Sieben Engel für Anna
Glücklich wirken die beiden nicht in ihrem gläsernen Gehäuse. Der eine Putto lutscht am Finger und schaut ratlos unter seinem Helm hervor. Der andere legt die Stirn in Falten und scheint im nächsten Moment vor Verzweiflung zu weinen. Ganz davon abgesehen, dass ihr Babyspeck jeden Kinderarzt auf den Plan rufen muss. Man könnte also leicht auf den Gedanken kommen, die Quarantäne gehe den Knirpsen ans Gemüt. In gewisser Weise ist es ja auch schwierig, sie mit ihren fünf Kollegen eine Etage tiefer im Augsburger Maximilianmuseum zusammenzuführen und am besten gleich noch in eine plausible Reihe zu bringen.
Das ändert freilich nichts an der Sensation. Denn das war die Entdeckung der Engelsfiguren auf dem französischen Kunstmarkt – und mehr noch der u. a. mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder geglückte Ankauf für das Stammhaus der Augsburger Sammlungen nahe der Sankt-Anna-Kirche. Dort wurden die Putten des Bildhauers Hans Daucher (1486–1538) vor fast 500 Jahren in der Fuggerkapelle aufgestellt, das heißt, in dem Sakralraum, der für die Rezeption der italienischen Renaissance in Deutschland von erheblicher Bedeutung ist.
Allerdings ging man immer von sechs Exemplaren aus, fünf im Original erhaltenen und einem verschollenen. Einen siebten Putto hatte niemand auf dem Schirm, weder die Spezialisten, noch mit der Familie Fugger die einstigen Besitzer. Und nach dem Versteigerungskrimi beim Auktionshaus Sotheby’s im Mai 2019 ergibt sich daraus ein nicht weniger spannender Fall für die Forschung. Zumal die originellen Kalkstein-Skulpturen Teil eines ausgetüftelten Gedächtnisprogramms sind, das zugleich die Macht und den Reichtum der Augsburger Patrizierfamilie vor Augen führen sollte.
Jakob Fugger zog alle Register. Tief im Inneren muss er gespürt haben, dass die alten Autoritäten bald ins Wanken geraten würden und auf Fortuna sowieso kein Verlass war. Eben erst hatte er sein länderübergreifendes Unternehmen vor dem Bankrott bewahren können. Mit dem Tod des Kardinals und Brixner Fürstbischofs Melchior von Meckau drohte das Kapital eines Großinvestors wegzubrechen. Doch der wiederum vom Geld der Fugger abhängige Kaiser Maximilian I. intervenierte, und die Augsburger Bankiers- und Handelsdynastie blieb obenauf. Fast. Denn die betuchten Fugger gehörten keineswegs zur reichsstädtischen Elite. Selbst die Erhebung 1511 in den Adels- und drei Jahre später in den Reichsgrafenstand sollte daran nichts Gravierendes ändern.
Der mangelnden Anerkennung konnte man nur mit der eigenen finanziellen Potenz begegnen – und sich dabei königlich gerieren. Für Jakob Fugger und seine Brüder Georg und Ulrich war das eine prachtvolle Grablege, die ihren wahren Rang bis in alle Ewigkeit unterstreichen sollte. Maximilian hatte es ja vorgemacht und für Wien ein in jeder Hinsicht monumentales Gesamtkunstwerk in Auftrag gegeben, das heute mit seinem megalomanen Stammbaum aus 28 überlebensgroßen Bronzefiguren, den „Schwarz-Mandern“, in der Innsbrucker Hofkirche staunen lässt.
Mit herausragenden Vorfahren konnten die Fugger natürlich nicht auftrumpfen, folglich planten sie lieber für die Zukunft der Familie und versuchten zugleich, das eigene Seelenheil zu sichern. Das Karmeliterkloster schien dafür ideal: Mit den Brüdern des beim Volk beliebten Bettelordens wurde 1509 die Erweiterung der Annakirche um eine Grabkapelle vereinbart, und im Gegenzug verpflichteten sich die Mönche zu Prozessionen und Messen für die Fugger. Bis zum Jüngsten Tag. Zudem sollte die Memoria allein der Stifterfamilie vorbehalten bleiben.
Das Projekt ließ sich gut an, namhafte Künstler wurden für den Bau gewonnen, von Albrecht Dürer, auf den unter anderem die Architektur der Kapelle zurückgeht, bis zu den Malern Hans Burgkmair und Jörg Breu d. Ä. sowie den weit über Augsburg hinaus renommierten Steinbildhauern Adolf und Sohn Hans Daucher aus Ulm. Genauso ambitioniert war das Konzept der Ausstattung, das mit seiner Ikonografie ganz auf die drei Fugger-Brüder abgestimmt wurde und im Zentrum einen Fronleichnamsaltar mit einem Schmerzensmann vorsah, gestützt von Maria, Johannes und einem Engel. Geld spielte keine Rolle, mit der immensen Summe von 23.000 Gulden verschlang die Kapelle mehr als das Doppelte der nicht gerade kleinen Fuggerei mit über 100 Sozialwohnungen.
Jakob Fugger hatte sein Ziel erreicht, und die bereits 1506 und 1510 verstorbenen Brüder konnten angemessen beigesetzt werden. Doch nur wenige Monate nach der Einweihung der Kapelle am 17. Januar 1518 hatten die Karmeliter Besuch aus Wittenberg: Martin Luther war zur Anhörung nach Augsburg gekommen – und widerrief bekanntlich keine seiner Thesen. Vielmehr trafen Luthers Gedanken bei den Bürgern und speziell bei den Mönchen auf fruchtbaren Boden. Unter dem Prior Johannes Frosch entwickelte sich das Sankt-Anna-Kloster sogar zu einer Keimzelle der Reformation in Augsburg. Dass sich die Karmeliter den Vereinbarungen mit den Stiftern der Grabkapelle nicht mehr verpflichtet fühlten, war zu erwarten. Und Jakob Fugger musste ohnmächtig zusehen, wie sich sein Traum von einer immer fortwährenden Fürsprache und ewigem Ruhm zu verflüchtigen begann.
Mit einer glorreichen Memoria waren auch die Putten verknüpft, und das könnte letztlich Aufschluss über ihre Anzahl geben. Dass sie überhaupt ins Spiel kamen, hatte wohl mit einem gehörigen Verzug zu tun. Denn ein beim Nürnberger Rotschmied Peter Vischer bestelltes Messinggitter zur Abtrennung der Kapelle wurde ewig nicht geliefert. In der Zwischenzeit behalf man sich mit einer Brüstung aus Stein, für die Hans Daucher ein halbes Dutzend sehr individueller Putten geschaffen hat. So legen es jedenfalls zwei Zeichnungen des Kirchenraums aus dem 16. und 17. Jahrhundert nahe.
Sechs Figuren sind da zu sehen, jede stützt sich auf eine knödelige Kugel, die als Sinnbild für die Welt gelten darf. Und Daucher kommt nicht nur zu unterhaltsam dekorativen Lösungen, sondern reflektiert und konzentriert das Programm der Grabkapelle noch einmal im räumlich Überschaubaren, anrührend Kindlichen. Durch Attribute wie Helm, Brustpanzer und Notenblatt könnte man etwa an „Arma et litterae“ denken, also an den Topos von Kriegskunst und humanistischer Bildung, den man dann aber doch eher einem Staatsoberhaupt zuweisen würde. Die Fugger haben Feldzüge lediglich finanziert.
Auffallend ist dagegen das Hindeuten auf die menschlichen Sinne Hören, Sehen, Schmecken, Riechen, Fühlen: Der erste Putto zeigt auf sein Ohr, der zweite hat die Finger am Auge, der dritte am Mund, und einer der beiden Neuzugänge weist auf seine ausgeprägte Stupsnase. Damit wäre die leibliche Auferstehung auf besonders delikate Weise anschaulich gemacht.
Wie nach getaner Arbeit lehnt außen der lässigste von allen Knaben an seiner Kugel und streckt dem Betrachter ganz unbekümmert sein Gemächt entgegen. Virtus, die Manneskraft, ist damit gemeint, auch der Aufstieg der Familie Fugger – passend dazu trägt der Kleine Flügelhelm und Harnisch. Und schließlich sind drei der Putten mit Lorbeerkränzen ausgestattet, das dürfte der symbolische Verweis auf das Stifter-Trio Jakob, Georg und Ulrich Fugger sein. Man kann also aus Attributen und differenzierter Gestaltung ein mehr oder weniger schlüssiges Konzept filtern. Aber wofür steht der tief betrübte Engel mit seinem Blütenkranz im Haar?
Nie ist von sieben Putten die Rede. Auch nicht bei der wenig feinfühligen Ausräumung der Annakapelle 1817, im Jubiläumsjahr der Reformation. Die Ausstattung ging damals an die Nachkommen der Fugger, und im Inventar der Stiftung werden 1821 „sechs Engelsköpfe von Stein“ erwähnt. Zwei davon erwarb der Berliner Bankier und Kunstsammler Baron Arthur von Schickler im späten 19. Jahrhundert – das ist im Fugger-Archiv jedoch nicht dokumentiert. Dessen Tochter Marguerite hat 1890 in die französische Grafenfamilie Pourtalès eingeheiratet, auf diesem Wege sind die Putten nach Frankreich und konkret in die Normandie gelangt, wo auf Schloss Martinvast der größte Teil der vor einem Jahr versteigerten Kunstsammlung Schickler-Pourtalès untergebracht war.
Als man in den 1920er-Jahren begann, die Fuggerkapelle zu rekonstruieren, musste man also von sechs Putten ausgehen. Fünf konnten in der Umgebung ausfindig gemacht werden, der fehlende sechste wurde durch eine Neuschöpfung ersetzt – kurioserweise mit einer Flöte –, und in der Abfolge hielt man sich an die erwähnte Architekturzeichnung aus dem 16. Jahrhundert. Eine Nummer sechs war höchst willkommen, doch was fängt man mit dem siebten Putto an?
Für Christoph Emmendörffer, den Leiter des Maximilianmuseums, sind die Lorbeerkränze der Schlüssel zu Engel Nummer sieben, der durch seine schiere Verzweiflung und den Blumenkranz tatsächlich aus der Reihe fällt. Da nur Jakob die Weihe der Annakapelle erlebte, könnte es sein, dass der ihm zugedachte Lorbeer-Putto zurückbehalten wurde – ein solches Würdezeichen setzt man sich nicht zu Lebzeiten aufs Haupt – und zunächst der greinende Außenseiter auf der Brüstung Platz fand. Der Blumenkranz steht für die Vergänglichkeit, und der Gebetsgestus führt wiederum zum Thema der Grabkapelle: Nach dem Tod Christi folgt die Auferstehung.
Dann müsste aber die bisherige Datierung um 1530 ein gutes Stück vorverlegt werden, betont Emmendörffer. Doch vielleicht fügt sich eine Umdatierung sogar besser in die Biografie ihres Schöpfers, der 1528 plötzlich vor dem Ruin stand. Hans Daucher war von einer Reise zurückgekommen und fand seinen Haushalt aufgelöst. Bei Ehefrau Susanna war eine Versammlung der verbotenen Wiedertäufer entdeckt worden, sie musste die Stadt verlassen, die gemeinsamen Kinder kamen in fremde Obhut. Daucher hat sich davon nie mehr erholt, das einst beträchtliche Vermögen war aufgebraucht, und er galt den Augsburger Steuerverwaltern als „Habnit“. Ob man in einer solchen Situation ein derart ausgefeiltes Programm bildhauerisch so differenziert umsetzt?
Es könnte aber auch alles ganz anders gewesen sein. Die Quellenlage lässt Raum für kühne Spekulationen, und die Fuggerkapelle war ja kein abgeschlossenes Projekt. Die Reformation hat hier einiges durcheinandergewirbelt, gerade im Sankt-Anna-Kloster. Und als die Putten um 1550 erstmals auf der Zeichnung „aktenkundig“ wurden, war selbst der als Nachfolger Jakob Fuggers gehandelte Raymund Fugger schon 15 Jahre tot. Womöglich stammen die Figuren aus einem ganz anderen Zusammenhang und sollten gar nicht auf der Balustrade landen? Vielleicht hatte der ausgesprochen kunstsinnige und geschichtsbewusste Raymund Fugger sogar Pläne für ein eigenes Denkmal? Die Ermittlungen sind in vollem Gange, ob man den Fall bis ins Letzte lösen kann, bleibt fraglich.
Maximilianmuseum
Fuggerplatz 1, 86150 Augsburg
Telefon 0821-3244102
www.kunstsammlungen-museen.augsburg.de