Guillaume (Wilhelm) Cornille, Tischuhr/Pendeluhr, Düsseldorf, um 1770
Das Frontispiz des ersten Bandes von Jean-Antoine Nollets Abhandlung über die Experimentalphysik von 1743 – 1764 (die deutsche Ausgabe erschien 1773 – 1776 in Erfurt) zeigt eine auffallend elegant gekleidete Diskussionsrunde: Acht Damen und Herren sind um einen Tisch versammelt, um einem Geistlichen zu lauschen. Dieser erklärt ein zylindrisches Objekt, während ein Assistent im Hintergrund ein weiteres Objekt zu Demonstrationszwecken einem raumhohen Regal entnimmt. In den Regalen, angebracht in den Nischen der Wandtäfelung, finden sich unterschiedlichste wissenschaftliche Instrumente, zwischen ihnen hängt eine sogenannte Kartelluhr mit reichem Rahmen- und Figurenschmuck. Für die zeitgenössischen Betrachter war diese Uhr ein bekanntes Modell; das Zifferblatt mit dem dahinterliegenden Uhrwerk eingebettet in ein aufwändiges Gehäuse, bekrönt von der Figur eines Knaben, der auf eine unterhalb des Zifferblatts lagernde zweite Figur weist: Amor besiegt die Zeit, ein populäres Motiv der Uhrenkunst des 18. Jahrhunderts, in dem die Faszination mit den neuen technologischen Möglichkeiten der Zeitmessung allegorisch-mythologisch eingebettet wird. Tatsächlich inszeniert der Titelkupfer die Tätigkeit des Abbé Nollet (1700 – 1770) als erster französischer Professor für Experimentalphysik; die hier demonstrierte Art der Vermittlung naturwissenschaftlicher Techniken und Kenntnisse an ein urbanes, weibliches wie männliches Publikum illustriert anschaulich das wissenschaftliche Interesse seiner Zeit und eine überlieferte soziale Praxis. Künstlerisch vermittelt wird, wie wissenschaftliche Instrumente gesammelt, ausgestellt und diskutiert wurden und zugleich die gleichberechtigte Integration von wissenschaftlichen Instrumenten in die Inneneinrichtung. Wissenschaftliche Instrumente wurden nicht erst seit dem 18. Jahrhundert aus wertvollen Materialien hergestellt, aber vor allem die in Paris hergestellten Uhren stellen in ihrer Mischung aus Kunst, Handwerk und Technik, als Luxusgüter wie Gebrauchsgegenstände eine ganz besondere Objektkategorie dar. Uhren in aufwändigen Gehäusen gehörten ebenso zur Ausstattung der Innenräume von Hof, Adel und der neuen Eliten des 18. Jahrhunderts wie die Möbel, Wandbespannungen, Gemälde und andere Dekorationselemente, die im Zusammenklang ihre Rolle in der Organisation und Strukturierung eines anspruchsvollen Alltags spielten.
Schloss Benrath bei Düsseldorf, einstiges Sommer- und Jagdschloss des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz (1724 – 1799), 1755 bis 1771 errichtet nach Plänen seines Hofarchitekten Nicolas de Pigage (1723 – 1796), trägt dieser Tradition mit einer eigens aufgebauten Uhrensammlung Rechnung. Karl Theodor und Kurfürstin Elisabeth Auguste (1721 – 1794) waren uhren- und technikbegeistert, in der ursprünglichen Ausstattung von Benrath befanden sich diverse Uhren, u. a. von den kurfürstlichen Hofuhrmachern, sowie französische Uhren. Wie ihren Zeit- und Standesgenossen in Paris war auch dem Kurfürstenpaar daran gelegen, sich mit den – ästhetisch und kunsthandwerklich exzellent verpackten – Erzeugnissen der neuesten technischen Entwicklungen zu schmücken. Während die wandfeste Ausstattung des Schlosses im Wesentlichen erhalten ist, wurde das originale mobile Mobiliar zerstreut – Grund genug, in den letzten 70 Jahren wieder eine Sammlung anzulegen. Die mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder erworbene Pendeluhr ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen handelt es sich um eine Rarität, das einzige signierte Werk des kurfürstlichen Uhrmachers Guillaume (Wilhelm) Cornille (geboren 1719, seit 1770 für den Düsseldorfer Hof tätig), vielleicht das Einstandsstück beim Kurfürsten. Zum anderen erlaubt die Uhr Rückschlüsse auf die Produktion und Funktion solcher Luxusgüter. Die Quellen des 19. Jahrhunderts erwähnen in Schloss Benrath eine Tischuhr mit Löwenfratzen, so dass es sich bei diesem Stück mit größter Wahrscheinlichkeit um ein Element der originalen Ausstattung handelt, erworben und produziert vermutlich kurz bevor das Gebäude bezugsfertig war. Das Gehäuse kam aus Paris, damals führend in der Gestaltung und Produktion hochwertiger Uhrenkörper aus vergoldeter Bronze. Um 1770 entstanden, fügt es sich zeitlich und stilistisch in Pigages Raumensemble ein. Das Uhrwerk Cornilles kam in Düsseldorf hinzu, wie die Signatur verrät. Zeittypisch ist sie auf dem Werk angebracht, ein Detail, das erst beim Öffnen der Rückwand sichtbar wird und den Blick auf die technischen wie ästhetischen Qualitäten des Uhrwerks erlaubt. Beispielhaft für die Epoche ist der kollaborative und kosmopolitische Produktionsvorgang: Angefertigt von einem Spezialisten für Bronzeguss in Paris, angekauft und vermittelt vermutlich über einen der damals aktiven „marchands-merciers“, der Händler von Luxuswaren, und in Düsseldorf weiterverarbeitet von dem flämischen Hofuhrmacher des Kurfürsten. Das arbeitsteilige Vorgehen der Kunsthandwerker beruhte auf extremer Spezialisierung und ermöglichte die beinahe serielle Produktion bei gleichbleibender Qualität. Dass ein in Paris gefertigtes Uhrengehäuse am kurfürstlichen Hof Verwendung fand, lag an der führenden Rolle Frankreichs in allen Fragen des „Luxus und der Moden“, wie die 1797 gegründete erste deutsche Modezeitschrift so treffend hieß – als Trendsetter in allen Geschmacksfragen konnten die dort gefundenen formalen und ästhetischen Lösungen variabel und zugleich lokalspezifisch eingesetzt werden.
Bei der Benrather Pendeluhr zeigt sich diese Flexibilität in den dekorativen Elementen: das feuervergoldete Bronzegehäuse ist mit seitlichen Löwenköpfen und einer bekrönenden Henkelvase geschmückt sowie mit einem ebonisierten Holzsockel mit weiteren, kleineren Löwenmasken versehen. Letzterer ist vermutlich Zutat des Uhrmachers Cornille: Der Löwe ist nicht nur ein beliebtes Gestaltungselement des sogenannten Stil Transition zwischen etwa 1760 und 1774, der die ornamentalen Formen und spielerischen Asymmetrien des Rokoko in die Geradlinigkeit und die Antikenzitate des Klassizismus überführt. Der Löwe ist natürlich auch pfälzisches wie bergisches Wappentier, und Düsseldorf war die Hauptstadt des Herzogtums Berg und Jülich, das unter Karl Theodor an die Kurpfalz kam. Zurückzuführen ist das Design des Uhrengehäuses offenbar auf eine Zeichnung des Bronzegießers Leduc (oder Le Duc) von circa 1770, dort bezeichnet „Pièce de Bureau à la Romaine“. Der Entwerfer dachte also an eine Schreibtischuhr im römischen Stil, d. h. mit antikisierenden Elementen. Man sieht aber auch, wie genau offenbar zwischen verschiedenen Uhrentypen unterschieden wurde: In einer Periode, die verkürzt gesagt mit dem Privatleben auch die Innenarchitektur erfand (oder umgekehrt), fiel auch die Entwicklung diverser (Klein-)Möbeltypen und anderer Ausstattungsstücke für spezifische Tätigkeiten und Funktionen. Ob Cornilles Tischuhr auf einem Schreibtisch zu stehen kam, wissen wir nicht, offensichtlich ist aber die leichthändige ikonographische Verwandlung der „römischen“ Löwen in pfälzisch-bergische. Die elegante Formgebung der Uhr kann darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei knapp 50 cm Höhe keineswegs um einen Ziergegenstand handelt, sondern um ein substantielles Objekt. Charakteristisch ist die Verbindung von Kostbarkeit und Innovation, die solche Uhren zu Prestigeobjekten der damaligen Eliten machten. Ein schönes Postskriptum liefert die außen angebrachte Schnur: Mit ihrer Hilfe war eine nächtliche Zeitansage ohne Zuhilfenahme von Kerzen möglich – ein Hinweis darauf, dass man für Benrath an eine andere Funktion der Uhr gedacht hatte.
Vom 13. Mai 2022 bis zum 28. Februar 2023 zieht die Sonderausstellung „Kurfürstliche Zeitmesser. Die Uhrensammlung von Schloss Benrath“ in das Museum Corps de Logis. Sie ist Teil des neuen Ausstellungsformats der „Interventionen“ und entstand mit freundlicher Unterstützung der „Vereinigung Freunde Schloss und Park Benrath e.V.“ (www.schloss-benrath.de/kurfuerstliche-zeitmesser).
Schloss Benrath
Benrather Schloßallee 100 –108, 40597 Düsseldorf
Telefon 0211 - 8921903
www.schloss-benrath.de
Johann George Hossauer, Deckelpokal, 1841
Hier lohnt der Blick auf die technischen Details: Verweisen Verben wie „getrieben“, „gegossen“, „graviert“, „ziseliert“ und „punziert“ auf traditionelle kunsthandwerkliche Techniken, wirken solche wie „gedrückt“ oder „gestanzt“ eher unkonventionell. Und unkonventionell war Johann George Hossauer (1794 – 1874), zumindest in den Augen seiner Fachkollegen. Der Sohn eines Nagelschmiedes begann seine berufliche Ausbildung als Klempnerlehrling 1809 zu einer Zeit, als in Preußen gerade noch die Zunftregeln galten. Abgeschafft wurden sie 1810, und in der Folge verliefen Hossauers professioneller Weg und die Auswirkungen dieser und anderer Stein-Hardenbergschen Reformen in erfolgreicher Parallelität. Tatsächlich wirkt seine steile berufliche Karriere wie eine Fallstudie aus der preußischen Wirtschaftspolitik nach den Napoleonischen Kriegen: Es galt, den „Gewerbefleiß“ anzukurbeln und die im westeuropäischen Vergleich rückständige Wirtschaft vom Zeitalter der Manufakturbetriebe in die Industrialisierung zu führen. Die Reformen erlaubten es einem Quereinsteiger wie Hossauer, zu einem der wichtigsten Goldschmiede und führenden Produzenten von Gold- und Silberschmiedewaren in Preußen zu werden. Hossauer profitierte von den Initiativen zur besseren (internationalen) Ausbildung, zum Wissens- und Technologietransfer. So eröffnete etwa ein Reisestipendium nach Paris 1818 die Möglichkeit zum Erlernen traditioneller und neuer Techniken; die Mitarbeit in der Silberwarenfabrik Tourlot lieferte das Modell für die „Fabrik für Waren aus Platina, Gold, Silber, Bronze, gold- und silberplattiertem Kupfer nach englischer Art“, deren Produktion 1820 einsetzte. Hossauer entwickelte ein Geschäftsmodell, das es so in Paris oder London bereits gab, und setzte es in Berlin außerordentlich erfolgreich um. Entscheidend war die Verbindung der Produktion von Einzelstücken, die über ihre ästhetische und materielle Qualität und ihre prominenten Auftraggeber für Aufmerksamkeit sorgten, mit der Herstellung seriell produzierter Ware aus plattiertem Silber für eine bürgerliche Käuferschicht. Bereits 1826 zum „Goldschmied des Königs“ (Friedrich Wilhelms III.) ernannt, erhielt Hossauer in den kommenden Jahrzehnten immer wieder wichtige Aufträge des Hofes.
Hatte sich im 18. Jahrhundert in Frankreich der Architekt als Entwerfer von Möbeln und anderen Ausstattungsstücken etabliert und mit zum Teil aufwendigen Publikationen zu deren Verbreitung und Popularisierung beigetragen, galt in Preußen das Reforminteresse ganz direkt der ästhetischen Qualifizierung des Handwerks durch die Nachahmung vorbildlicher Entwürfe, erstellt etwa von Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) als großformatige Kupferstiche für die seit 1821 publizierten „Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker“. Hossauer selbst arbeitete mehrfach nach Vorlagen Schinkels; eine Zeichnung der Architekten von 1830 lässt sich als direktes Vorbild des bemerkenswerten Auftrags nachweisen, mit dem der Goldschmied und seine Werkstatt ihre Kunst der Technik in exemplarischer Weise umsetzten: Ehrenpokale nach Ideen Schinkels waren in den 1830er-Jahren ein wichtiger Teil von Hossauers Schaffen, allerdings waren dies mehrheitlich keine Sonderanfertigungen, sondern Pokale etwa für Pferderennen, die in den Bereich seiner seriellen Produktion gehören. Mit dem bisher der Forschung nicht bekannten und mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder angekauften Deckelpokal wird nun die Spitzenproduktion aus dem Bereich der Ehrengaben anschaulich; die anderen nachweisbaren Pokale dieser Güte haben sich nicht erhalten. In individueller Abwandlung des Schinkel-Entwurfs führen Hossauer und seine Mitarbeiter das gesamte Repertoire ihrer technischen Möglichkeiten in 15-lötigem, d. h. überdurchschnittlich hochwertigem Silber vor. Der Pokal, so könnte man sagen, ist ein Objekt, das ebenso energisch zurück wie nach vorne schaut: Der Blick zurück ist die spätklassizistische Gestaltung, die im Rückblick auf die Antike dem Ehrengeschenk die angemessene und das heißt zeitlos-klassische Form verleiht. Der Blick nach vorne ist der eines kreativen, technikbegeisterten Kunsthandwerkers, der hier mit der ersten Eisenbahndarstellung der deutschen Goldschmiedekunst die reizvolle Aufgabe bekam, neueste Eisenbahnarchitektur und -technik gestalterisch zu würdigen. In Auftrag gegeben anlässlich der Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie zwischen Magdeburg und Leipzig, stellen die hochfein ausgeführten umlaufenden Gravuren die Bahnhofsgebäude und den Zug samt Passagieren dar. Das oben skizzierte wirtschaftspolitische Ziel der preußischen Regierung konnte um 1840, als der Pokal in Auftrag gegeben wurde, als erreicht angesehen werden. Im Jahr der Fertigstellung, 1841, stirbt Hossauers Weggefährte Schinkel – fast ein symbolisches Zusammentreffen für ein Objekt, das in so ausgeprägter Weise an der Schnittstelle von Kunst und Technik, Kunst- und Industriegeschichte steht.
Deutsche Bahn Museum
Lessingstraße 6, 90443 Nürnberg
Telefon 0800 - 32687386
www.dbmuseum.de
Thomas de Colmar, Arithmometer, 1852
Angeblich nannte man ihn den „Sonnenkönig“. Charles Xavier Thomas de Colmar (1785 – 1870), genannt Thomas de Colmar, war einer der Pioniere in der modernen Geschichte des Versicherungswesens, als (Mit-)Gründer von gleich drei Versicherungsunternehmen mit symbolträchtigen Namen wie Phoenix, Soleil und Aigle (Phoenix, Sonne und Adler), wobei die letzteren zu den führenden Versicherungen Frankreichs während des Zweiten Kaiserreichs aufstiegen. Dass ein Versicherer sich für Kalkulationen interessiert, leuchtet ein, dasselbe gilt für Versorgungsoffiziere – eine Aufgabe, mit der Thomas de Colmar während der napoleonischen Feldzüge betraut war, seit 1813 als Verantwortlicher für die gesamte französische Armee. Die Rechenmaschine als wissenschaftliches Instrument wurde nicht von Thomas erfunden, seine Bedeutung liegt darin, die Erfindung serientauglich gemacht und seriell produziert zu haben. Die von Thomas „Arithmometer“ getaufte Maschine ist ein prototypisches Produkt des Zeitalters der Industrialisierung, mit ihren Weltausstellungen zur Förderung von Handel und Gewerbe, und den zahlreichen staatlicherseits verliehenen Preisen und Ehrungen. Thomas war Teil dieser neuen Ausstellungs- und Industriekultur, Preise und Ehrengeschenke inbegriffen. Umgekehrt machte er sich die Praxis der Ehrengabe zu eigen, um die bereits 1820 patentierte Rechenmaschine seit etwa 1850 einem illustren Personenkreis – gewissermaßen als Werbegeschenke – zugänglich zu machen und damit Aufmerksamkeit auf sein im Wettbewerb mit anderen stehendes Produkt zu lenken. Es sind heute fünfzehn solcher Widmungsexemplare bekannt, von denen sich mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder inzwischen zwei im Arithmeum der Universität Bonn befinden: Das Exemplar für Zar Nikolaus I. von Russland wurde bereits 2017 erworben, hinzu kommt das Geschenk an Papst Pius IX. (1792 – 1878), das um 1852 entstanden ist.
Auf den ersten Blick erstaunlich ist die Entscheidung, die neue Technik in konventionell anmutender Form zu präsentieren: Die aus Messing gefertigte Rechenmaschine steckt in einer aufwendigen Schmuckkassette aus Ebenholz (oder ebonisiertem Holz), mit einer in die Innenseite des Deckels eingelassenen Inschrift. Thomas de Colmar zeichnet dort als „Inventeur“, also als Erfinder. Auf der Außenseite steht der Schriftzug „Arithmomètre“ im Zentrum eines in Messing und Schildpatt ausgeführten Ornaments. Kassetten dienen traditionell zur Aufbewahrung von Schreibwerkzeug, Schmuck, Münzen oder anderen wertvollen Sammlungsgegenständen, und für den neuartigen Objekttypus Rechenmaschine bietet sich das Format geradezu an. Wie aber kommt es zur Gestaltung dieses auffallend opulenten Deckels? Die dort sichtbare Einlegearbeit steht für eine der wirkmächtigsten Traditionen der französischen Möbelkunst: die sogenannte Boulle-Marketerie. André-Charles Boulle (1642 – 1732) war als Ebenist (Kunsttischler) am Hof Ludwigs XIV. (1638 – 1715) tätig, mit weitreichendem Einfluss bereits im 17. Jahrhundert. Boulle war für die königliche Möbelmanufaktur tätig, seine Möbel mit den kostbaren Marketerien schmückten königliche Schlösser und Adelspalais’. Sein Möbeldesign kam nie aus der Mode, er wurde schon im 18. Jahrhundert gesammelt und im 19. Jahrhundert weiterhin verehrt – und kopiert. Boulles Technik zu verwenden hieß, neben der virtuosen kunsthandwerklichen Leistung der ausführenden Werkstätten, Assoziationen an die Epoche des (tatsächlichen) „Sonnenkönigs“ und französischer Größe aufzurufen. Eine durchaus patriotische Kunst, vor allem, wenn sie im Zusammenhang mit einer auch international neu am Markt zu etablierenden Technik eingesetzt wird. Die aufwendige (und kostspielige) Herstellung der Marketerie führte im Übrigen dazu, dass man die Positiv- wie die Negativform der ausgeschnittenen Ornamente verwendete: Im Arithmeum in Bonn befindet sich auch das Gegenstück zu diesem Kassettendeckel.
Diese Kombination von innovativer Technik und konservativer Gestaltung, zwischen Manufaktur und Fabrik, ist typisch für das zweite Kaiserreich in Frankreich, dessen Stilpluralismus der Tradition so sehr verpflichtet war wie den technischen Innovationen der Gegenwart. Eine Vorliebe für (über-)reiche Inneneinrichtungen und überbordende Ornamente stand keinesfalls im Gegensatz zu den technischen Errungenschaften der industriellen Revolution, eher im Gegenteil. Die anhaltende Beliebtheit der Boulle-Marketerie machte es einem erfolgreichen – und findigen – Unternehmer wie Thomas möglich, seine technische Neuheit ästhetisch mit der Autorität einer vergangenen Epoche auszustatten und damit die erfolgreiche Assoziation von Luxus, Kunst und Technik auch für sein Arithmometer in Anspruch zu nehmen.
Arithmeum
Lennéstraße 2, 53113 Bonn
Telefon 0228 - 738790
www.arithmeum.uni-bonn.de
Dr. Stephanie Tasch ist Dezernentin der Kulturstiftung der Länder.