Rettungs-Schirme
Ein eisiger Wintertag in Berlin. Der Weg in das Atelier von Papierrestauratorin Kerstin Häussermann führt durch die schneebedeckten Straßen Kreuzbergs: Hier im zweiten Stock eines Altbaus ist einer von zwei Sonnenschirmen aus dem Besitz der Herzogin Luise Dorothea von Sachsen-Gotha-Altenburg (1710 –1767) vorübergehend in Behandlung. Die sorgfältige Restaurierung ist der entscheidende Schritt, um der Geschichte dieser empfindlichen Objekte weiter auf den Grund gehen zu können. Kerstin Häussermann, spezialisiert auf Papier- und Tapetenrestaurierung, ist damit betraut, das fragile Dekor der Sonnenschirme – bestehend aus filigranen Papierapplikationen – wieder instandzusetzen. Einer dieser Sonnenschirme ist auf einer breiten Arbeitsplatte in ihrem langen, mit Tischen, Schränken und allerlei zu restaurierenden Objekten bestückten Atelier drapiert. Eine große Lampe richtet ihren Schein auf das zarte, aus blau-grünem Seidentaft bestehende Sonnenschirmchen. Es zieht seinen Betrachter auf den ersten Blick in den Bann: Am Stoffrand umgibt ihn ein dichter Besatz aus vergoldeten Silbergespinsten. Ein aus Elfenbein gearbeiteter und mit Rillenmuster verzierter Aufsatz schmückt zudem seine Spitze. Detailreiche, farbige Blumenmuster sind aus Découpé-Spitze gearbeitet – einer aus Papierapplikationen bestehenden Spitze, die mit ihrer ausgefeilten Stanztechnik edle Klöppelspitze imitiert. Der florale Schmuck umspielt kleine und größere Medaillons aus Glimmer.
Kerstin Häussermann erklärt, dass Glimmer ein sehr gefragtes Mineral ist, das häufig als Glasersatz verwendet wurde und sich besonderer Beliebtheit erfreute. Glattgeschliffen dient es auf dem Schirm als Träger filigraner bunter Gouachemalereien – kleine Kunstwerke, die sich durch eine Lupenbrille en détail erschließen.
Die Darstellungen auf den Medaillons zeigen für die damalige Zeit typische Sujets. Es handelt sich um Chinoiserien, die sich seit dem frühen 17. Jahrhundert großer Beliebtheit erfreuten und in Europa durch den Handel der ostindischen Kompanien rasche Verbreitung erfuhren. Meist waren sie inspiriert von auf der Reise angefertigten Kupferstichen oder Expeditionsberichten. Auf den Sonnenschirmen bilden kleine Staffagefiguren das zentrale Moment der Bildepisoden, die sich im Ganzen zu einer Bildgeschichte formieren. In langen reich verzierten Roben musizieren sie, unterhalten sich und bestaunen mit ihren Spitzhüten in fantasievoller Botanik wandelnd Fabelwesen, Papageien und Affen. In manchen Medaillons lassen sich chinesische Pagoden entdecken, einige Figuren tragen auch Sonnenschirme bei sich.
Die verschiedenen handwerklichen Techniken wie auch die facettenreiche Verwendung von Stoffen machen die Einmaligkeit der Sonnenschirme aus. Sie waren letztlich nicht nur Repräsentationsobjekte der Herzogin, sondern als Träger der Chinoiserien Vermittler damaliger europäischer und zum Teil klischeebehafteter Vorstellungen ferner Länder.
An einem ebenfalls sehr verschneiten Vormittag in Gotha öffnen die Textilrestauratorin Marie-Luise Gothe und der Präparator Peter Mildner ihre kleine, aber fensterreiche Werkstatt mit Ausblick auf Schloss Friedenstein. Hier nahmen die umfangreichen Restaurierungsarbeiten ihren Anfang. Bevor die beiden Sonnenschirme überhaupt transportabel waren, musste die gesamte Mechanik wiederhergestellt werden, denn im Prinzip waren sie ihrer Funktion beraubt: Weder Aufspannen noch Schließen war möglich. Nach der Reparatur des Gestänges entwickelte Peter Mildner die Unter- und damit Grundlage der folgenden Restaurierungsschritte: Zur Stabilisierung der Schirmdächer fertigte er zwei Konstruktionen aus Schaumstoff an. Sie sind mit Vertiefungen für den Schirmstab und die Mechanik versehen, auf denen die Sonnenschirme nun für unbestimmte Dauer ruhen. Marie-Luise Gothe erklärt, dass erst in diesem Stadium weitere Restaurierungen am Stoff durchgeführt werden konnten. Mit einem für solche Arbeiten geeigneten Sauger entfernte sie Staub- und Schmutzpartikel und wandte sich dem Seidenchiffon zu, um defekte Stellen auszubessern. Erst durch die vorsichtige Reinigung strahlen die Schirme wieder in ihrer ursprünglichen Pracht. Der zweite, bereits nach Gotha zurückgekehrte, zeigt exemplarisch die bisher getätigten Ausbesserungen: Sein Schirmdach strahlt nach der Reinigung und Fixierung der Découpé-Spitze sowie der stofflichen Reparaturen in vollem Glanz. Die Motive der Glimmerarbeiten ähneln zwar denen des Ersten, aber die Zierrahmen und die Anzahl der Glimmerkartuschen sind verändert. Er weist drei Reihen von Bildepisoden auf, die mittlere ist sogar mit je zwei ovalen Medaillons nebeneinander geschmückt. Der Schirmrand ist mit einer geklöppelten Spitze aus silbervergoldeter Seidenseele versehen, ergänzend befindet sich an der Schirmspitze eine aus den gleichen Gespinsten bestehende Quaste.
Im weiteren Gespräch erwähnt die Textilrestauratorin, dass beide Schirme in ihrer Materialvielfalt Unikate darstellen und bis heute keine vergleichbaren Exemplare bekannt sind. Wenn auch nicht aus der gleichen Objektfamilie stammend, weisen zwei Faltfächer aus der Zeit um 1700 aus der Fächersammlung des Herzogs August (1772 –1822), eines Enkels von Luise Dorothea, große Ähnlichkeit auf. Auch sie bestehen aus Seide und Tüll mit Découpé-Applikationen. Ob die Objekte aus der selben Manufaktur wie die Schirme stammen, steht zur Debatte. Unabhängig der Jahreszeiten und dem Winter zum Trotz wird der bereits fertig restaurierte und sich in Gotha befindende Sonnenschirm seinen Glanz einer breiten Öffentlichkeit im Fächerkabinett des Herzoglichen Museums in der Ausstellung „Echt(e) Spitze – Spitzenfächer aus vier Jahrhunderten“ (bis 27. Mai 2018) präsentieren. Folgenden Fragen kann nun nachgegangen werden: Gibt es vergleichbare Objekte in anderen Sammlungen? In welcher Manufaktur oder Werkstatt wurden die Sonnenschirme gefertigt? Eine Möglichkeit, die Forschung voran zu treiben.