seinem Haus am Bodensee. In den Papieren steckt ein ganzes langes Schriftstellerleben. Sie zu sichten, ist eine spannende Arbeit.“ Auch um den Vorlass von Martin Walser, geboren 1927, wurde lange verhandelt. Er besteht aus rund 75.000 handschriftlichen Seiten, daneben 75 Tagebüchern, Fotos, einer Autorenbibliothek und einem Computer (s. a. S. 71 in diesem Heft). In einer Rede auf das Deutsche Literaturarchiv sprach Walser einmal vom „unterirdischen Himmel“. Diese Metapher wird seither gern und oft zitiert. Sandra Richter faszinieren besonders die Kafka-Buchausgaben des Schriftstellers mit unzähligen Anmerkungen, und diese Ausgaben sollen im Rahmen einer großen Walser-Ausstellung zum 100. Geburtstag 2027 gezeigt werden. Denn Martin Walser hatte einst über Franz Kafka promoviert.

Nun könnte man ja vermuten, dass sich das Problem der Lagerung von Vor- und Nachlässen, Verlags- und Redaktionsarchiven mit der ständig zunehmenden Digitalisierung von selbst erledigen könnte, da Papier auch bei Dichtern aus der Mode kommt. Nur zum Teil, meint Bülow, ein „papierloser“ Nachlass sei ihm noch nicht begegnet. Aber mehr und mehr kämen zusätzlich zum Papier alte Computer, Laptops, Festplatten, Disketten und Sticks ins Archiv. Deren Datenformate sind oft veraltet und müssen zunächst mühsam konvertiert werden. Das stellt das Archiv vor neue Herausforderungen, denn auch für die Erschließung müssen neue Methoden entwickelt werden. Elektronische Dokumente haben für die Forschung durchaus Vorteile. Man kann sie einfacher und besser durchsuchen, vergleichen, analysieren und nicht zuletzt auch anhand des Speicherdatums datieren. Christoph Willmitzer, zuständig für die Förderungen von literarischem Schriftgut in der Kulturstiftung der Länder, die seit ihrer Gründung das DLA unterstützt und auch bei den jüngsten Rilke- und Walser-Erwerbungen maßgeblich geholfen hat, betont deshalb: „Besonders symptomatisch und wichtig ist es in der Zeit des gerade stattfindenden Medienwechsels hin zu digitalen oder computerbasierten Speichermedien, Archive in dieser Transformationsphase zu unterstützen.“

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach (DLA), das merkt man schon beim Blick über die Gebäude auf der Schillerhöhe, ist allerdings mehr als ein Archiv: In einer einmaligen Konstruktion ist es Forschungsort für die internationale Literaturwissenschaft samt Gästehaus und zwei Museen – dem spektakulären Literaturmuseum der Moderne von David Chipperfield (2006) und dem momentan in Renovierung befindlichen Schiller-Nationalmuseum. Nach dessen Wiedereröffnung im Herbst 2024 soll dort die politische Dimension im Werk Schillers beleuchtet werden, indem Schillers Weltverständnis und die gesellschaftlichen Debatten seiner Zeit in den Mittelpunkt rücken.

Das Archiv, das sich heute als internationale Forschungsinstitution etabliert hat, begann wie so vieles Kulturelle dieser Zeit als königliche Unternehmung – allerdings im demokratischen Gewand. Der Monarch unterstützte eine bürgerliche Einrichtung. Diese besondere Struktur bewahrte sich das DLA bis heute, indem es von Land und Bund finanziert, jedoch von der Deutschen Schillergesellschaft getragen wird. „Diese ungebrochene Verwurzelung in der Gesellschaft sichert dem DLA über den staatlichen Grundhaushalt hinaus in erheblichem Umfang bürgerliches Engagement und private Spenden sowie eine höheres Maß an Unabhängigkeit und Beweglichkeit“, sagt Kai Uwe Peter, der derzeitige Präsident der Schillergesellschaft.

Im Schiller-Nationalmuseum, einem vom Spätbarock inspirierten schlossartigen Gebäude, hat die bis heute gültige Idee ihren Ursprung: Archiv, Bibliothek, Museum, Fest- und Forschungsstätte zugleich sollte es sein. Der 1903 eröffnete Kuppelbau im Auftrag des württembergischen Königs hoch über dem Neckar hatte sich nichts Geringeres als das Pantheon in Rom zum Vorbild genommen, um die schwäbische Literatur, mit Schiller im Zentrum, ausgiebig zu feiern. Bereits 1833 hatte sich der Schillerverein gegründet zur Errichtung eines Denkmals für den berühmten Sohn der Stadt, der in Marbach 1759 geboren wurde. Der Stuttgarter Bankier und Sammler Kilian Steiner (1833–1903) wollte Schiller und der Literatur Württembergs zur nationalen Geltung verhelfen. Welche Bedeutung literarischen und philosophischen Nachlässen für die gerade zusammengewachsene Nation zuzumessen sei, hatte der Philosoph Wilhelm Dilthey (1833–1911) schon früh erkannt und war 1889 für die Errichtung neuer Institutionen der Literaturpflege eingetreten: Man sehe die „ganze deutsche Vergangenheit in einer neuen Beleuchtung“, „die Literatur mit anderen Augen“. „Der handschriftliche Nachlaß der Schriftsteller ist […] unschätzbar […] Genuß und Verständnis unserer Literatur empfängt aus diesen Handschriften eine unberechenbare wertvolle Bereicherung, und die wissenschaftliche Erkenntnis ist an ihre möglichst ausgiebige Benutzung schlechthin gebunden […]. Diesen Aufgaben genügen die gegenwärtigen Einrichtungen nicht. Nur Archive ermöglichen die Erhaltung der Handschriften, ihre angemessene Vereinigung und ihre richtige Verwertung. Wir müssen also einen weiteren Schritt in der Organisation unserer Anstalten für historische Forschung tun. Neben die Staatsarchive […] müssen Archive für Literatur treten.“ Bis heute ist die damals zunächst unerfüllt gebliebene Forderung Diltheys so etwas wie das Glaubensbekenntnis der Marbacher Wissenschaftler, Archivare, Kuratoren und Bibliothekare.

 

Aus der Pilgerstätte wurde bereits 1927 ein auch vom Reich unterstützter Sammel- und Ausstellungsort für Literatur. Und gesammelt werden traditionell auch Devotionalien, Objekte, Bilder – von Schillers sprichwörtlicher Locke über Totenmasken berühmter Denker, Gemälde von Max Beckmann bis zur getrockneten Blume aus Rilkes Nachlass. Bis 1958 wurde übrigens noch streng nach Schwaben und Nichtschwaben getrennt, wie der langjährige Marbacher Bibliothekar Paul Raabe berichtete. Und in langen Kellergewölben stehen heute, wie für die Ewigkeit konserviert, die persönlichen Bibliotheken der Dichter und Denker. Unersetzbare Quellen, meint Ulrich von Bülow, denn hier erfährt man, was die Schriftsteller selbst gelesen haben.

War das Marbacher Schillermuseum ursprünglich auf schwäbische Literatur- und Geistesgeschichte begrenzt, bekam die Institution nach dem Zweiten Weltkrieg bald eine noch weitergehende Bedeutung. Denn nun lagen zentrale Institutionen für die Literaturpflege plötzlich jenseits der Grenze in der DDR: die Berliner Akademie der Künste, die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin, die Klassik Stiftung Weimar.

Da im Westen eine vergleichbare Sammelstelle fehlte, schlug die Stunde der Marbacher Provinz. Als 1955 zur Neugründung Bernhard Zeller neuer Museumsdirektor wurde, begann der Aufstieg zum wichtigsten Literaturarchiv der Bundesrepublik. 1973 krönte der in die Hügel eingebettete brutalistische Neubau des Archivs diese Entwicklung. Im Mittelpunkt stand von Anfang an die Akquisition von Vor- und Nachlässen des 20. Jahrhunderts, von Dichterinnen und Dichtern, berühmten Denkerinnen und Denkern. Besonders die im Dritten Reich verfemten und exilierten Schriftstellerinnen und Schriftsteller standen zunächst im Fokus. Ein wichtiges Signal, galt es doch aufzuarbeiten, dass sich der Schillerverein bedingungslos der nationalsozialistischen Ideologie verschrieben hatte und u. a. jüdische Mitglieder ausgeschlossen wurden. Eine Marbacher Expressionismus-Ausstellung machte 1960 international Furore und belegte den Sinneswandel. Bald kamen u. a. so wichtige Nachlässe wie der von Hermann Hesse ins DLA.

In den letzten fast 70 Jahren riss der Strom der literarischen Zeugnisse nach Marbach nicht ab. Obwohl viele, wenn nicht die meisten angebotenen Nachlässe aus Gründen des Sammlungsprofils und mangelnder Kapazitäten abgelehnt werden müssen, wurden immer neue Magazinerweiterungen notwendig. Der nächste Neubau ist längst in Planung.

Ständig wird in Marbach darüber diskutiert, welche Vor- oder Nachlässe aufgenommen werden sollen und welche nicht. Bei Rilke war die Sache klar. Seit seiner Gründung war das Deutsche Literaturarchiv im Gespräch mit den Nachfahren des Schriftstellers. Denn diese waren im Besitz eines unvergleich­lichen Schatzes. Sandra Richter und Kai Uwe Peter als die heute für das DLA Verantwortlichen konnten hieran anknüpfen — und hatten nach 70 Jahren Erfolg.

Ulrich von Bülow wundert sich, dass sich so viele von Rilkes Zeugnissen erhalten haben, zumal der Dichter zeitweise nicht einmal einen ständigen Wohnsitz hatte. Nahezu jeder Brief und jeder Zettel scheint vorhanden zu sein. Auch ein Fragment seiner Bibliothek mit zahlreich annotierten Exemplaren existiert noch. „Nachdem Rilke 1914 von Frankreich nach Deutschland umziehen musste, wurde seine ganze Habe in Paris versteigert. Doch seine Freunde Stefan Zweig und André Gide konnten die wichtigsten Dokumente retten.“

Bisher war Rilkes Nachlass nur sehr eingeschränkt zugänglich. Nun wird er geordnet, verzeichnet und digitalisiert, danach steht er der Forschung zur Verfügung. „So gesehen kein bloßes Schriftgut, sondern nationales Kulturerbe“, jubelte die FAZ über die Erwerbung von Rilkes Nachlass. Obwohl jetzt die Manuskripte der Duineser Elegien, der Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge oder des Stundenbuchs hier im Keller liegen, holt Bülow aus den Kisten lieber eines der rund 86 Skizzen- und Taschenbücher Rilkes. In den kleinen schwarzen Heften, die der leidenschaftlich nomadisierende Rilke als seine zentralen Auskunfts- und Notizbücher an den wechselnden Orten nutzte, vermutet der Archivleiter die größten Überraschungen und interessantesten Details über Rilkes Leben und die Entstehung der berühmten Dichtungen. Die internationale Forschungsgemeinde ist jedenfalls elektrisiert. „Wir haben sehr viele Anfragen auf Einsicht, die wir allerdings vertrösten müssen bis die Papiere archivarisch erschlossen sind.“

Sandra Richter wünscht sich momentan besonders, noch mehr mit digitalen Tools in der Erschließung zu experimentieren, beispielsweise bei der Handschriftenerkennung und dem Erstellen von Metadaten. Zudem beschäftigt sie, wie mit einem neuen Erwerbungsprofil in Bezug auf (teil-)digitale Vor- und Nachlässe auch neue Bewertungskriterien notwendig werden. „E-Mails sind auch Unikate“, sagt Richter. „Aber wie bewerten wir Digitales bei Ankäufen und wie erschließen wir beispielsweise sinnvoll eine digitale Korrespondenz von 70.000 Nachrichten?“, benennt sie aktuelle Fragestellungen für das Archiv. Angesprochen auf die Flüchtigkeit des Digitalen, scherzt Richter, dass sie den Autoren natürlich am liebsten rechtzeitig eine DLA-E-Mail-Adresse verpassen würde, damit Marbach nichts mehr entgeht. Die Direktorin findet momentan vor allem die Frage spannend, wann und warum Autoren zwischen Handschriftlichem und Digitalem wechseln. „Schon bei unserem quasi ersten digitalen Sammlungsstück, einem Computer-Poem aus den 1950er-Jahren, hat der Autor Theo Lutz sein Gedicht ausgedruckt und dann handschriftlich verändert.“

„Mit digitalen Nachlässen stellen sich viele Fragen ganz neu: Was ist ein Original? Gehören die technischen Metadaten zum Original, auch wenn diese nicht vom Autor/der Autorin aktiv verfasst wurden? Wirkt der moderne Computer am Schreibprozess mit – etwa durch Autokorrektur oder -vervollständigung. Stimuliert er Kreativität? Welche Erkenntnisse kann forensische Erschließung und Edition zu Tage fördern? Fragen wie diese zeigen, dass wir vor ganz neuen wissenschaftlichen Forschungsfeldern stehen“, erläutert Roland S. Kamzelak, im DLA zuständig für Digitalität. Vor diesem Hintergrund tun Archive gut daran, nicht vorschnell Daten zu löschen, die vermeintliche Doubletten sind. Auf einer tieferen Ebene könnten es neue Originale sein. Im Bereich der digitalen Materialien muss deshalb möglichst alles bewahrt werden, in der Hoffnung, dass moderne Algorithmen mit Hilfe von KI Ordnung in das scheinbare Chaos bringen können.

Die Bibliothek des DLA ist die global größte Sammlung für deutschsprachige Literatur und Literaturwissenschaft und beherbergt weitere unikale Bestände. Die Besonderheit der Bibliothek ist, dass Literatur in allen möglichen Erscheinungsformen gesammelt wird, retrospektiv und am Puls der Zeit. Dazu gehören auch immaterielle digitale Formen der Literatur, z. B. Weblogs. Die Mediendokumentation bewahrt flüchtige Spuren, z. B. Rundfunkbeiträge, Zeitungsausschnitte, Theaterprogramme, aber auch audiovisuelle Formen, die die Rezeption von Autor und Werk begleiten. In der Bibliothek befinden sich über 200 Spezialsammlungen, darunter auch die Autorenbibliotheken. „Viele Bücher der berühmten Vorbesitzer sind annotiert und geben Auskunft über Arbeitspraktiken, Lese- und Produktionsprozesse“, sagt Natalie Maag, Leiterin der Bibliothek.

„In Widmungsexemplaren zeigen sich Freundschaften und Netzwerke der Autoren und durch Anreicherungen (Einlagen, Karten, Verweise) sind die Bücher nicht nur als Ensemble, sondern auch in ihrer Materialität ganz eigene Objekte, die von hoher Relevanz für die Forschung sind.“ In Marbach befinden sich viele Verlagsarchive und deren Produktionsbibliotheken, u. a. die vollständigen Archive des Suhrkamp-Verlags oder des Tübinger und Stuttgarter Cotta-Verlags, des bedeutendsten Verlags der deutschen Klassik, dessen Übernahme mit u. a. Beständen zu Goethe, Heinrich von Kleist, Jean Paul, Heinrich Heine und Theodor Fontane 1955 ein wichtiges Argument für die nationale Ausrichtung des neugegründeten DLA war.

Ulrich von Bülow kann viel erzählen von Überraschungen, die ihm in Vor- und Nachlässen begegnet sind. Oft seien die Korrespondenzen für die Forschung ergiebiger als die Werkmanuskripte. So enthalte der Nachlass von Fritz J. Raddatz sehr umfangreiche und inhaltsreiche Briefwechsel. Der Verlagsleiter und langjährige Starjournalist der Hamburger Wochenzeitung DIE ZEIT habe es wie kaum ein zweiter verstanden, andere Autorinnen und Autoren mündlich und schriftlich ins Gespräch zu ziehen und zu Bekenntnissen zu verlocken. Nachlässe bedeutender Personen sind oft weniger interessant als gedacht, umgekehrt enthalten die Hinterlassenschaften von weniger bekannten unerwartet bedeutende Quellen. Daher müssen die Dinge vor der Erwerbung immer genau angesehen werden. Oder, wie der Archivar sagt: „Keine Erwerbung ohne Autopsie.“

Erworbene Quellen werden für die internationale Forschung erschlossen und bereitgestellt, zudem an ein breites Publikum in Ausstellungen und vielfältigen Veranstaltungen vermittelt. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Archiv, Bibliothek und Museum betreiben eigene Forschungsaktivitäten, das Referat Forschung entwickelt darüber hinaus eigene Projekte, für die umfangreiche Drittmittel eingeworben werden, und begleitet Quellenforschung intern und extern, z. B. in der Betreuung von Stipendiatinnen und Stipendiaten. In unterschiedlichen Projektkonstellationen und mit einem umfangreichen Tagungs- und Workshopprogramm, das junge wie etablierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach Marbach holt, können Impulse aus Archiv und Bibliothek direkt in die ­Forschung gespielt ­werden.

Wie sehr sich gesellschaftspolitische und kulturpolitische Phänomene der deutschen Geschichte in den Beständen spiegeln und illustrieren, zeigt beispielhaft eine jüngste Erwerbung: Ulrich von Bülow wuchtet einen rostbraunen Aktenkoffer auf einen Archivschrank und holt einen dicken Stapel Briefe heraus. Sie stammen aus dem Besitz des damaligen Kultusministers der DDR Hans-Joachim Hoffmann. Der DDR-Funktionär befragte 1983 in einem Rundbrief Prominente, welcher „Lesestoff“ sie am stärksten beeindruckt hat und was sie persönlich veröffentlicht sehen wollen in der DDR: „[Ich] verspreche mir von Ihren und den anderen Antworten fruchtbare Anregungen für eine behutsame schöpferische Einflussnahme auf die literarische Produktion und auf die Arbeit der Bibliotheken, des Buchhandels, der Kulturhäuser usw. in den kommenden Jahren.“ Anscheinend haben fast alle ausführlich geantwortet: vom Astronauten Siegfried Jähn bis zum Bildhauer Wieland Förster, zu Christa Wolf und Volker Braun. In einem Berliner Antiquariat tauchte der Koffer mit dem bemerkenswerten Inhalt auf, Bülow schlug sofort zu. Wo sonst, wenn nicht in Marbach, sollte sich solch ein kulturpolitisches Zeitzeugnis erhalten?

Dass Literatur die Welt prägt, beeinflusst und vor allen Dingen selbst Welten erschafft, lässt sich wahrscheinlich nirgendwo besser ergründen als hier in den Katakomben des Archivs. Damit ergänzt das DLA mit seinem speziellen Zugriff, dem weiten Begriff von Literatur die Sammlungen der Landes- und Staatsarchive, die Spezialarchive der Akademien und die historischen Sammelorte wie in der Klassik Stiftung Weimar. Als besondere Herausforderung für den Instinkt der Mitarbeiter bezeichnet Direktorin Sandra Richter den Auftrag, idealerweise schon zu Lebzeiten der Autoren deren Bedeutung richtig einzuschätzen. Gleichzeitig müsse dabei das Sammlungsprofil immer wieder neu definiert werden. So gelte es gerade, sich zukünftig besonders auf die Erwerbung von Nachlässen von Schriftstellerinnen zu fokussieren, die in den vergangenen Jahrzehnten in einem patriarchal geprägten Kanon der Literatur ihren verdienten Platz oft nicht gefunden haben. Das Archiv stehe vor der eigentlich unlösbaren Aufgabe, vorherzusehen, was die Forschung der nächsten Jahrzehnte und womöglich Jahrhunderte interessieren wird.

Mit der Jungen DSG, die Kai Uwe Peter im Herbst 2021 ins Leben gerufen hat, ist es gelungen, ein wachsendes junges Publikum für die Deutsche Schillergesellschaft zu erreichen und neue Mitglieder zu gewinnen. Das Programm #FollowSchiller etwa wendet sich an literaturinteressierte 14-24-Jährige, die im letzten Jahr u. a. einen persönlichen Austausch mit Daniel Kehlmann am Rande seiner Schillerrede 2022 führen konnten.

Sandra Richter positionierte anlässlich einer Zukunftstagung im Jahr 2021 in Marbach das DLA als „literarische Denkfabrik“: Das bedeute, dass man „literaturpolitische Zeitläufte“ abbilde, aber kein politisches Archiv sei. „Es begründet seine Existenz aus einem großen Versprechen der Aufklärung, nämlich: unparteilich zu sein. Es sammelt ohne Rücksicht auf Nationalität, Geschlecht oder Meinung, achtet aber umso mehr auf die Repräsentanz des literarisch und intellektuell Bedeutsamen im Archiv, sofern es deutschsprachig, in Deutschland oder in Auseinandersetzung mit deutscher oder deutschsprachiger Kultur entstanden ist. Auf diese Weise schärft es die Urteilskraft seiner Besucher und Nutzer nicht nur, sondern fordert zugleich idiosynkratische und ideologische Blicke auf die Literatur und das öffentlich wirksame Denken heraus. […] Es muss schon deshalb Spannungen aushalten und diplomatisch auf vermintem Terrain manövrieren können.“

Markus Hilgert, Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, erweiterte anlässlich der Zukunftstagung den Blick auf das Agieren im Netzwerk: Noch zu wenig sei für ihn der Platz erkennbar, wo Marbach sich im lokalen und regionalen Umfeld sowie im nationalen und internationalen Kontext befinde. Dort sehe er ein großes Potential noch ungehoben. Theater, Museen, andere Bibliotheken, soziokulturelle Zentren, Schulen und Hochschulen sollten noch stärker wichtige Bezugspunkte der Arbeit des Archivs werden.

Die Präsidentin der American Friends, die sich das DLA vor einigen Jahren aufbaute, die Germanistin und Kulturwissenschaftlerin Meike G. Werner aus Nashville, Tennessee (USA), warnte vor einer einseitigen nationalen oder deutsch-nationalsprachlichen Festlegung: „Geht man von der Welt der großen Dichterinnen und Dichter der Moderne aus, war sie eine Welt der Mehrsprachigkeit, eine, in der Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht nur in einer Sprache lebten, dachten, schrieben und veröffentlichten. Heute, nach der langen Phase der sogenannten Deglobalisierung, ist die Mehrsprachigkeit wieder unsere Welt, die Welt von Özdamar, Bodrožić und Tawada. Für die Zukunft eines Literaturarchivs heißt es dann, sich in die alte und die neue Welt der Mehrsprachigkeit hineinzudenken.“

Dass man kooperativ über Ländergrenzen handeln kann, hat Marbach mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder vor Jahren bei der Sammlung der Postkarten und Briefe Franz Kafkas an seine Schwester Ottla bewiesen, die gemeinsam mit der Bodleian Library der Universität Oxford erworben wurde.

Doch Literatur ist heute schon lange nicht mehr nur die Literatur der großen Verlage, sodass Sandra Richter plant, die „disruptive Qualität neuer Literaturformen angemessen [zu] würdigen“. Die Direktorin ergänzt aber: „Disruption braucht ihr Gegenteil, um als solche gelten zu können: das Tradierte, Etablierte, Kanonische, an dem es sich abarbeiten kann. Indem das Neue sich als solches beweist, erobert es seinen Platz im Archiv und schafft sich die Möglichkeit, selbst als in Würde Gealtertes gelten zu können.“

Ein großer, bunter Strauß an Transformation des Geschriebenen, Gedruckten, Gesendeten und Gesprochenen steht bereit, um die Zukunft des DLA zu einer tendenziell unberechenbaren, aber immens spannenden Herausforderung zu machen.

Johannes Fellmann ist Redakteur von Arsprototo.

 

Kulturstiftung der Länder und Deutsches Literatur­archiv Marbach – eine Kooperation seit 35 Jahren

Sehr oft war die Kulturstiftung der Länder über die Jahrzehnte mit dabei – meist mit begleitendem Verhandlungsgeschick und immer mit finanzieller Unterstützung –, wenn Vor- und Nachlässe, Korrespondenzen, kostbare Manuskripte oder ganze Archive nach Marbach kamen, die alle unerschöpfliche Quellen für Erkenntnisse über das literarische und geistige Leben in Deutschland und der Welt sind: beginnend 1988 mit der Erwerbung von Franz Kafkas Manuskript von „Der Proceß“, gefolgt u. a. von Beständen zu Ernst Jünger, ­Lou-Andreas Salomé, Stefan Zweig, Eduard Mörike, W. G. Sebald, Peter Hacks, Martin Heidegger, Robert Gernhardt, Gottfried Benn, Reclam-Archiv, Else Lasker-Schüler und in jüngster Zeit Peter Handke, Siegfried Lenz, Martin Walser und Rainer Maria Rilke.

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