Spiritualität und Sinnlichkeit
Die Staatsgalerie Stuttgart konnte im vergangenen Jahr ein bedeutsames Konvolut von Werken Wilhelm Lehmbrucks (1881–1919) aus dem Besitz der Familie des Künstlers dank der Unterstützung durch die Kulturstiftung der Länder, die Museumsstiftung Baden-Württemberg und die Ernst von Siemens Kunststiftung erwerben. Es handelt sich um drei Plastiken, darunter ausgesprochene Hauptwerke – „Die große Sinnende“ (1913) und „Der Gestürzte“ (1915/16) – sowie um 20 Zeichnungen und 49 Druckgraphiken, die sich allesamt seit Jahrzehnten bereits als Leihgaben in der Staatsgalerie befanden. Deren Direktor Erwin Petermann (von 1963 bis 1969 im Amt) hatte sich für Lehmbrucks Werk besonders engagiert und 1964 das Werkverzeichnis der Graphik herausgegeben. Bereits 1924 hatte das Museum – als einzige deutsche Institution vor 1945 – einen Steinguss der Großplastik „Emporsteigender Jüngling“ von der Witwe des Künstlers erworben. Sie wurde jedoch 1937 – wie zahlreiche weitere Werke von Lehmbruck – als „entartet“ ausgesondert, verblieb dann aber aufgrund von Transportschwierigkeiten im Museum, wo sie 1944 durch Bombeneinwirkung schwer beschädigt wurde.
Wilhelm Lehmbruck gehört zu den wichtigsten deutschen Bildhauern des 20. Jahrhunderts. In seiner kurzen, durch Freitod beendeten Schaffenszeit hat er ca. 100 Skulpturen, mehr als 1.000 Zeichnungen, 80 Gemälde und großformatige Zeichnungen sowie 200 Druckgraphiken, vornehmlich Kaltnadelradierungen und einige Lithografien, gestaltet. Zu seinen plastischen Hauptwerken gehören – neben den zwei oben genannten – weitere exzeptionelle Gestaltungen wie die harmonisch klassische „Große Stehende“ (1910), dann die von Theodor Däubler (1876 –1934) als „Vorwort zum Expressionismus“ bezeichnete „Kniende“ (1911) sowie der „Emporsteigende“ (1913) und der „Sitzende Jüngling“ (1916/17).
Auch das malerische, zeichnerische und druckgraphische Œuvre Lehmbrucks ist von einer unverwechselbaren Eigenart und nimmt sowohl qualitativ als auch quantitativ einen weit höheren Rang ein als es bei Bildhauern allgemein üblich ist.
Die Mehrfachbegabung und Vielseitigkeit, das Erproben in den verschiedensten Medien im Ringen um den gültigsten Ausdruck waren charakteristisch für die Generation der Expressionisten, zu der Lehmbruck gehörte. Wie sie sah auch Lehmbruck seine künstlerische Mission darin, seine Zeit in einer adäquaten Bildsprache zu formen und so mit Hilfe seiner Kunst an einer Erneuerung der menschlichen Gesellschaft mitzuwirken. Dies brachte er auch in verbaler Form zum Ausdruck, so etwa am Ende des Ersten Weltkrieges in seinem Credo: „Was wir Expressionisten suchen, ist: präzis aus unserem Material den geistigen Gehalt herauszuziehen. Seinen äußersten Ausdruck – und das ist’s gerade, warum man zerquetscht wird in einer Welt, die so tief im Materialismus steckt.“
In der im damaligen geistigen Leben zeittypischen Kontroverse um die Priorität von Geist oder Materie ging es ihm um eine Vergeistigung der Beziehungen der Menschen untereinander, um ein Vertiefen des seelischen Gehalts und eine Abkehr von den grob materialistischen Bedürfnissen und Erscheinungen. Diese Zukunftsvision war aus der Opposition zu den restaurativen Verhältnissen im wilhelminischen Kaiserreich erwachsen; die Notwendigkeit eines geistigen Neubeginns wurde durch die Gewalteskalation im Ersten Weltkrieg grausam bestätigt. Lehmbrucks empfindsames Naturell zerbrach an diesen Widersprüchen – persönliche Nöte, eine unglückliche Liebesbeziehung zu der jungen Schauspielerin Elisabeth Bergner kamen hinzu, so dass der tief melancholische Künstler für sich nur noch den Freitod als Ausweg aus seiner Verzweiflung sah. Auch dieses tragische Schicksal, die Unbedingtheit der persönlichen Zielstellung um den Preis des Selbstopfers, gehört zur Faszination von Lehmbrucks Werk und Person. „Auf kurzes Leben angelegt“, hat Gottfried Benn im Rückblick die – seine – Generation der Expressionisten charakterisiert. Anders als der um zehn Jahre ältere Ernst Barlach, der sich vornehmlich an der altdeutschen Kunst (besonders an mittelalterlichen Skulpturen) orientierte, bestand Lehmbruck auf einem modernen, zeitgemäßen Ausdruck seiner Kunst, weshalb er in Paris den Austausch mit der internationalen Avantgarde suchte. So war es möglich, dass auch nachfolgende Künstlergenerationen an sein Werk anknüpfen konnten – das prominenteste Beispiel dieser Nachfolge ist Joseph Beuys, der Lehmbruck als seinen „Lehrer“ bezeichnet und dessen spirituelles Konzept aufgenommen, die von Lehmbruck entzündete „Flamme“ weitergetragen hat, wie Beuys selbst es formulierte.
Neben den Steingussexemplaren der „Großen Sinnenden“ und des „Gestürzten“ gehört die „Porträtbüste Frau F.“ von 1916 – ein Bildnis der Gattin von Lehmbrucks Mannheimer Mäzen Sally Falk – als grau getönter Gipsguss zur aktuellen Erwerbung.
Bronze und Steinguss waren die von Lehmbruck bevorzugten Materialien für seine Plastiken. Durch seinen Selbstmord im März 1919 und die wirtschaftlich schwierige Situation seiner kurzen Schaffenszeit – sowohl von 1910 bis 1914 in Paris und dann in den Kriegsjahren in Berlin und Zürich – wurde zu seinen Lebzeiten keine der größeren Figuren in Bronze gegossen und auch die meisten Steingüsse wurden erst posthum von der Witwe Anita Lehmbruck bzw. den Söhnen des Künstlers veranlasst. Einige Kritiker sehen darin eine Verwässerung des Lehmbruckschen Werkes – was zu relativieren wäre, denn manche Figur, die beim Tod des Künstlers nur als Gips existierte, wäre ansonsten vermutlich nicht mehr vorhanden. Von den Großplastiken gibt es durchweg nur sehr wenige Exemplare.
Die Stuttgarter „Große Sinnende“ ist laut Werkverzeichnis von Dietrich Schubert (2001) ein alter Steinguss, der bereits 1916 auf Lehmbrucks Personalausstellung in der Kunsthalle Mannheim gezeigt wurde; einige Beschädigungen wurden inzwischen mit Unterstützung der Wüstenrot Stiftung restauriert. [Eine naturwissenschaftliche Analyse im Rahmen der Restaurierung hat kürzlich ergeben, dass es sich bei dem Material der Figur der „Großen Sinnenden“ um Gips handelt. Anm. d. Red.] Von der Ganzfigur existieren laut Schubert noch zwei Gips- und zwei Bronzegüsse. Möglicherweise kommt auch die „Porträtbüste Frau F.“ direkt aus dem Künstlernachlass: Es handelt sich um einen grau getönten Gipsguss mit prägnanten Detailformen.
Der Steinguss des „Gestürzten“ wurde laut Gusskladde der Familie im Frühjahr 1953 hergestellt. (Die Witwe Anita Lehmbruck ist 1961 verstorben.) Im Vergleich zur „Großen Sinnenden“ erscheint die Oberfläche etwas stumpf. Schuberts Werkverzeichnis notiert neben dem Originalgips im Duisburger Lehmbruck-Museum zwei weitere Gips- und drei Bronzegüsse.
Als Lehmbruck die Plastik (Gips) 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, erstmals in einer Ausstellung in Berlin unter dem Titel „Sterbender Krieger“ gezeigt hat, stieß er vor dem Hintergrund allgemeiner Kriegsbegeisterung aufgrund der pazifistischen Aussage und der abstrahierten Formensprache auf heftige Ablehnung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen sah der Kunstwissenschaftler Werner Hofmann „diese Gestalt […] ohne Vergleich in der ganzen Weltgeschichte der Plastik“. Die von ihm dabei angeführte Allgemeingültigkeit der Aussage besitzt Relevanz bis in unsere kriegsbedrohte Gegenwart.
Zum Verständnis von Lehmbrucks Skulpturen ist sein zeichnerisches Werk von großer Bedeutung, da es hier viele Vor- und Nacharbeiten sowie schriftliche Notizen auf den Blättern gibt. Die Arbeiten auf Papier – und das betrifft auch die Druckgraphik – veranschaulichen die Komplexität von Lehmbrucks Künstlertum und bringen dabei einen anderen, mehr lyrischen Wesenszug seiner Künstlerpersönlichkeit, verbunden mit einer betonten Sinnlichkeit, zum Ausdruck, während die exemplarischen plastischen Gestalten, vor allem die männlichen, mehr Verkörperungen eines metaphysischen Wollens, eines geistigen Prinzips und am Ende existenzieller Verlorenheit darstellen. Schon Zeitgenossen erkannten als charakteristisch für Lehmbruck diesen inneren Konflikt zwischen der Welt der Sinne und des Geistes, ein „seltsam mystisches Zusammenfließen von Elementen der gotischen und hellenischen Welt“, so nannte es 1919, aus Anlass von Lehmbrucks Tod, der Dichterfreund Hans Bethge in seinem Nachruf.
Die 20 jetzt erworbenen Zeichnungen sind alle in der sogenannten Reifezeit, das heißt nach 1910, entstanden und mit Bleistift, Feder, Pinsel und Tusche sowie mit Kohlestift ausgeführt; zwei sind signiert. Mehrere Arbeiten beziehen sich direkt auf das plastische Werk, etwa den „Emporsteigenden Jüngling“, den „Gestürzten“, den „Sitzenden Jüngling“ (1916/17) – das zweite plastische Hauptwerk der Kriegsjahre mit pazifistischer Aussage – und auf weibliche Gestalten. Auch Vorarbeiten für nicht ausgeführte Plastiken sind darunter.
Die Auswahl der 44 Kaltnadelradierungen und 5 Lithografien gibt einen repräsentativen Querschnitt durch das druckgraphische Œuvre von Lehmbruck, das thematisch mit Bezügen zur Literatur, zu christlicher und antiker Ikonographie, mit erotischen Umarmungen und dramatischen Untergangsszenen über seine Skulpturen hinausgeht. Erwin Petermann ist zuzustimmen, wenn er feststellte: „Die verschlossene, noch heute rätselhafte Persönlichkeit Lehmbrucks hat sich im graphischen Werk geöffnet.“ Der privilegierte Zugriff des Autors auf den graphischen Nachlass wird in der Auswahl der Blätter durch besonders rare Zustände, Probedrucke und insgesamt 36 Künstlersignaturen deutlich. Zehn Graphiken sind von der Witwe Anita Lehmbruck signiert, drei sind mit dem Nachlassstempel bezeichnet.
Durch die aktuelle Erwerbung des Lehmbruck-Ensembles – inklusive des dort bereits vorhandenen Lehmbruck-Bestandes (fünf Skulpturen, zwei Zeichnungen, sechs Druckgraphiken – darunter auch Leihgaben) – ist die Staatsgalerie Stuttgart nunmehr im Besitz einer der umfangreichsten Kollektionen dieses Künstlers.
Förderer dieser Erwerbung: Kulturstiftung der Länder, Ernst von Siemens Kunststiftung, Museumsstiftung Baden-Württemberg