Ruinen im Vergleich
Silbrig-hell bricht der Vollmond durch die Wolkendecke. Fahles Licht erleuchtet spärlich eine Szenerie, wie sie gegensätzlicher und „romantischer“ kaum sein könnte: Steil und düster ragt die Ruine einer gotischen Klosterkirche in den Nachthimmel, nur durch eine spitzbogige Fensteröffnung hoch oben fällt das Mondlicht. Zu Füßen der Kirche duckt sich ein mit Reet gedecktes Bauernhaus, dessen Schlot weißlichen Rauch in die Finsternis entlässt. Ein Zaun, ein alter Baum, an den Reusenstangen gelehnt sind. Anheimelnd leuchtet im Kerzenschein ein einsames Fenster. Hier wird gelebt und gearbeitet. Eine deutliche Botschaft, so unmittelbar vor dem Monument erhabener Vergangenheit.
1819 oder 1820 schuf der Arzt, Naturforscher und Maler Carl Gustav Carus (1789–1869) sein Gemälde „Ruine Eldena mit Hütte im Mondschein“. Es entstand als Resultat einer Reise, über die Carus noch Jahrzehnte später in seinen Lebenserinnerungen schwärmen wird: „Wir aber genossen Zug für Zug aus diesem romantischen Becher!“ Die Ostseereise markiert einen Neuanfang: gesundheitlich, intellektuell und – natürlich – auch künstlerisch. Als Carus im August 1819 von Dresden über Greifswald nach Rügen aufbricht, kennt er seinen Künstlerfreund Caspar David Friedrich erst seit einem guten Jahr. Und doch ist Friedrich bereits so zentral für Carus geworden, dass der seine erste Erholungs- und Selbstfindungstour in die Heimat des 14 Jahre Älteren unternimmt. Carus, der gebildete Generalist und malende Autodidakt, der seit ein paar Jahren unter der Arbeitslast als Leiter der Königlich Sächsischen Hebammenschule ächzt, wandelt nicht ohne Hintergedanken auf den Spuren des norddeutschen Künstlergenies.
Bereits in Neubrandenburg wird Carus mit seinen Begleitern Julius Dietz und Friedrich Gotthelf Kummer Station machen bei einem Bruder Friedrichs, der dort als Schmiedemeister lebt und arbeitet. Carus bewundert – ganz im Geist der zunehmend reaktionärer werdenden Zeit – das „altbürgerliche echtdeutsche Hauswesen unsers lieben Meisters Wirt, in welchem mir auf eigene Weise die große Künstlernatur des Bruders in die einfach markige Tätigkeit des Handwerks umgesetzt erschien“.
Auch in Greifswald genießen Carus und seine Begleiter die Nähe zu Friedrichs Familie. Und sie erwandern in natura das, was sie im Dresdner Atelier des verehrten Meisters auf Zeichnungen gesehen haben: Friedrichs während mehrerer Rügen-Reisen skizzierten landschaftlichen Lieblingsplätze. Eine ganze Werkgruppe von Naturstudien – meist in Blei – zeugt unmittelbar von Carus’ künstlerischer Auseinandersetzung mit Caspar David Friedrichs Zeichnungen und Sepia-Blättern. Den Sachsen Carus zieht es ans Meer, weil ihn gerade dort „die tiefere Fühlung des eigenthümlich norddeutschen romantischen Elements“ überwältigt. Nach Dresden zurückgekehrt, verarbeitet er seinen Skizzenschatz in etlichen Gemälden.
Zur Gruppe der auf unmittelbaren Reiseeindrücken basierenden pommerschen Landschaften gehört auch das eher kleinformatige Gemälde „Ruine Eldena mit Hütte im Mondschein“, das jetzt für das Pommersche Landesmuseum in Greifswald erworben werden konnte. Vor zwei Jahren war das aus dem Besitz der Nachfahren des Künstlers stammende, nun über ein britisches Auktionshaus und den deutschen Kunsthandel vermittelte Werk bereits in der großen Carus-Retrospektive in Dresden und Berlin gezeigt worden. Da war klar: Eigentlich gehört es nach Greifswald.
Seit 2000 ist das Pommersche Landesmuseum in dem um einen Ergänzungsbau erweiterten klassizistischen Schulgebäude des Architekten Johann Gottfried Quistorp untergebracht. Seither gelang es in Greifswald, die exzellente Sammlung von Malerei des 19. Jahrhunderts durch Neuerwerbungen gezielt auszubauen. Den Kern der Greifswalder Galerie bilden Bestände des Städtischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe in Stettin (seit 1945: Szeczin), die zu Kriegsende nach Coburg ausgelagert und ab 1971 im Kieler Schloss gezeigt worden waren. Bedeutende Werke Caspar David Friedrichs kommen sowohl aus Stettiner Museumsbesitz wie aus der Sammlung des ehemaligen Städtischen Museums von Greifswald, die heute ebenso zum Pommerschen Landesmuseum gehört. Direktor Uwe Schröder und die zuständige Kustodin Birte Frenssen können über die qualitätvollste Romantikersammlung Mecklenburg-Vorpommerns verfügen. Bilder zumal, die nicht nur Capri und die römische Campagna, sondern die unmittelbare Umgebung feiern. In Greifswald wird auf einmalige Weise dem Genius loci gehuldigt.
Zu den Hauptwerken im Romantikersaal gehört Caspar David Friedrichs „Ruine Eldena im Riesengebirge“ von 1830/34, neben dem künftig die Eldena-Ansicht von Carus hängen wird. Carus wie Friedrich zeigen das seit dem Dreißigjährigen Krieg ruinöse Zisterzienserkloster, das nur wenige Kilometer vom Greifswalder Stadtzentrum entfernt im Mündungsgebiet des Flusses Ryck liegt, mit Blick auf die markante Westfassade der Klosterkirche. Friedrich setzt das Monument norddeutscher Backsteingotik vor die – seitenverkehrt gegebenen – majestätischen Gipfel des Riesengebirges in Schlesien. Doch die architektonische Gestalt der Ruine gibt der Künstler detailgenau wieder – bis auf das große Westfenster, das damals noch weitgehend vermauert gewesen ist. In Kompositionen wie dieser dient Friedrichs Detailrealismus einer höheren Wirklichkeit. Auch Carl Gustav Carus entfernt sich in seinem Gemälde weit vom realen Zustand der Klosterruine, für die sich in den Jahren um 1820 patriotische Bürger ebenso zu interessieren begannen wie der geschichtsbewusste preußische Kronprinz. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Carus vom ersten Eindruck, den die backsteinroten Baumassen auf die Freunde machten: „Die Krone des Tages war ein Abendspaziergang am Ryckgraben, der Mündung des Hafens, hinaus nach Eldena, wo eine der malerischsten Klosterruinen, ein einsames umbuschtes hochgothisches Fenster mit starken Pfeilern, kühn sich hervorhob, und nebst einem sich anlehnenden Hüttchen, im Hintergrunde das Meer bei spätem Abendduft eins der reizendsten Bilder darstellte, die bis dahin mir vorgekommen waren.“
Wenige Jahre, nachdem Friedrich und Carus Eldena mit ihren Gemälden populär gemacht hatten – man nur denke an Friedrichs „Abtei im Eichwald“, die auf der Berliner Akademieausstellung von 1810 für Aufsehen gesorgt hatte –, begann man die Anlage von späteren Einbauten zu befreien und durch eine landschaftsgärtnerische Fassung aufzuwerten. Rund 80 Jahre nachdem gotische oder neogotische Ruinen zum festen Inventar des englischen Landschaftsparks geworden waren, bemächtigte sich die Gotikmode – nun unter dem Vorzeichen nationaler Begeisterung und aufkeimenden Denkmalbewusstseins – auch der Überreste „nordischer“ Baukunst. Die einstige Abtei war nun kein abgelegener Ort für melancholische Künstler mehr, sondern ein touristisches Ausflugsziel.
Dass Carus keine Vedute, sondern etwas ganz Anderes, Höheres im Sinn hatte, als er die „Ruine Eldena mit Hütte im Mondschein“ malte, legt schon der Titel nahe, unter dem das Bild auf der Dresdner Akademieausstellung von 1820 gezeigt wurde: „Fenster einer verfallenen Abtey; Phantasie“. Weit entfernt er sich von der vor Ort in Blei aufgenommenen Naturstudie, weit auch von den Motiven Caspar David Friedrichs. Die strohgedeckte Kate, die sich geduckt an die Südwestecke der Klosterkirche anlehnte, gerät bei Carus zum freistehenden Bauernhaus. Die Materialität der Ruine – roter Backstein – ist nicht mehr zu erahnen. Stattdessen: die Inszenierung von Gegensätzen. Heimeliges gegen Erhabenes, Alltägliches gegen Entrücktes. Überdeutlich wird dies in der Lichtregie von Carus: Dem behaglichen Kerzenschein antwortet das übersinnliche, spirituelle Licht des Mondes.
Ein Rezensent der Dresdner Akademieausstellung von 1820 merkte über das Bild kritisch an, dass Carus nicht die gewünschte Wirkung erziele, „weil das Beabsichtigte zu offenbar ist“. 1823 wird Carus ein weiteres Eldena-Gemälde als Geschenk zu Goethe nach Weimar schicken. Es zeigt die Klosterruine aus beinahe exakt demselben Blickwinkel. Nun wird das Bauernhaus jedoch artig hinter Bäumen versteckt und der Himmel zeigt eine aufgeräumte Abendstimmung. Der romantische Aufbruch kämpft mit dem Biedermeier.