Schriften über Schriften

„Hänsel und Gretel“, „Der Froschkönig“ oder „Aschenputtel“: Die minutiöse Arbeitsweise der Brüder Grimm beim Zusammentragen unzähliger Geschichten und Sagen formte im 19. Jahrhundert nachhaltig den Kanon klassischer Erzählungen. Doch die Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) waren weitaus mehr als Märchenerzähler. Sie prägten entscheidend die Entwicklung der modernen Germanistik und setzten sowohl literaturgeschichtlich als auch sprachwissenschaftlich Maßstäbe, beispielsweise durch ihre Vorreiterrolle in der konsequenten etymologischen Untersuchung europäischer Sprachen. Die Stadt Kassel erwarb jüngst die langjährige Korrespondenz der Brüder mit dem Verlag der Dieterich’schen Buchhandlung Göttingen, bzw. dem Mitinhaber Friedrich Schlemmer. Die Handschriften der Brüder Grimm ermöglichen der Forschung wichtige Einblicke in Werk und Wirken der beiden Publizisten – im Besonderen, da diese Geschäftsbeziehung sich über die gesamte Schaffensperiode erstreckte und aus ihr viele wichtige Veröffentlichungen hervorgingen. Aufgrund der außerordentlichen Bedeutung für die deutsche Sprach-, Literatur- und Kulturgeschichte wurden die Autographen bereits in das Verzeichnis national wertvollen Kulturguts aufgenommen.

Dem Konvolut, bestehend aus 18 Briefen und 14 Schriftstücken aus der Feder Jacobs sowie 42 Briefen und 14 Schriften Wilhelms, lassen sich wichtige Informationen zur konkreten Arbeitspraxis der beiden Germanisten entnehmen: Wertvolle Details zu gestalterischen Fragen wie die Wahl der Drucker oder Illustrationen werden diskutiert, aber auch Geschäftliches wie Honorarvereinbarungen und Buchbestellungen findet sich in den Briefen. Sie bergen erhellende Einsichten in die inhaltliche und konzeptuelle Werkgenese von einigen der wichtigsten Publikationen der Grimms, wie zum Beispiel den „Kinder- und Hausmärchen“ oder „Ueber den altdeutschen Meistersang“. Auch werfen sie Licht auf die komplexe Auflagengeschichte des bahnbrechenden Kompendiums „Deutsche Grammatik“ – Jacobs Werk von 1819 über die geschichtlichen Zusammenhänge der Sprachen Europas. Der politische Hintergrund des Vormärz und der Restauration verleiht der Korrespondenz weiterhin eine außerordentliche zeitgeschichtliche und literatursoziologische Relevanz: Die über 30 Jahre lang in Kassel ansässigen Geschwister engagierten sich in hohem Maße politisch, setzten sich unter anderem für den Zusammenschluss der Kleinstaaten zum gesamtdeutschen Nationalstaat ein. Jacob, als einer der „Göttinger Sieben“ wegen Kritik am König von Hannover des Landes verwiesen, erhielt später einen Ehrenplatz als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung von 1848. Die sich aus den aktuellen Geschehnissen ergebenden Konsequenzen für die Verlagsarbeit spiegeln sich in den Handschriften wider.

Mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Kulturstiftung Hessen gelang nun der Ankauf der Grimm’schen Autographen für die Murhardsche Bibliothek. Die Handschriften komplettieren für die zukünftige Forschung ihre in der Berliner Staatsbibliothek befindlichen Gegenstücke – die Briefe des Verlags an die Brüder – und erlauben nun die beidseitige Aufarbeitung der Verlagskorrespondenz. Die Stadt Kassel, langjähriger Ort der Grimm-Forschung und seit 2015 Träger des neueröffneten Museums „Grimmwelt“, eignet sich ausgezeichnet für die zukünftige Aufbewahrung, Erschließung und Präsentation der wichtigen Quellen. Das vorliegende Konvolut erweitert die Grimm-Sammlung von Stadt und Universitätsbibliothek auf nun über 700 Autographen und wird dazu beitragen, dass man in Kassel dem Ideal der Brüder Grimm, sich der lebendigen Vermittlung von Sprache und Literatur zu verschreiben, zukünftig noch umfassender nachkommen kann.