Singen im Advent

Passgenau eingefügt in die gotischen Gewölbebögen verschenken die dunklen Bücherregale der Bibliotheca domus presbyterorum des ehemaligen Augustinerchorherrenklosters Gaesdonck keinen Zentimeter Fläche. Bedacht, denn immerhin fasst die Bibliothek des 1406 gegründeten Klosters gegenwärtig rund 6.000 Bände. Als Bestandteil des Internats Collegium Augustinianum Gaesdonck ist die Bücherei heute fest in den schulischen Alltag eingebunden. Zu dem historischen Buchbestand zählen 54 noch heute erhaltene Handschriften, etwa genauso viele konnten im Lauf der Jahrhunderte nicht mehr bewahrt werden. Die Handschrift CAG HS 27 ist eine dieser erhaltenen Schriften und verbirgt hinter ihrer förmlichen Bezeichnung ein großes musikalisches Potenzial: Der verhältnismäßig zurückhaltend gestaltete, lederbezogene Holzdeckeleinband mit Messingschließen umfasst auf 389 Seiten Pergament sogenannte Antiphonalen – als Wechselgesang angelegte Stücke der Kirchenmusik – für die Zeitspanne vom ersten Advent bis zum Karsamstag. Die einzelnen Pergamentseiten halten neben den ganzseitig über 10 Zeilen zwischen roten Linien angeordneten Texten der Gesänge auch die dazugehörigen Notationen in schwarzer Tinte fest.

Seiten mit Notation und Text nach der Restaurierung, Foto: Vera Gremme, Antje Brauns
Seiten mit Notation und Text nach der Restaurierung, Foto: Vera Gremme, Antje Brauns

Die Handschrift entstand im 15. Jahrhundert; ein Katalogeintrag registriert sie als ehemaligen Bestandteil des benachbarten Zisterzienserinnenklosters Gräfenthal, das 1802 säkularisiert wurde. Es folgten wechselhafte Zeiten, welche das Antiphonale nicht unberührt ließen: So litt es, wie viele Teile der Bibliothek, unter den Kriegsereignissen im Jahr 1945, die die Region des Niederrheins schwer trafen. Im Verlauf der Zeit war das Antiphonale für die Liturgie buchstäblich nicht mehr greifbar, denn zahlreiche Randbeschädigungen und die gelöste Bindung der Seiten hatten den Gebrauch als Gesangbuch für die Chorgemeinschaft längst nicht mehr zugelassen. Darüber hinaus waren die Seiten verschmutzt, auch Tintenfraß – eine chemische Reaktion der verwendeten Schreibflüssigkeit – hatte der Musikschrift stark zugesetzt. Dank der Unterstützung des Freundeskreises der Kulturstiftung der Länder konnte die umfassende Restaurierung in diesem Jahr abgeschlossen werden.

Restaurierter Bucheinband des Antiphonales, Foto: Vera Gremme, Antje Brauns
Restaurierter Bucheinband des Antiphonales, Foto: Vera Gremme, Antje Brauns

Gemeinsam mit der Zwillingsschrift CAG HS 28, die bereits im Jahr 2014 restauriert wurde und das Antiphonale von Ostern bis zum Advent einschließt, deckt das nun erfolgreich wiederhergestellte Gesamt-Antiphonale das musikalische Kirchenjahr lückenlos ab. Die Schüler vom Collegium Augustinianum Gaesdonck können das Antiphonale zukünftig aus nächster Nähe erleben, denn im Unterrichtsfach Musik soll das kostbare Zeugnis der Vergangenheit bildhaft vor Augen führen, wie es bereits im Mittelalter gelang, Musik zu Pergament zu bringen. Auch den Verlauf des Kirchenjahres mit seinen Festen und Traditionen wird die Musikschrift im Rahmen der Katholischen Religionslehre veranschaulichen. Nicht zuletzt wird die mittelalterliche Handschrift zu ihrer ursprünglichen Verwendung im liturgischen Gebrauch im Gottesdienst zurückfinden und die Chorgemeinschaft in Gaesdonck stimmungsvoll durch die Adventszeit begleiten.