Scherben im Bachsand
„Ich schreibe von der einfachen Sache: / Geburt und Tod und der Zwischenzeit“, heißt es in dem Gedicht „Ewigkeit“ von Eva Strittmatter. Dies ist wohl eines ihrer bekanntesten Zitate, auf das ihr Werk gern reduziert wird. Doch Strittmatters lyrische Verarbeitung alltäglich-menschlicher Themen steht nicht im Gegensatz zur Virtuosität und sublimen Durchkomponiertheit ihrer Dichtung. Diese zeichnet sich vielmehr durch einen hohen Maßstab an formalem Können und eine moderne Poetologie aus.
Als Angelika Griebner in ihrer Rezension zum Gedichtband „Atem“ im März 1989 den Leser aufforderte, die „Botschaft einer reifen Dichterin zu entdecken“, war Eva Strittmatter 59 Jahre alt und in der DDR eine Bestseller-Autorin. In Irmtraud Gutschkes Strittmatter-Biographie aus dem Jahr 2008 spricht man gar von über zwei Millionen verkauften Exemplaren ihrer Bücher.
Wer ist Eva Strittmatter? Sie wurde in Neuruppin, Brandenburg, als Eva Braun geboren. Ihr Vater war gelernter Bankkaufmann, ihre Mutter sicherte lange die Existenz der Familie mit Näharbeiten. Den Besuch des Gymnasiums hatte sich Eva Strittmatter erkämpfen müssen, da ihr Vater nicht bereit war, das Schulgeld zu bezahlen oder sie für ein Stipendium anzumelden, das ihr aufgrund ihrer guten Leistungen zugestanden hätte.Von 1947 bis 1951 studierte Strittmatter Germanistik und Romanistik an der Humboldt-Universität in Berlin; von 1951 bis 1953 arbeitete sie freiberuflich für den Schriftstellerverband der DDR, 1957 wurde sie selbst Mitglied. 1956, vier Jahre nachdem sie Erwin Strittmatter dort kennengelernt hatte, heirateten die beiden. Durch den Namenswechsel konnte sie den verhassten Mädchennamen Braun endgültig ablegen. Eva Strittmatter lebte bis kurz vor ihrem Tod im Januar 2011 in Schulzenhof, einem kleinen Ort in der Brandenburger Gemeinde Stechlin, wohin sie 1954 mit Erwin Strittmatter gezogen war. Dort ist sie neben ihrem Mann und ihrem Sohn Matti begraben, die beide kurz nacheinander im Januar 1994 starben.
Wer sich mit Eva Strittmatters Lyrik beschäftigen will, tut gut daran, dem Rat der Dichterin zu folgen. Denn der Zugang zu den Texten sollte ihrer Meinung nach aus der Perspektive ihres poetischen Anspruchs, nämlich „eine[r] Synthese aus intellektueller Grundhaltung und einer Simplizität, wie sie Volkslieder haben“, gesucht werden. In Prosatexten („Briefe aus Schulzenhof “, „Mai in Pieštany“ und besonders „Poesie und andere Nebendinge“) hat Eva Strittmatter ihr lyrisches Werk weitgehend kommentierend begleitet. Darin betont sie beharrlich, dass der deutsche Wortschatz mit seinem „Alltagsmaterial“ und der „deutsche Reimfonds“ ihr genug Bausteine für eine kreative neue Lyrik liefern, die keinesfalls im Alltäglichen, Banalen oder Sentimentalen enden muss. Insbesondere die Ächtung des Reimes als trivial beschäftigt Eva Strittmatter. Für sie ist der Reim nur ein Teil der poetischen Substanz eines Gedichts, der jedoch für die „organische Struktur“ essentiell ist: „Die Suggestivität eines Gedichtes, durch die es unverlierbar wird, hängt wesentlich vom Reim ab. Man prägt sich Gedichte musikalisch ein. Mich fasziniert die Musikalität der poetischen Sprache, auch deshalb bin ich beim Reimen geblieben, und ich sehe bis heute nicht, dass ich mich von ihm lossagen werde.“
Hannah Arendt beschreibt ähnliches gleichfalls für die Arbeitsweise von Bertolt Brecht, dessen Balladen gerade deshalb so erfolgreich wurden, weil sie dem Grundliedschatz des Deutschen so ähnelten: „Im Deutschen gerade liegt das Volkslied aller Dichtung zugrunde, wenn auch in der eigentlich großen Dichtung so transformiert, dass es kaum noch kenntlich ist. So klingt die Stimme der Dienstbotengesänge durch viele der schönsten deutschen Gedichte.“
Eva Strittmatter ist sehr bestimmt in ihrer Vorgehensweise und weiß, dass, obwohl Kritiker die scheinbare Einfachheit ihrer lyrischen Texte oft mit einer gewissen Naivität gleichsetzten, diese einer kritischeren Auseinandersetzung durchaus standhalten: „Ich verwarf die Furcht, sentimental zu wirken“, schreibt sie 1980 in einem ihrer Briefe, „und bekannte mich zu dem Offenen: ‚deine Rede sei ja, ja, nein, nein […]’.“ Beharrlich hinterfragt sie, inwieweit ihre Sprache fähig ist, genau das zu sagen, was sie ausdrücken will. Es gelingt der Dichterin – wie der stete Dialog mit ihren Lesern zeigt –, das Rohmaterial aus Gefühltem und Er-/Gelebtem, der „alltäglichen trivialen Existenz“, lyrisch so zu formen, dass die Poesie als „Verbindungsmittel“ zwischen Dichterin und Leser, als „Kristallisationspunkt von Lebenseinsicht und Lebenslust, auch als Überwindungshaltung gegenüber Schwierigkeiten, Leiden und Zweifeln“ fungiert.
Eine große Sinnlichkeit spricht aus Strittmatters Gedichten, deren Metaphern so viele Sinne wie möglich ansprechen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Eva Strittmatters Gedicht „Vor einem Winter“ aus ihrer 1973 veröffentlichten ersten Sammlung „Ich mach ein Lied aus Stille“.
Je nach intellektuellem Anspruch kann die Lektüre zu verschiedenen Bedeutungsebenen der Gedichte vordringen. „Es ist eine Herausforderung“, merkt Strittmatter zu ihren Gedichten an, „den Doppelsinn, die Doppelschicht zu entdecken“. „Vor einem Winter“ ist eines ihrer typischen, frühen Naturgedichte, das man oberflächlich nur als zu Papier gebrachte schöne Beobachtungen im Herbst betrachten könnte – eine lyrische Momentaufnahme, vielleicht. Die Persona des Gedichts nutzt tatsächlich ihre Sinne höchst intensiv, um sich alles in ihrer herbstlichen Umgebung, seien es visuelle Eindrücke, Geräusche in der Natur oder auch deren Abwesenheit, einzuprägen und zu genießen. Sie schätzt sowohl das „Schweigen der Grille“ wie das Plätschern einer „Quelle“, „den Schrei des Raben“, ebenso wie den „Orgelflug von Schwänen“. Es ist, als ernte das artikulierte Ich des Gedichts Eindrücke, die es für den Winter einlagern will, um später davon zehren zu können. Auch die Augen sammeln mit: das „Septemberlicht“ und die roten „Vogelbeeren“, die Bäume, die langsam kahl werden („der Bäume Tod und Träne“). Das Brot, das aus im Herbst geerntetem Getreide frisch gebacken wird, und sein „Herbstgeruch“ sind die Klammer zwischen Naturerleben und Familienverpflichtungen. So wie der Leib das tägliche Brot benötigt, braucht die Seele Naturerfahrungen, um neue Kraft zu schöpfen.
Strittmatters lyrisches Ich schätzt und erkennt in diesem Gedicht die Schönheit, die Zuflucht und die gewaltigen Räume in der Natur, unbegrenzt und zum Himmel weit offen, in der sich der Mensch ganz klein (aber vielleicht auch geborgen) fühlen darf. Daraus zehren zu dürfen/zu können, gibt der liederschreibenden Persona die Kraft und die Kreativität, selbst schöpferisch tätig zu werden, „ein Lied aus Stille“ zu machen, das sie durch die dunklen Tage des kommenden Winters tragen kann. Auf einer tieferen Ebene des Gedichts kann der Leser herauslesen, dass die Stärke, die die Persona aus der Natur schöpft, dazu dient, selbst schweigen zu können, wenn auch vielleicht anderes im Inneren brodelt. Eva Strittmatter selbst beschreibt in „Mai in Pieštany“, wie es sie drängte, die Widrigkeiten ihrer (familiären) Umstände, in denen sich alles um das Werk von Erwin Strittmatter zu drehen hatte, literarisch und existenziell zu schätzen und zu nutzen: „Also schweige ich lieber, verschweige. Verschweige auch, dass ich weiß, ich brauche jetzt mich für mich, meine Zeit, mein Leben, meinen Tag. All das richtet sich gegen die gegebenen, nie geschriebenen Gesetze gemeinsamen Lebens.“
Die Natur rund um Schulzenhof, einer Kleinstortschaft mit sieben Häusern in der Mark Brandenburg, war häufig Inspiration oder, wie sie es nannte, ein „Assoziations- oder Kristallisationspunkt“ für Eva Strittmatters Lyrik. Daraus erklärte sich für sie, dass viele ihrer Gedichte häufig missverständlich als naive Naturlyrik klassifiziert werden. „Optische Eindrücke“ aus ihrem Umfeld waren oft die Initialzündung für ein Gedicht, dessen wahre Nachricht, die der Text übermitteln sollte, sich dem Leser aber erst erschließt, wenn er eine Änderung im Ablauf oder eine Pointe wahrnimmt. Dann merkt er, „dass das gar keine Naturgedichte sind, dass es philosophische Lyrik ist“.
Die Freisetzung ihrer lyrischen Kreativität hauptsächlich in der Natur auf Spaziergängen ist sicher auch an der für Strittmatters Gedichte typischen Metrik und dem Reim als stilistische Mittel beteiligt. Oft ohne Notizpapier oder gar Diktiergerät unterwegs, hat sie viele Gedichte im Gehen verfasst und memoriert, erst nach der Heimkehr notiert, durch lautloses Sprechen befestigt, „damit die Struktur nicht verschwimmt, der Rhythmus, die Zeilenlängen“.
Strittmatter schrieb für eine breite Leserschaft, der sie absolut zutraute, die tieferen Schichten ihrer Gedichte zu erfassen. Die Legende von Eva Strittmatter als reine Natur- und Stimmungsdichterin der DDR ist also längst entkräftet. Sie reflektiert in ihrer Lyrik immer wieder existenzielle Fragen für sich selbst sowie exemplarisch für ihre Leserschaft. Eine sorgfältige Lektüre erschließt dem Leser nicht nur das Handwerk der Dichterin, sondern auch die Reflexionen einer komplexen Bewusstseinslandschaft. Das Genre Naturlyrik nimmt sie als Arbeitsmaterial und Leinwand für ihre Beschäftigung mit traditionell gefärbter und individuell kreativer Dichtung.
Das Publikum von Eva Strittmatters Lyrik ist so verschieden wie die Vielfalt ihrer Gedichte. Es gibt zum einen die, die „eine ähnliche Lebenshaltung“ haben wie Eva Strittmatter und „auf der Frequenz [empfangen]“, auf der Strittmatter sendet. Diese Leser empfinden die in den Gedichten geschilderten Situationen als exemplarisch für ähnliche Momente in ihrem eigenen Leben. Andere Leser nehmen Strittmatters lyrische Auseinandersetzung mit Musik, Malerei und Literatur sowie ihre lyrische Beschreibung von Reisen als Impuls, sich selbst mit den von ihr gewürdigten Komponisten, Malern oder Autoren zu beschäftigen.
Die Dichterin erklärt diese „Wirkungs-Mechanik“ damit, dass sie in ihren Gedichten keine maßregelnde Haltung einnimmt, sondern rein vorbildlich universelle Situationen bewältigt. Auch hier ist die angestrebte Einfachheit als Stilmittel ihr Ziel, um damit den Leser zu erreichen: „Der Ansatzpunkt für viele Menschen (die eigentlich mit Poesie nichts im Sinn haben), Gedichte wie die meinen zu lesen, ist, dass sie keine Schranke, keine Barriere empfinden“. Zu diesem Zweck will sie nur „ganz wenig weggehen von der Sprache der Leute, mit denen ich umgehe“. Sie verarbeitet ihr „Alltagsmaterial“ mit Kunstmitteln, komponiert ihre Texte sehr genau, um Klischees und gebräuchliche Formulierungen zu vermeiden. Hier wird der von Eva Strittmatter häufig verwendete Begriff „Sprachfähigkeit“ zum Schlüssel und damit zur Frage, inwieweit es möglich ist, Lebenserfahrung in Sprache zu übersetzen. So vermag Strittmatter auch über die Beschreibung ihrer Arbeitsweise die Sinne des Lesers metaphorisch zu berühren: „Im wesentlichen läuft, was ich mache, darauf hinaus, aus Alltagsmaterial Poesie zu keltern, aus dem Stein Funken zu schlagen, nicht Brillanten in Platin zu fassen, sondern den Scherben im Bachsand glitzern zu lassen, noch lieber: aus den heimischen Erden die Träne Glas zu gewinnen, die unseren blassen nördlichen Himmel spiegelt oder die feurige Abendröte über den Schluchten der Stadt.“
Dieser „Scherben im Bachsand“ oder die „Träne Glas“ repräsentieren das Exemplarische in Strittmatters Gedichten, das eine Verbindung schafft zwischen den höchst persönlichen Erfahrungen einer Dichterin und der gesellschaftlichen Bedeutung ihrer Gedichte durch das Offenlegen und Benennen von Ohnmacht, Verzweiflung, Leid und Schuld als Brückenschlag zwischen Einzelschicksal und Zeitgeschichte. „Es kommt nicht auf das Beschönigen an, sondern auf Aussprechen von Zweifeln und Konflikten. Und da ist genau der Identifikationspunkt für die Leser […].“
Strittmatter schrieb ihre Lyrik aus dem Impuls und dem Druck des Lebens heraus, jedoch stets mit dem Anspruch auf literarische Qualität. Der wichtigste Aspekt war ihr die Authentizität, die sie auf zwei Wegen vermittelt. Ein Gedicht entsteht zum einen, weil ein innerer Zwang, „eine Initialzündung“ die Dichterin dazu drängt, ein Thema, das sie stark beschäftigt, lyrisch zu be- und verarbeiten. Zum anderen muss dieses Schreiben aber Phrasen und Klischees vermeiden, der Wortschatz, dessen sich das Gedicht bedient, muss Einfaches zu Neuem miteinander verknüpfen. Authentizität kann die Lyrikerin zudem nur erreichen, wenn sie während des Schreibvorgangs nicht schon auf eine mögliche Rezeption achtet.
Eva Strittmatter schrieb und publizierte eine Vielzahl von Gedichtsammlungen, die überdies die universellen Themen weiblicher Existenz reflektieren: „Unablässig transponiere ich meine Lebensspannung in Poesie, und da sie die typische Situation von Frauen in diesem Land charakterisiert, nehmen Frauen meine rüttelnden Gedichte in Anspruch.“ In ihrer Lyrik, in der sie oft gegen die Dominanz ihres eigenwilligen Mannes, Erwin Strittmatter, anschrieb, schuf die Dichterin eine eigene Version von Virginia Woolfs „A Room of One’s Own“. Für Strittmatter wurde die Natur um Schulzenhof zu dem Zimmer, das nur ihr gehörte – fern von hausfraulichen, mütterlichen oder bäuerlichen Pflichten. So entstanden viele Gedichte auf Spaziergängen auf und rund um Schulzenhof in der Mark Brandenburg. Dass sie diesen Raum als den ihr eigenen reklamiert hat, bestätigt sie nicht nur in dem Gedicht „Mein Studio“, in dem es heißt: „Mein Studio ist im Astversteck/unter der Höhlenkiefer“, sondern auch wenn sie sagt: „Mein Bereich [war] verhältnismäßig eng, vielleicht fünf, sechs Kilometer um Schulzenhof herum. Aber diese Landschaft habe ich mir mit Gedichten durchstichelt.“ Auf diesem längst legendären und heute noch zu besichtigenden Dichtersitz der Strittmatters in den Wiesen und Wäldern des heutigen Naturparks Stechlin hatte das Schriftstellerpaar ein singuläres Archiv ihres Schaffens und ihrer Korrespondenz mit Tausenden von Lesern und Kollegen hinterlassen. Jetzt, da beide Nachlässe in die Akademie der Künste übernommen worden sind, können auch die unentdeckten Querbezüge zwischen Eva und Erwin Strittmatters Werk erkundet werden.