Schnitt-Stellen

Ob im Krankenhaus, bei der polizeilichen Ermittlung oder bei Finanzgeschäften auf der Bank gilt: Dokumentationszwang! So mancher Berufszweig singt ein Klagelied über den ständig wachsenden bürokratischen Aufwand. Viele Stunden verbringen Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte heute im Alltag damit, Befunde, Beobachtungen und Laborwerte zu erfassen und zu bewerten. Kaum jemand wird bestreiten, wie wichtig in vielen Bereichen exakte Daten und eine minutiöse Aufzeichnung sind – ob nun handschriftlich oder zunehmend digital.

In der Mitte des 19. Jahrhunderts war das ganz anders. Auch an der Berliner Charité, damals noch ein Armenkrankenhaus in Berlin. Erst ab den 1850er-Jahren war das Aufschreiben dort nicht mehr Privatsache des Arztes, der seine Notizen bisher am Krankenbett für den eigenen Gebrauch in einer Art Tagebuch gesammelt hatte. Die Umstellung auf eine allgemein verfügbare Krankenakte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die logische Folge neuer physikalischer und chemischer Untersuchungsmethoden, die die Medizin revolutionierten. Aus den Beobachtungen, Laborwerten und Entdeckungen aller Beteiligten formt sich idealerweise auch heute noch eine Diagnose, und eine Behandlung beginnt.

Rudolf Virchow, um 1900; © bpk-Bildagentur / Foto: J. C. Schaarwächter
Rudolf Virchow, um 1900; © bpk-Bildagentur / Foto: J. C. Schaarwächter

Endlich „geordnete Protokolle einzuführen“, das hatte sich der Militärarzt Rudolf Virchow (1821–1902) auf die Fahnen geschrieben, als er 1846 an der Berliner Charité für die pathologisch-anatomischen Leichen­öffnungen verantwortlich wurde. Der Vorgang des Notierens wirkt unmittelbar ein auf die Rückschlüsse des Pathologen, hatte Virchow erkannt. Und im exakten Protokoll, das seine Indizien nach einem verbindlich definierten Reglement erhebt, sah Virchow das schärfste Instrument, die Pathologie zu mehr Ansehen zu bringen.

Johannes Orth (ab 1872 Assistent von Rudolf Virchow, ab 1902 dessen Nachfolger an der Charité), Doppelseite aus dem Jahrgangsprotokolleband 1875, 20,5 × 34 cm (im geschlossenen Zustand); © Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité
Johannes Orth (ab 1872 Assistent von Rudolf Virchow, ab 1902 dessen Nachfolger an der Charité), Doppelseite aus dem Jahrgangsprotokolleband 1875, 20,5 × 34 cm (im geschlossenen Zustand); © Berliner Medizinhistorisches Museum der Charité

Niemand konnte ahnen, dass Virchow mit seiner verwaltungstechnischen Vorgabe an die Sektionsprotokolle die Basis für einen beispiellosen Paradigmenwechsel in der Medizin schaffen würde. Man belächelte den Jungarzt, der sich in dem akademisch kaum relevanten Fach profilieren wollte. Doch die Zeiten standen auf Wandel: „Die Pathologie entwickelt sich Mitte des 19. Jahrhunderts zur Leitdisziplin der naturwissenschaftlichen Medizin“, sagt Thomas Schnalke, Medizinhistoriker an der Berliner Charité. Rudolf Virchow erkannte, dass „das Studium des Leichnams und seiner einzelnen Teile mit dem Skalpell, dem Mikroskop und dem Reagens“ – neben der klinischen Untersuchung – die entscheidenden Hinweise auf Krankheitsursachen versprach. Virchow wollte die vitalistischen Lehren und die romantisch verklärten Grundlagen der Medizin seiner Zeit als für Patienten gefährlichen Spuk ent­larven. Man war beispielsweise immer noch überzeugt davon, dass sich bei Krankheiten die Körperflüssig­keiten falsch verbinden. Die Ärzteschaft mischte eifrig eindeutige Befunde mit Hypothesen und Beobachtungen. Einen „energischen Feldzug gegen die Esoteren“, nannte Virchows Freund und Arztkollege Benno Reinhardt den gemeinsamen Anspruch. Weil sie kaum mehr geeignete Publikationsmöglichkeiten für programma­tische Artikel fanden, gründeten die beiden Freunde ihre eigene, bis heute bestehende Zeitschrift „Virchows Archiv“, um darin theoretische und praktische Patho­logie mit klinischer Medizin zu verknüpfen. Basis von Virchows bahn­brechenden Veröffentlichungen waren die Sektionsprotokolle.

Virchow wiederholte seine Thesen weiter hart­näckig. Für ihn zählten makroskopische, mikroskopische und experimentelle Befunde. Ein Dorn im Auge war ihm die laxe Dokumentation an der Charité. Dort sezierte man zwar so gut wie alle Verstorbenen, die Aufzeichnungen waren jedoch unsystematisch und wurden vor allem erst nach der Sektion aus der Erinnerung zu Papier gebracht. Nach mehreren kommentierenden Artikeln, die die gerichtsmedizinischen Regularien für seine pathologische Praxis adaptierten, erschien 1876 Virchows Standardwerk „Sektionstechnik“, das rasch weltweit Beachtung fand. Über die Jahrzehnte entwickelte Virchow seine Sektionstechnik, die bis heute überwiegend praktiziert wird: Vollständigkeit und Genauigkeit sind die Eckpfeiler, keinesfalls sollte eine vorherige klinische Anamnese den Umfang der pathologisch-anatomischen Untersuchung bestimmen. Einem chronologischen Weg von außen nach innen folgt die Sektion den Hauptabschnitten „Äußere Besichtigung“, „Brustorgane“, „Kopf und Gehirn“ und „Bauchorgane“. Virchow führte die Entnahme der Organe ein, die dann einzeln seziert wurden. Zusätzlich entwickelte Virchow eine standardisierte Technik des pathologischen Schneidens, erläuterte detailliert die Technik der Gehirn- und Herzsektion. Dreieinhalb Stunden soll der Prozess der Erkenntnis bei der Leichenschau nach Virchows Vor­gaben dauern, eine Stunde allein das Diktieren des Protokolls dabei einnehmen.

An der Charité wandelte sich die Aufzeichnungspraxis nach Virchows Tod grundsätzlich. Aus dem Protokoll wurde ein viele Seiten umfassender Vorgang mit Anlagen, der weiter in Sammelbänden archiviert wurde. Ab 1906 kamen Karteikarten und Archivkästen zum Einsatz, lose Papierbündel im DIN-A4-Format in den 1930er-Jahren, Ende der 1940er-Jahre folgte die Rückkehr zur Sammelbindung der Protokolle. Formulare und Vordrucke begleiteten den radikalen Wandel des Aufschreibevorgangs. „Die gemeinsame Heraus­bildung der Klinik und des klinischen Aufzeichnungs­wesens im Lauf des 19. Jahrhunderts waren bis zu einem großen Projekt des Medizinhistorikers Volker Hess zwischen 2014 und 2016 weitgehend unerforscht“, sagt der Luzerner Wissenschaftsforscher Christoph Hoffmann und bedauert: „Noch wird die Schriftförmigkeit der Akten und der Aufzeichnungs­vorgang selten mit in Untersuchungen zur Medizin­geschichte einbezogen.“ Warum die schriftliche Protokollierung eine so dominante Rolle in einer Prosektur spielte, das interessiert Hoffmann. Das direkte Aufschreiben bzw. Diktieren diene nicht nur dem Festhalten der Befunde, sondern bewirke auch, dass man sich die sinnlichen Wahrnehmungen bewusst mache und ein Übersehen von wichtigen Befunden besser vermieden werde.

Rudolf Virchow beobachtet eine Schädeloperation in Paris, 2. August 1900; © bpk-Bildagentur
Rudolf Virchow beobachtet eine Schädeloperation in Paris, 2. August 1900; © bpk-Bildagentur

„Maßgeblich ist, dass mit dem Protokollieren die Mannigfaltigkeit des Beobachtbaren in eine im Weiteren handhabbare Aufstellung überführt wird.“ Die große Leistung des Protokolls sei die „Übertragung des Visuellen ins Symbolische“. Erst beim Schreiben verbindet sich das Gesehene mit einem Begriff von ihm. Und da der beobachtete Körper von enormer Flüchtigkeit ist, ersetzt das schriftliche Protokoll der Leichensektion in der Konsequenz sogar den Forschungsgegenstand, resümiert Hoffmann. Die Geschichte der Pathologie anhand der Akten und Vordrucke für Sek­tionen weiter zu ergründen, würde Christoph Hoffmann reizen. Der kollektive Schreibraum der Akten könne auch enthüllen, wie sich Institutionen radikal veränderten, wie wissenschaftliche Voraussetzungen auf den Kopf gestellt wurden.

Erstaunlicherweise, das bemerkt der renommierte Forensiker Ingo Wirth amüsiert, hat sich Rudolf  Virchow selbst am wenigsten an sein eigenes Regelwerk gehalten. 200 der 35.000 aus dessen Wirkungszeit erhaltenen Protokolle konnte Wirth eindeutig Virchow zuordnen, viele seien nicht regelgerecht und nur fragmentarisch verfasst. Wahrscheinlich ist, dass Virchow oft einfach keine Zeit hatte: Als Politiker im Preußischen Abgeordnetenhaus und später im Berliner Reichstag sorgte er im Nebenberuf für eine neue Kanalisation und Wasserversorgung der sich sprunghaft vergrößernden Metropole, gründete die Fortschrittspartei mit, stritt sich erbittert mit Reichskanzler Bismarck, kämpfte für sozialhygienische Reformen und eine bessere Gesundheitsversorgung der ärmeren Bevölkerung. Der Mediziner blickte weit über den Rand seiner Profession hinaus, interessierte sich für Archäologie und Ethno­logie und gründete 1869 die „Berliner Anthropolo­gische Gesellschaft“.

Rudolf  Virchow in seinem Arbeitszimmer des pathologischen Instituts der Berliner Charité, um 1900; © bpk-Bildagentur
Rudolf  Virchow in seinem Arbeitszimmer des pathologischen Instituts der Berliner Charité, um 1900; © bpk-Bildagentur

Virchows Entdeckungen und Rückschlüsse aus den Sektionen, die er in mannigfaltigen Publikationen veröffentlichte, revolutionierten die Medizin, begrün­deten die moderne Entzündungslehre, brachten neue Erkenntnisse bei Thrombose, Embolie oder Leukämie, über Geschwülste oder die Regenerationsfähigkeit der Leber. Anatomische Gewissheit statt vitalistischer Spekulation: Virchows Zellularpathologie, in seiner Zeit als Ordinarius an der Universität Würzburg 1849 –1856 entworfen, ist bis heute ein Kernbekenntnis des medizinischen Menschenbilds. Alle Krankheiten gehen demnach zurück auf Störungen in den Zellen. Dort können in den pathologischen Prozessen die Ursachen und das Entstehen der Erkrankungen erkannt werden.

Die Leiche erschien Virchow wie ein Buch, in dem alle wichtigen Grundlagen abgelesen werden können. Das Fach der Pathologischen Anatomie wurde über seine weltweit Furore machenden Entdeckungen populär. Als Virchow von der Berliner Universität wieder aus Würzburg abgeworben wurde, konnte er die Bedingungen diktieren: Institutsneubau, ein gutes Gehalt, eine eigenständige Abteilung in der Charité. 1873/74 wurde sie um zwei Seitenflügel erweitert, Virchow sezierte im hellen Sektionssaal mit großen Fenstern Richtung Norden am kupfergedeckten Sektionstisch, es gab einen Gas- sowie Wasseranschluss, sogar ein Warmwasser­reservoir wurde vorgehalten. Bald reichten die 120 Zuschauerplätze des Hauptsaals für die Studenten nicht mehr aus. Für die über 23.000 Präparate der patholo­gischen Sammlung, die heute leider weitgehend durch Brände verloren sind, brauchte es Ende des 19. Jahrhunderts ein eigenes Museum. Daneben entstanden bis 1906 ein Lehrgebäude und ein Obduktionshaus, Virchow selbst erlebte 1899 noch die Eröffnung des Museums mit.

An der Charité sind heute 150.000 Protokolle archiviert, allein 35.000 Protokolle aus Virchows zweiter Wirkungszeit. In 47 dicken Bänden versammelt sie das Medizinhistorische Museum der Charité. Direktor Thomas Schnalke wünscht sich mehr medizinhistorische Forschung zur „Kultur des Sezierens“, die unser aktuelles molekularbiologisches Menschenbild vorbereitet habe. Für Schnalke sind die Protokolle eine „einzigartige Quelle für die aus der Praxis des Sezierens abgeleitete Konzeption des naturwissenschaftlichen Begriffs des menschlichen Körpers“. Doch Schnalke sorgt sich um die handschriftlichen Protokolle Rudolf  Virchows in seiner Obhut. Forschung an den Bänden ist momentan unmöglich: Säure, Tintenfraß und Austrocknung machen eine weitere Bearbeitung unmöglich, etliche Bände drohen auseinanderzubrechen. Einen besonders beschädigten Band konnte das Museum mit Hilfe der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts modellhaft restaurieren. 70.000 Euro sind veranschlagt, um die dringend nötige Sicherung des wichtigen naturwissenschaftlichen Zeugnisses zu leisten. Nun sucht das Museum Förderer für die Rettung der Sektionsprotokolle, die Thomas Schnalke „eine Art Zentralcode für das gesamte Fach der Pathologie“ nennt.