Sehnsucht nach Wirklichkeit

Im tibetischen Buddhismus gibt es eine berühmte Geschichte über Padmasambhava, den tantrischen Meister, der im 8. Jh. n. Chr. den Buddhismus in Tibet eingeführt haben soll. Als er in dem 60 km südöstlich von Lhasa gelegenen Kloster Samye eine Statue sah, die ihn darstellte, soll er ausgerufen haben: „Sie sieht aus wie ich!“. Dann, so berichtet die Legende, habe Padmasambhava die Statue gesegnet und gesagt: „Jetzt ist sie mir gleich!“. Es heißt, die Statue sei während der Wirren der Kulturrevolution zerstört oder geplündert worden. Das einzige, was heute von ihr bleibt, ist eine nachträglich kolorierte und digital bearbeitete Schwarz-Weiß-Fotografie, die die Königinmutter des Königreichs Sikkim Mitte der 1930er-Jahre während ihrer Reisen in Zentral­tibet aufnahm. Diese Fotografie ist inzwischen auch im Internet weit verbreitet und genießt bei Praktizierenden des tibetischen Buddhismus tiefe Verehrung, überliefert sie doch das einzige, von Padmasambhava selbst ‚autorisierte‘ Abbild des Meisters.

Gleich in mehrfacher Hinsicht veranschaulicht die Geschichte vom Bildnis des Padmasambhava zentrale Aspekte des Spannungsverhältnisses zwischen Original und Abbild, Kunstwerk und Reproduktion, Identität und Differenz, das Kunst-, Medien- und Kulturtheorien seit langem behandeln und zu beschreiben suchen. Padmasambhava überwindet einerseits die Differenz, die augenscheinlich zwischen ihm und seinem Abbild besteht, indem er Wesensgleichheit zwischen beidem erklärt. Die Fotografie der verlorenen Originalstatue steht andererseits stellvertretend für diese Statue etwa in der buddhistischen Meditations­praxis, offenbar ohne dass die Differenz zwischen Kunstwerk und Reproduktion dieser Praxis entgegensteht. Prinzipiell verstärkt wird diese Differenz zwischen Kunstwerk und Reproduktion schließlich dadurch, dass die Reproduktion nachträglich manipuliert wurde. In welchem Verhältnis genau Kunstwerk und Reproduktion in diesem Fall stehen, ist also für Betrachterinnen und Betrachter der Reproduktion nicht ohne weiteres zu beurteilen. Noch ein weiterer Aspekt kommt hinzu: In dem Versuch, die fotografische Reproduktion dem verschollenen Original möglichst ähnlich zu machen, sie mit technischen Mitteln wieder ‚zum Leben zu erwecken‘, drückt sich wohl auch die Sehnsucht praktizierender Buddhisten danach aus, im Abbild dem Original zu begegnen. Ist dies die Sehnsucht nach der Realität hinter dem Schein?

In Zeiten des Medienwandels, in denen neue, effektive Verfahren der Darstellung, Vervielfältigung und Verbreitung kultureller Inhalte aufkommen, ist es besonders wichtig, die Konsequenzen eines solchen Medienwandels in den Blick zu nehmen. Dazu zählt auch die Frage, ob und wie sich der Medienwandel auf das Verhältnis zwischen Original und Abbild, zwischen Kunstwerk und Reproduktion auswirkt und wie er gegebenenfalls künstlerisch-kreative Ausdrucksformen einerseits und Rezeptionsweisen andererseits beeinflusst. Darüber hinaus geht es aber immer auch um Fragen mit politischer und ethischer Dimension: Inwieweit ist es Rezipientinnen und Rezipienten möglich, die Reproduktion als solche zu erkennen? Ist ihr Verhältnis zum Original stets transparent und nachvollziehbar? Sind Fakten und Fiktion jeweils als solche gekennzeichnet?

In seinem berühmten Aufsatz „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hat Walter Benjamin im Pariser Exil vor 85 Jahren insbesondere Fotografie und Film als technische Instrumente der massen­haften Vervielfältigung und Verbreitung kultureller Inhalte aus kulturtheoretischer, kultur­soziologischer und politischer Perspektive betrachtet. Um die Differenz zwischen Kunstwerk und technisch erzeugter Reproduktion begrifflich und theoretisch zu fassen, führt Benjamin das Konzept der „Aura“ ein, das sich aus der „Echtheit“, der „geschichtlichen Zeugenschaft“ und der „Autorität“ der „Sache“ ergibt. Diese „Aura“, so Benjamin, „verkümmert“ im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks: „Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte.“

Man wird Benjamins essentialistischer Konzeption des Kunstwerks und seiner Aura aus heutiger Sicht nicht unumwunden folgen wollen. So setzt die gemeinsame Anerkennung von „Tradi­tion“, „Echtheit“, „geschichtlicher Zeugenschaft“ und „Autorität“ eine Teilhabe der Aufnehmenden an einer Interpretationsgemeinschaft voraus, denn keine dieser Qualitäten wohnt den Dingen substantiell inne. Darüber hinaus schärfen gerade auch postkoloniale Ansätze in den Kulturwissenschaften unseren Blick für die Vielfalt und mögliche Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Perspektiven auf dieselben Dinge: Es gibt eben nicht nur die eine Tradition, die eine Zeugenschaft oder die eine Autorität. Der Ethnologe Hans Peter Hahn betont in diesem Zusammenhang sogar die „Unabschließbarkeit der Bewertung von Dingen“ sowie die „Ambivalenz der Dinge“. Es könne nicht die „Aufgabe einer kulturwissenschaft­lichen Perspektive sein, solche Widersprüche auszulöschen“, stellt Hahn in seinem 2015 erschienenen Aufsatz „Vom Eigensinn der Dinge“ fest. Vielmehr müsse sie die Ambivalenz „als ein Potential der Perspektive auf materielle Kultur insgesamt betrachten“. Schließlich lehrt uns die Geschichte der verschollenen Padmasambhava-Statue im tibetischen Kloster Samye, dass in bestimmten Interpretationsgemeinschaften die ‚Echtheit‘ der Reproduktion sogar durch einen Sprechakt erzeugt und damit die wahrgenommene Differenz zwischen ‚Original‘ und ‚Abbild‘ überwunden werden kann.

Auch die politische Dimension der massenhaften Vervielfältigung und Verbreitung kultureller Inhalte beschäftigte Walter Benjamin in seinem bereits erwähnten Essay, der damit auch zu einem frühen, deutlichen Mahnruf gegen die Instrumentalisierung insbesondere des Films durch die NS-Diktatur in Deutschland wurde: „Der Faschismus läuft folgerecht auf eine Ästhetisierung des politischen Lebens hinaus. Der Vergewaltigung der Massen, die er im Kult eines Führers zu Boden zwingt, entspricht die Vergewaltigung einer Apparatur, die er der Herstellung von Kultwerten dienstbar macht.“

Knapp ein Jahrhundert später, im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit der Welt, ringen wir, so scheint es, immer noch um Antworten auf Fragen, die den von Benjamin formulierten sehr ähnlich sind: Ist es eine „Aura“, die das analoge Original vom digitalen Modell unterscheidet? Kann und soll die Begegnung mit dem Digitalisat die leibhaftige Anschauung des Kunstwerks ersetzen? Wie kann ich sicher sein, dass die digitale Reproduktion nicht manipuliert ist? Wie verändern digitale Massenmedien unsere Wahrnehmung? Wieder einmal stehen wir am Anfang eines Medienwandels, der Veränderungen gerade auch in der Kommunikation mit sich bringt – die Sozialen Medien sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Doch immer noch wird die Diskussion um die digitale Transformation unserer Gesellschaft vielfach so geführt, als hätten wir eine Wahl, als könnten wir uns noch gegen Digitalität in unserem Leben entscheiden, als ließe sich das postdigitale Knäuel aus Digitalem und Nicht-­Digitalem ohne Weiteres entwirren. Wäre es stattdessen nicht ungleich wichtiger, mit noch größerem Eifer als bisher dafür zu sorgen, dass uns die demokratische Kontrolle über die machtvolle „Apparatur“ des Digitalen nicht entgleitet, dass das Digitale nicht zum Instrument einer „Vergewaltigung der Massen“ wird?

Manchmal ertappe ich mich dabei, wie ich Zuflucht im Nicht-Digitalen nehme, ein Gebet gegen die Flüchtigkeit: der Duft vergilbter Buchseiten, fragil knisternde Opernaufnahmen, Keilschrift! Diese Dinge kann ich riechen, hören, anfassen, sie sind wirklich da. Sind das nur die Sinne, die zu ihrem Recht kommen wollen, oder ist es doch mehr: die Sehnsucht nach dem Verlässlichen, Wirk­lichen, Wahren? Fotografie und Film haben uns gelehrt, dass wir unseren Augen nicht trauen dürfen. In den virtuellen Erfahrungsräumen des Digitalen lernen wir, uns in verschiedenen ‚Realitäten‘ zu bewegen und unsere ‚Identitäten‘ darin stets neu zu konstruieren. Und wir verstehen einmal mehr, dass Wirklichkeit und Wahrheit jenseits all dieser Bilder, Namen und Geschichten liegen. Genau so habe ich auch immer die Legen­de vom Bildnis des Padmasambhava verstanden.