Rückkehr der Schleiertänzerin

Glückliche Heimkehr nach 78 Jahren: Als im Frühjahr dieses Jahres ein atmosphärisches Akt-Aquarell von Otto Dix (1891–1969) auf einer Londoner Auktion versteigert werden sollte, waren die Wissenschaftler der Kunsthalle Mannheim sofort elektrisiert. Sie erkannten in der „Frau mit Schleier“ jenes Blatt, das ab dem Jahr seiner Entstehung 1922 eines der graphischen Glanzstücke des Museums bildete. Beschlagnahmt von den Nationalsozialisten in der Aktion „Entartete Kunst“ – der insgesamt 170 Gemälde und Skulpturen sowie 500 Graphiken der renommierten Mannheimer Avantgarde-Sammlung zum Opfer fielen –, verlor sich ab 1937 die Spur des frühen Dix-Werkes. Durch schnelle, unbürokratische Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung gelang es der Stadt Mannheim, das Aquarell noch vor der Versteigerung direkt aus italienischem Privatbesitz zu erwerben.

Otto Dix, Weiblicher Akt/Frau mit Schleier, 1922, Aquarell, 48 x 38,5 cm, Kunsthalle Mannheim © VG Bild-Kunst, Bonn 2015/Foto: Cem Yucetas, Kunsthalle Mannheim
Otto Dix, Weiblicher Akt/Frau mit Schleier, 1922, Aquarell, 48 x 38,5 cm, Kunsthalle Mannheim © VG Bild-Kunst, Bonn 2015/Foto: Cem Yucetas, Kunsthalle Mannheim

Die „Tänzerin“ balanciert zwischen Verismus und Vision: Das Aquarell markiert einen ersten künstlerischen Höhepunkt im frühen Schaffen Otto Dix’ – erweist sich der 1918 aus dem Ersten Weltkrieg heimgekehrte Maler hier bereits als Virtuose der Farbschleier und extrem dünnen Farbüberlagerungen. Vor einem abstrakten, zwischen gelb-grün und purpur-violett changierenden Hintergrund posiert eine weibliche Figur, deren Körper ein malerisch meisterhaft gestalteter, halbtransparenter Spitzenschleier umspielt. Ungewöhnlich unbestimmt ist der Charakter des großformatigen Zeugnisses der „Neuen Sachlichkeit“: Die Aktfigur scheint Dix – Zeichner des großstädtischen Lebens und zeitgenössischer Milieustudien –, einem Varieté, gar einer erotischen Postkarte entnommen zu haben. Doch ohne konkreten Realitätsbezug, wirkt die Schleiertänzerin wie eine aus dem kräftigen Kolorit entstiegene, beinah geisterhafte Vision. Die Qualität des farbfrischen Aquarells erwächst aus dieser fesselnden Vagheit.

Mit der Erwerbung der eindrucksvollen Papierarbeit, die bis Januar 2016 in der Ausstellung „Arche. Meisterwerke der Sammlung“ mit einer Dokumentation ihrer Geschichte präsentiert wird, konnte auf glückliche Weise eine der vielen Lücken geschlossen werden, die der nationalsozialistische Bildersturm in der Kunsthalle Mannheim hinterließ. Die Kulturstiftung der Länder bemüht sich seit Langem, die großen Verluste in deutschen Sammlungen zumindest punktuell auszugleichen, und so kann Otto Dix’ Schleiertänzerin erneut in ihrem ursprünglichen Sammlungszusammenhang erstrahlen.