Sämann gegen Traktorist
Seit Herbst 2009 ist er wieder zurück in Isseroda, einem 550-Einwohner-Dorf bei Weimar, wenn auch gut versteckt auf dem Betriebsgelände der Agrargenossenschaft Thüringer Korn und Rind e. G. Die lebensgroße Eisenskulptur „Junger Traktorist“ des Dresdner Bildhauers Rudolf Löhner (1890–1971) passt noch immer ins dörfliche Ambiente, obwohl sie unverkennbar vom sozialistischen Aufbruch der frühen DDR zeugt. Der Geschäftsführer der Agrargenossenschaft, die den eisernen Landmann vor der Verschrottung bewahrte, sieht eher das allgemein Landwirtschaftliche als Bezugspunkt. Selbst der parteilichste Zeitgeist nutzt sich irgendwann ab. Was bleibt, ist Patina.
Der „Junge Traktorist“ wurde von der Ost-Berliner Nationalgalerie 1953 auf der Dritten Deutschen Kunstausstellung in Dresden erworben – und ausgetauscht gegen einen anderen Helden der Arbeit, der zuvor ein Jahr lang Isseroda erfreut und irritiert hatte: Der „Sämann“, die 1896 entstandene monumentale Bronzeskulptur des belgischen Bildhauers Constantin Meunier (1831–1905), stand seit 1952 gleich neben der Dorfkirche, in einer Grünanlage am Kulturhaus der örtlichen MTS (Maschinen-Traktoren-Station). So hießen die Vorläufer der kollektivierten Landwirtschaftsbetriebe in der DDR. Heute ist das Kulturhaus ein Gasthaus – vom einstigen Weltkunststandort fehlt jede Spur.
Beschafft hatten sich die Isserodaer den „Sämann“ – und zwei weitere Skulpturen – offenbar auf eigene Faust unter bis heute ungeklärten Umständen vom nahen Gut Holzdorf. Holzdorf war zwischen 1917 und 1941 das Refugium des Mannheimer Unternehmers Otto Krebs, der dort eine exquisite Sammlung von Gemälden und Graphiken des Impressionismus und Postimpressionismus zusammentrug. Krebs’ Bilderschätze konfiszierte die Rote Armee, sie werden heute in der St. Petersburger Eremitage aufbewahrt. Einige der vorrangig im Park aufgestellten Skulpturen, darunter der Meunier sowie Werke von Rodin, Degas, Ernesto de Fiori und eine Kopie nach Lehmbruck, erschienen den Russen zu unhandlich für den Abtransport. Sie gelangten – „Der Sämann“ über den Umweg Isseroda – auf Initiative der Staatlichen Kunstkommission der DDR 1953 in die Nationalgalerie und teilweise auch nach Dresden. Anderes blieb zurück und verschwand erst später. Die von der MTS Isseroda herausgegebene Dorfzeitung „Das Bündnis“ bildet im März 1954 das aus Holzdorf stammende Relief „Stierbändiger“ des Weimarer Bildhauers Josef Heise ab, das damals im Kulturhausgarten stand. In der Bildunterschrift heißt es so polemisch wie radebrechend: „Alle Werktätigen bewundern dieses Meisterwerk. Ursprünglich war es nur für eine kleine Gruppe Menschen geschaffen.“
Meuniers „Sämann“ stand ein halbes Jahrhundert lang im Kolonnadenhof vor der Nationalgalerie; als primus inter pares der Kollektion von Skulpturen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unter freiem Himmel. „Der Sämann“ war ein Signal für die von Direktor Hugo von Tschudi in die Nationalgalerie geholte Moderne, und so schmerzte es besonders, als er mit weiteren Skulpturen im April 2008 an den Haupterben von Otto Krebs, die „Stiftung für Krebs- und Scharlachforschung“, eine in Heidelberg ansässige Stiftung für medizinische Forschung, restituiert wurde. Bei Christie’s im Juni 2010 versteigert, konnte der seltene Bronzeguss (von der überlebensgroßen Version mit nackten Füßen sind fünf Abgüsse bekannt) mit Mitteln der Staatlichen Museen zu Berlin, der Kulturstiftung der Länder und der Hermann Reemtsma Stiftung für die Sammlung der Nationalgalerie zurückerworben werden. Nun steht die Skulptur wieder im restaurierten Kolonnadenhof und bildet den großartigen Auftakt für das Thema Arbeit in der Alten Nationalgalerie. Denn auch mit Gemälden wie Adolph von Menzels „Eisenwalzwerk“, Max Liebermanns „Flachsscheuer“ und Auguste Rodins Jahrhundertskulptur „Das eherne Zeitalter“ ist dieser für das späte 19. Jahrhundert so bedeutsame Themenbereich in der Berliner Sammlung hochkarätig vertreten. „Der Sämann“ selbst nimmt es gelassen. Mit gefurchter Stirn und festem Schritt versieht er wie eh und je sein Tagwerk und wirft Samenkörner in die Erde.
Wie erklärt sich, über Systemwechsel und Wertewandel hinweg, die Faszination am Werk des Constantin Emile Meunier? Man hat den belgischen Maler, Zeichner und Bildhauer in den Jahren um 1900, als der soziale Status der Arbeiterklasse zum Gegenstand bürgerlicher Reformpolitik wurde, vor allem in Belgien, Frankreich und Deutschland gerühmt für seine Darstellung körperlicher Arbeit. Modernisten galt er neben Auguste Rodin als der wichtigste Bildhauer Europas. Die Nationalgalerie erwarb bereits 1897, als Geschenk eines ungenannten Berliner Kunstfreundes, das Bronzerelief „Die Heimkehr der Bergleute“. In ihrer ersten Ausstellung zeigten die Berliner Avantgarde-Kunsthändler Bruno und Paul Cassirer 1898 neben Degas und Liebermann auch Meunier.
Mit Skulpturen wie dem „Sämann“ erreichte Meunier den Zenit seines Ruhmes. Eine modifizierte Version bekrönt auch das posthum errichtete, erst 1930 eingeweihte „Monument au Travail“ in Brüssel. In ähnlich prekärer Situation wie die Moderne unter Kaiser Wilhelm II. in Deutschland, war es dem greisen Meunier und seinen liberalen Sympathisanten zu Lebzeiten nicht gelungen, die offizielle belgische Kunstpolitik unter König Leopold II. vom Sinn des Denkmals zu überzeugen.
Der Denkmalstreit enthüllt ein Problem, das auch Meuniers Konkurrenten Rodin mit seinem ähnlich gearteten „Turm der Arbeit“ scheitern lässt. Die pathosgeladene Überhöhung von Arbeit, die bei Meunier in einer Apotheose der Fruchtbarkeit mündet, fügt sich nach Theodor W. Adorno allzu nahtlos „jener bürgerlichen Ideologie ein, die dadurch mit dem damals noch sichtbaren Proletariat fertig wurde, in dem sie auch ihm schönes Menschentum und edle Physis bescheinigte“. Viele Künstler der Zeit träumen von einer Veredelung des Arbeiters und einer Gesellschaftssynthese, die auch weitblickenden Unternehmern behagen muss. Längst perdu ist die revolutionäre Stimmung, die den marxistischen Historiker Franz Mehring 1891 vor einem Gemälde Meuniers ausrufen lässt: „Vor solchen Bildern vergeht jedem noch so kunstverständigen und noch so menschenfreundlichen Bourgeois der Atem.“
Nimmt man Meuniers wichtigsten Vorläufer beim Thema Arbeit in den Blick, den französischen „Bauern-Maler“ Jean-François Millet (1814–1875), werden die religiösen Grundlagen seines Schaffens deutlich. Noch in späteren Jahren nimmt Meunier formale Anleihen an Millets erdenschwerer Offenbarungsmalerei. Seine Studienreise 1877/78 in das Borinage, das Zentrum der belgischen Schwerindustrie, wo er Stahlwerke und Glashütten besichtigt und ihre Arbeiter in Skizzen festhält, beschreibt der wortkarge Künstler als Erweckungserlebnis: „Es gibt gewissermaßen zwei Leben in meinem Leben.“
Auch Vincent van Gogh (1853–1890), der zur selben Zeit ins Borinage geht, um Prediger zu werden und als Künstler zurückkehrt, hat die Darstellung des bäuerlichen Lebens bei Millet bewundert – in der Sammlung Otto Krebs war eine der Millet-Kopien van Goghs vertreten. Beide, Millet und van Gogh, gestalten wiederholt die Figur des Sämanns und bereiten damit den Boden für das Motiv.
Eine Tradition in der figurativen Skulptur hat Meunier mit seinen Arbeiter- und Arbeitsdarstellungen nicht begründet. Noch zu seinen Lebzeiten waren allegorische Motive wie die Darstellung Bismarcks als „Schmied des Deutschen Reiches“ beliebt. Josef Thorak (1889–1952) unternahm – ehe er zum Favoriten Hitlers aufstieg – mit den Allegorien „Arbeit“ und „Heim“, die sich noch heute an der Berliner Knobelsdorffstraße gegenüberstehen, 1928 vergeblich den Versuch, die Gattung zu modernisieren. Die Skulptur im „Dritten Reich“ trug, entgegen der propagandistischen Überhöhung der arbeitenden Volksgemeinschaft, überraschend wenig zum Thema bei. Thoraks riesiges „Denkmal der Arbeit“, das an der Reichsautobahn bei Salzburg errichtet werden sollte, blieb unvollendet. Lediglich ein künstlerischer und politischer Außenseiter wie Fritz Koelle (1895–1953) schuf während der 30er Jahre Arbeiterskulpturen, die sich unverkennbar auf Meunier bezogen. Mit Figuren wie „Saarbergmann mit Grubenlampe“ und „Der Steinbrecher“ nahm er an der Großen Deutschen Kunstausstellung in München teil.
Infolge des Formalismusstreits erlebte die Darstellung von Arbeitern und Bauern im Arbeiter- und Bauernstaat DDR eine Renaissance. Der Katalog der Dritten Deutschen Kunstausstellung von 1953 legt vom verordneten Sinneswandel beredtes Zeugnis ab. Neben dem nach Isseroda gelangten „Jungen Traktoristen“ sticht die „Traktoristin“ von Walter Arnold (1909–1979) ins Auge. Die detaillierte Wiedergabe der Arbeitskleidung hat mit Meuniers aufs Wesentliche reduziertem Menschenbild nichts mehr zu tun, sondern imitiert den aus der Sowjetunion importierten Sozialistischen Realismus. Nach Nationalsozialismus und Krieg steht nicht mehr der Übermensch, sondern der Alltagsmensch auf dem Programm. Der Kunstwissenschaftler Horst Jähner schreibt 1959 über Arnolds „Traktoristin“: „Typisch für Tausende von Mädchen, die bei uns auf den Feldern die Maschinen bedienen, spiegelt sich in dieser Figur manches von den Veränderungen wieder, die für das Leben bei uns auf dem Lande kennzeichnend sind.“
Allein Fritz Cremer (1906–1993) ist es in dieser Umbruchzeit mit zwei Arbeiter-Bronzen gelungen, künstlerische Würde zu bewahren. „Aufbauhelfer“ und „Aufbauhelferin“ stehen bis heute vor dem Roten Rathaus in Berlin und erzählen von einem Land, in dem Arbeit noch der Treibstoff von Heldenmärchen gewesen ist.