Der „Liegende Löwe“ von August Gaul
Rudolf Mosse war einst Besitzer der von August Gaul gefertigten Skulptur. Sehen Sie den Film zur Anlieferung des „Liegenden Löwen“ in der James-Simon-Galerie im Mai 2019.
„Ich freue mich sehr, mit der Rettung dieses Archivbestandes der Stadt Berlin einen Dienst erwiesen haben zu können.“
Mit diesem Satz des Archivars Erich Randt (1887 – 1948) beginnt die lange Nachkriegsgeschichte einer außergewöhnlichen Sammlung von über 3.600 Schriftstücken, Briefen, Telegrammen und Postkarten von über 700 Personen, die ohne Übertreibung als „Who’s who“ des kaiserzeitlichen Berlin und der Wilhelminischen Ära beschrieben werden kann. Die Empfänger dieser umfangreichen Zusendungen waren Emilie (1851 – 1924) und Rudolf Mosse (1843 – 1920), der prominente Berliner Zeitungsverleger („Berliner Tageblatt“), Philanthrop, Mäzen und Kunstsammler, und seine Ehefrau. Rudolf Mosse und Emilie Loewenstein hatten 1874 geheiratet; die sorgfältig gesammelte und sorgsam gehütete Korrespondenz ist eine wichtige Quelle für die Geschichte des wirtschaftlichen Aufstiegs und der schrittweisen gesellschaftlichen Akzeptanz einer deutschen jüdischen Familie, vom Wirtschafts- zum Bildungsbürgertum, und zugleich ihr materieller und gedanklicher Ausdruck.
Das imposante Stadtpalais der Mosses am Leipziger Platz (im Krieg zerstört, heute Sitz der Kanadischen Botschaft) und ihr ländliches Refugium Gut Schenkendorf bei Berlin waren die Orte dieses Aufstiegs und der daraus resultierenden, vielfältigen sozialen, wohltätigen und kulturellen Aktivitäten. Hier kamen die Briefe der Korrespondenzpartnerinnen und -partner an, Antworten auf Einladungen, Bitten um finanzielle Unterstützung oder die Übersendung von Gedichten und Prosastücken zur Veröffentlichung.
Die Korrespondenzen bilden einen einzigartigen Einblick in die Wilhelminische Gesellschaft und ihre Protagonisten in Politik, Wirtschaft und vor allem Kultur, und damit die engen und vielfältigen Verbindungen des Ehepaars Mosse in dieser Gesellschaft. Zeitlich umfasst das Konvolut die fünfzig Jahre seit ihrer Eheschließung bis zu Emilie Mosses Tod im Jahr 1924 und dokumentiert damit die gesellschaftlichen Kontakte beider parallel zum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmers.
Dabei ist es nicht zuletzt Emilie Mosse, die hier neben der dominierenden Figur ihres Ehemanns Aufmerksamkeit verdient: Die Autorin der grundlegenden Biographie „Die Familie Mosse. Deutsch-jüdisches Bürgertum im 19. und 20. Jahrhundert“ von 1999, die Münchner Historikerin Elisabeth Kraus, hat Emilie Mosse als durchaus typische Vertreterin der „jüdisch-bürgerlichen Ehefrau […] an der Schwelle zum 20. Jahrhundert“ charakterisiert, „eine Frau mit ausgeprägtem sozialen Engagement und kulturellen Interessen“, als die „verläßliche, nicht selten auch eigenständige Mitstreiterin in seinen [Rudolf Mosses] vielfältigen philanthropischen Aktivitäten“. Ihr war es „dank der enormen materiellen Resourcen ihres Mannes“ möglich, „eine weitgespannte sozial-karitative, kulturelle und schöngeistige Salon-Tätigkeit [zu] entfalten“. Dabei wies das „weit ausgreifende philanthropische Engagement des Ehepaars Mosse […] einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich der Kindererziehung und Jugendfürsorge auf, worin sich offenbar Emilies eigene Akzentsetzung spiegelt“.
So war Emilie Mosse, die aus einer Kaufmannsfamilie aus Trier stammte, an der Gründung und Leitung der „Emilie und Rudolf Mosse-Stiftung“ in Berlin-Wilmersdorf beteiligt, sie gründete 1884 den „Verein Mädchenhort“ und war bis zu ihrem Tod 40 Jahre lang Mitglied des Vorstands und bekam für ihre Verdienste 1909 als erste jüdische Frau im Königreich Preußen den Wilhelm-Orden in Würdigung ihres Engagements verliehen. In seiner Grabrede würdigte Rabbi Lehmann von der Jüdischen Reformgemeinde sie als „Freundin der Jugend“.
Vor diesem Hintergrund erschließt sich ein nicht geringer Teil des Konvoluts der sowohl an Rudolf, ausschließlich an Emilie oder an beide Ehepartner gerichteten Schriftstücke. Dabei besticht nicht nur der enorme Umfang des Konvoluts, sondern seine Vielschichtigkeit hinsichtlich der Korrespondenzpartnerinnen und -partner: Einzelne Billets kaiserlicher Hofdamen gehören ebenso dazu wie jahre- und zum Teil jahrzehntelange Beziehungen dokumentierende Briefgruppen, etwa des Künstlerpaars Sabine und Reinhold Lepsius, Schreiben von Albert Einstein wie von Max Liebermann, Wilhelm Bode und vielen anderen.
Die Lektüre des seit 2006 online verfügbaren Findbuchs ist ein Spaziergang auf den Spuren einer verlorenen Zeit. Besonders augenfällig ist der hohe Anteil der weiblichen Korrespondenzpartnerinnen: Künstlerinnen wie Sabine Lepsius, Dora Hitz und Julie Wolfthorn, Sängerinnen wie Agnes Sorma, Pädagoginnen, Frauenrechtlerinnen – Bertha v. Suttner, Elsa Brändström, Alice Salomon – und viele andere, die Eingang in den kulturellen Kanon gefunden haben oder die es wiederzuentdecken lohnt, sind Teil dieses Berlin-Panoramas und der engen Verflechtung der gesellschaftlichen, kulturellen wie wissenschaftlichen Eliten der Kaiserzeit.
Elisabeth Kraus war wohl eine der ersten Nutzerinnen, die den Nachlass nach der Vereinigung der Ost- und Westberliner Archivbestände im Landesarchiv Berlin auswerten konnte. In den letzten Jahren wurde der Bestand für die Recherchen der vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste geförderten Mosse Art Research Initiative der FU Berlin (MARI) in Kooperation mit der Erbengemeinschaft nach Rudolf Mosse sowie anderen Provenienzforscherinnen und -forschern intensiv genutzt. Die Mosse Foundation ist seit vielen Jahren in Berlin aktiv, u. a. durch die Mosse Lectures an der Humboldt-Universität Berlin.
Und das ebenfalls von der Mosse Foundation und der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Projekt „Die Mosse-Frauen. Szenarien deutsch-jüdischer Lebensgeschichten zwischen Kompensation, Profession und Emanzipation“ des Instituts für deutsche Literatur der HU Berlin beschäftigte sich 2020/21 eingehend mit den weiblichen Protagonistinnen der Familie. Damit engagiert sich die Stiftung, die zur personellen und institutionellen Erbengemeinschaft der Familie Mosse gehört, intensiv für die Erinnerung an die Mitglieder einer Familie, deren Bedeutung durch Verfolgung, Vertreibung und Holocaust in Berlin lange nicht präsent war.
Und wie die Kunstwerke der Sammlung Mosse, deren Rekonstruktion einen weiteren Schwerpunkt der Erinnerungsarbeit bildet, betraf der Verlust durch die nationalsozialistische Verfolgung auch den schriftlichen Nachlass. 2006 erschien im Jahrbuch des Landesarchivs ein Aufsatz von Annette Thomas, der unter anderem den bisher nicht gänzlich rekonstruierbaren Weg der Schriftstücke nachzeichnet: Bei Kriegsende befanden sie sich in Krakau und wurden über das Sächsische Hauptstaatsarchiv Dresden dem Magistrat von Berlin überstellt und im (Ost-) Berliner Stadtarchiv deponiert. Offenbar äußerte sich der Autor des eingangs zitierten Schreibens, Erich Randt, ehemaliger Direktor des Staatsarchivs Krakau, nicht dazu, wie die Kisten dorthin gelangt waren.
Doch im selben Schreiben vom 10. Februar 1946 bat er darum, die Familie Mosse über den Verbleib der Papiere zu informieren. Es ist dokumentiert, dass die Abteilung Volksbildung des Magistrats von Berlin 1947 tatsächlich versuchte, die Adresse des in die USA emigrierten Enkels Rudolf Lachmann-Mosse (1913 – 1958) zu ermitteln. Danach verhinderten personelle Diskontinuitäten, der Kalte Krieg und die Teilung Deutschlands eine weitere Aufarbeitung. Erst 1992 wird der Mosse-Nachlass in einer ersten gemeinsamen Beständeübersicht der vereinigten Berliner Archive öffentlich sichtbar.
Die Provenienzforschung des Landesarchivs Berlin führte schließlich zu einer intensiven Beschäftigung mit der Herkunft des Bestandes, und 2017 wurde der Nachlass durch das Land Berlin restituiert. Dank des Entgegenkommens der Erbengemeinschaft verblieben die Unterlagen als Depositum im Landesarchiv und standen der Forschung weiterhin zur Verfügung. Der mit Hilfe der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, der Kulturstiftung der Länder und dem Land Berlin realisierte Ankauf ermöglichte den Verbleib und die kontinuierliche Zugänglichkeit dieser wichtigen Quelle. Die Kulturstiftung der Länder hat in den vergangenen Jahren mehrfach den Ankauf restituierter Kunstwerke aus der Sammlung Mosse gefördert, etwa in der Kunsthalle Karlsruhe (s. Arsprototo 3/2016) und der Alten Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin (s. Arsprototo 2/2018, auch zum MARI-Projekt).
Nun kommt mit dem schriftlichen Nachlass von Emilie und Rudolf Mosse ein wichtiger Mosaikstein der Erinnerungskultur hinzu. Besonders erfreulich ist es, dass die öffentliche Präsentation des Ankaufs in das Jahr des 25-jährigen Jubiläums der Washingtoner Prinzipien fällt. Das Landesarchiv kann die Dokumente nun dauerhaft – und jetzt auch digital – der Öffentlichkeit zur Verfügung stellen. Am Ende wurde mit der Restitution und dem Ankauf der Korrespondenzen nicht nur der Stadt Berlin ein Dienst erwiesen – seine Bedeutung geht weit darüber hinaus, und der Dank gebührt dabei nicht nur den Bewahrern der Nachkriegszeit, sondern vor allem der Erbengemeinschaft der Familie Mosse.
Landesarchiv Berlin
Eichborndamm 115, 13403 Berlin
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