Silhouetten im Schatten
Wer im Lotte-Reiniger-Archiv des Tübinger Stadtmuseums die Vielfalt der künstlerischen Objekte bewundert, ist überwältigt von der Reichhaltigkeit und dem außerordentlichen handwerklichen Können der Künstlerin. Sie schnitt filigrane Silhouetten, vom bloßen Umrissschnitt bis zu groß angelegten eigenständigen Kompositionen, schuf einzigartige Figuren für das Schattentheater und für den Silhouettenfilm. Lotte Reiniger, 1899 in Berlin geboren, kam schon 17-jährig zum Deutschen Theater, wo ihre ersten Silhouettenschnitte zu Szenen mit bedeutenden Schauspielern entstanden sind. Im 1919 gegründeten Institut für Kulturforschung – einem von jungen Künstlern und Wissenschaftlern initiierten Atelier für Animationsfilme – hatte Reiniger die Gelegenheit, zusammen mit Kollegen maßgeblich die Entwicklung des Trickfilms voranzutreiben. „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“, zusammen mit ihrem Ehemann Carl Koch 1926 in Berlin und Paris vorgestellt, war der erste abendfüllende Trickfilm der Filmgeschichte. Reiniger lieferte 1930 mit dem Film „Zehn Minuten Mozart“ und dem darin geschaffenen inhaltlichen und funktionalen Bezug von Musik und Film den entscheidenden Beitrag zum frühen Tonfilm.
Bis in die 1960er Jahre nahm die Künstlerin Filme auf. Am bekanntesten und häufigsten auch vom Fernsehen ausgestrahlt sind ihre Märchen- und Opernfilme. Reiniger zog 1935 nach London um, arbeitete in Paris, Rom und von 1943 bis 1949 noch einmal in Berlin. In diesen Zeiten hatte sie nicht immer einen Tricktisch zum Aufnehmen ihrer Filme zur Verfügung und trat auch als Schattentheaterspielerin auf. Während eines Aufenthaltes in Athen 1936 lernte sie das Schattentheaterspiel der Griechen kennen. Sie übernahm deren Technik und schrieb Stücke für unterschiedliche Bühnen, die sie selbst aufführte. Den Scherenschnitt als künstlerische Technik hatte Reiniger zu einer bis dahin nicht gekannten Hochform entwickelt. Nach den frühen Theaterszenen schuf sie komplexe Folgen zu König Artus oder zu Mozartopern, zu mythologischen Themen oder zu Märchen. Ihr gelang es, im Medium Scherenschnitt in einem Bild komplexe erzählerische Zusammenhänge festzuhalten. Oftmals schnitt die Künstlerin ihre Silhouetten aus der Hand: „Meine Hände gehen schon so lange mit der Schere um, dass sie von ganz allein wissen, was sie tun müssen.“ Lotte Reiniger hat in allen drei Gattungen – Scherenschnitt, Schattentheater, Silhouettenfilm – die Entwicklung im 20. Jahrhundert entscheidend geprägt und neue Maßstäbe geschaffen.
Reiniger starb 1981 in der Nähe von Tübingen, wohin sie noch kurz zuvor umgezogen war. Ihr außergewöhnlicher künstlerischer Nachlass gelangte in das dortige Stadtmuseum. Eine Dauerausstellung, die einen Querschnitt durch das Leben und Schaffen Reinigers zeigt, konnte 2008 eingerichtet werden, ebenso ein Archiv, in dem alle mittlerweile inventarisierten Objekte für die Forschung zugänglich sind. Neben Manuskripten, Fotos und Zeitungsartikeln hat Tübingen das Glück, die gesamte Bandbreite der Scherenschnitte, viele Silhouettenfilmfiguren, die in die Filmgeschichte eingegangen sind, Filmhintergründe und Theaterfiguren zu besitzen – eine hervorragende Basis für die Forschung sowie eine zentrale Grundlage für die Präsentation und Dokumentation der Schnittkunst.
Alle Kunstwerke sind Papierarbeiten und in einem teils sehr beklagenswerten Zustand: Vielfach von der Künstlerin genutzt, zeigen sie zahlreiche Gebrauchsspuren. Auch die Wirkung des Klebstoffs, der die Einzelteile zusammenhält, hat stark nachgelassen. Hier müssen die wertvollen Arbeiten behutsam restauriert und neu gesichert werden. Zahlreiche Scherenschnitte müssen neu befestigt werden, Einrisse geklebt und stabilisiert werden, Oberflächen sollen gereinigt werden. Filmhintergründe müssen neu geklebt und Einzelteile neu befestigt werden. Dazu sollen Klebereste entfernt und durch neue Klebung ersetzt werden. Auch die Theaterfiguren und Kulissen bedürfen dringend einer Stabilisierung und Festigung, teilweise sind auch Retuschen nötig. Ein Aufschieben der Restaurierung der Werke würde irreparable Schäden verursachen. Die Kosten werden auf rund 40.000 Euro geschätzt, so dass das Lotte-Reiniger-Archiv hofft, zahlreiche Unterstützer für diese grundlegenden Arbeiten zu gewinnen. Das Stadtmuseum Tübingen möchte seinen Schatz der Forschung zugänglich lassen und den vielen, auch internationalen Leihanfragen, die jährlich gestellt werden, nachkommen, um so die wichtigen Zeugnisse der Schnittkunst und frühen Filmgeschichte einem breiten Publikum bekannt zu machen. In den vergangenen Jahren sind zu diesem Thema wichtige Filmbeiträge entstanden: Alle Filme Lotte Reinigers sind heute auf DVD in einer neuen Edition erhältlich. Noch in diesem Jahr kommt der arte-Dokumentarfilm „Der Tanz der Schatten“ zur Ausstrahlung, der das Leben der Künstlerin nachzeichnet. Damit solche Projekte auch zukünftig möglich sind, sind die umfassenden Restaurierungsmaßnahmen unumgänglich. Unterstützen Sie das Tübinger Stadtmuseum dabei, damit dieses kostbare filmkünstlerische Erbe gerettet werden kann.