Rechenkunst
Rechenmaschine von Curt Dietzschold, 1877
Das Arithmeum, ein Museum der Universität Bonn, hat die weltweit umfassendste Sammlung historischer Rechenmaschinen. Das Museum präsentiert die Geschichte des mechanischen Rechnens in ästhetisch ansprechendem Ambiente und versucht die Schwellenangst, die Mathematik und Technik häufig immer noch bei vielen Menschen hervorrufen, durch eine Kombination von Wissenschaft und Kunst zu senken. Neben der Rechenmaschinensammlung besitzt das Arithmeum eine umfassende Sammlung bibliophiler Rara der Mathematik, insbesondere Rechenbücher mit Schwerpunkt auf dem 17. Jahrhundert und früher mit mehr als 1.500 Objekten, eine kleine Sammlung zur afrikanischen Tribal Art mit ca. 100 Objekten, eine umfangreiche Sammlung konstruktiver und konkreter Kunst mit 350 Gemälden, 600 Graphiken und Gouachen und 50 Skulpturobjekten und eine Sammlung von mehr als 100 Designobjekten.
Die Sammlung historischer Rechenmaschinen umfasst nahezu 10.000 Objekte. Neulich hat uns ein holländischer Sammler eine kompendiale Kollektion von 3.500 Rechenschiebern geschenkt. Die Sammlung der Rechenmaschinen des Arithmeums war zunächst eine Privatsammlung des Direktors des Forschungsinstituts für Diskrete Mathematik Bernhard Korte. Bei der Planung des Neubaus von Forschungsinstitut und Arithmeum wurde sie dem Land Nordrhein-Westfalen und der Universität Bonn geschenkt. Im Gegenzug wurden Baumittel aus dem Ausgleichstopf Berlin-Bonn für den Arithmeumsteil zur Verfügung gestellt.
In der Anfangszeit wurden allein aus Platzgründen nur mechanische Objekte gesammelt. Nachdem ein großes Depot von der Universität angemietet wurde, werden auch elektronische Rechner gesammelt. Dieser Sammlungsteil hat zur Zeit bereits mehr als 1.000 Objekte – darunter einer der wenigen noch funktionierenden Zuse Computer (Z 25). Die Sammlung bibliophiler Rara beginnt bei den ersten gedruckten Rechenbüchern zu Gutenbergs Zeit. Sie ist neben der mathematikgeschichtlichen Motivation auch unter kulturhistorischen Gesichtspunkten spannend. Da Rechenbücher zu den frühesten Druckwerken in deutscher Sprache gehören, kann mit ihnen sehr eindrucksvoll die Entwicklung der Schriftsprache dokumentiert werden. Nicht nur Werke des bekanntesten Rechenmeisters Adam Ries (1492–1559) sind hier zu sehen, sondern auch die seiner zahlreichen Vorgänger und Zeitgenossen, die heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind. Durch die Erstellung von Faksimiledrucken versucht das Arithmeum diese Dokumente einer Zeit, in der das Rechnen noch längst keine Selbstverständlichkeit war, zugänglich und verständlich zu machen. Einen Einblick in das Rechnen heute bietet die Vorstellung des Designs mathematischer hochentwickelter Mikroprozessoren, welche mit den Algorithmen des Forschungsinstituts für Diskrete Mathematik berechnet werden. Das Forschungsinstitut befindet sich mit dem Arithmeum unter einem Dach. So finden immer wieder aktuelle wissenschaftliche Ergebnisse aus diesem faszinierenden Gebiet der Mathematik unmittelbar Eingang in die Präsentation für die Besucher des Arithmeums.
Die Darstellung des Rechnens von den Anfängen bis heute ist somit abgerundet und spricht sowohl geschichtsorientierte Besucher als auch die Nachwuchscomputerfans an, die gern wissen wollen, was in ihren Computern tatsächlich für sie rechnet.
Das Arithmeum darf sich glücklich schätzen, nun schon den zweiten Sammlungserwerb mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder getätigt zu haben. Bereits 1999 konnte es mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung, des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn ein einzigartiges Artefakt in seine Sammlung aufnehmen: die Rechenmaschine von Johann Christoph Schuster (1820/22). Johann Christoph Schuster (1759–1823) war Schüler und Halbschwager des Pfarrers und Mechanikers Philipp Matthäus Hahn (1739–1790). Hahn hat als erster eine Rechenmaschine für die vier Grundrechenarten erfunden, die über alle Stellen voll funktionsfähig war. Somit ist die Rechenmaschine von Schuster ein technisch höchst anspruchsvolles Exponat, das als kulturhistorischer Meilenstein auch noch mit einem ansprechenden Gehäuse aufwartet. Aus dem Anlass des Ankaufs wurde seinerzeit auf Anregung der Kulturstiftung der Länder eine Sonderbriefmarke mit einer Abbildung dieses Kleinods herausgegeben.
Ausführlicher untersucht wurde diese Rechenmaschine in der Patrimonia-Ausgabe 203. Dabei traten zahlreiche neue Erkenntnisse für die Erforschung früher kreisrunder Rechenmaschinen zutage. So konnte beispielsweise die Verwendung von Repetierwerken zur mechanischen Darstellung von Zahlen in den Versuchsmodellen von Hahn nachgewiesen und exakt beschrieben werden sowie eine vergleichbare Rechenmaschine von Johann Jakob Sauter (geb. 1770) im Stadtmuseum in Göteborg ausfindig gemacht werden.
Nun konnte das Arithmeum dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder, der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung und der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn die Rechenmaschinensammlung des ehemaligen Büromaschinenhändlers Helmut Waldbauer in Wien ankaufen. Diese 338 Objekte umfassende Sammlung dokumentiert speziell die Entwicklung der Rechenmaschinen in Österreich seit Beginn der Industrialisierung. Hier sind zum Beispiel einige Exemplare der bekannten Marke Austria vorhanden, die auch ästhetisch reizvoll sind.
Zwei Schaltklinkenmaschinen, die ersten ihrer Art, waren für den Erwerb der Sammlung Waldbauer besonders bedeutend: Die ersten Prototypen von Curt Dietzschold (1877) und Friedrich Weiss (1893) konnten eine Lücke in der Sammlung des Arithmeums schließen.
Um den historischen und technisch-innovativen Wert dieser Objekte einordnen zu können muss man wissen, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst nur eine Rechenmaschine für alle vier Grundrechenarten in Serie gefertigt wurde. Das war das sogenannte Arithmomètre von Charles Xavier Thomas (1785–1870). Er hatte bereits 1820 eine Rechenmaschine zum Patent angemeldet, die Zahlen mechanisch mit Hilfe von Staffelwalzen speichern konnte. Diese Rechenmaschine von Thomas wurde nach einigen Verbesserungen ab etwa 1850 erfolgreich in Serie produziert und auch über die Grenzen Frankreichs hinaus vertrieben. Ihre Robustheit und Zuverlässigkeit begründete ihren Ruhm. Der Nachteil bestand aber in den speziell angefertigten Bauteilen dieser Maschine. War eine Reparatur nötig, musste die sehr kostspielige Maschine nach Paris gesendet werden. Sowohl der Ausfall als auch die zusätzlichen Kosten waren nachteilig. So überlegten sich Konstrukteure im deutschen Sprachraum wie Dietzschold und Weiss, ob sie nicht ebenso robuste und zuverlässige Maschinen entwickeln könnten, die aber jeder Uhrmacher reparieren könnte. Das führte zu einer völlig anderen und technisch hochinteressanten Lösung der Fragestellung, wie Zahlen mechanisch gespeichert werden können. Während Thomas eine Staffelwalze verwendet hat, also einen Zylinder, auf dem in gleichmäßiger Staffelung neun unterschiedlich lange Rippen angebracht waren, kamen Dietzschold und Weiss auf eine neue Idee.
Beide erfanden unabhängig voneinander das sogenannte Schaltklinkenprinzip. In der Abbildung sehen wir eine Funktionsskizze, die auch die Platzersparnis dieses Prinzips erahnen lässt. War die Staffelwalze aufgrund der nötigen Toleranzen nahezu 10 cm lang, so nimmt die Schaltklinke in der Tiefe maximal einen einzigen Zentimeter Raum ein. In der Funktionsskizze sehen wir, dass sie auf einem normalen Zahnrad beruht, von dem lediglich durch ein davor montiertes Kurvenscheibensegment eine gewisse Anzahl von Zähnen abgedeckt wird, so dass nur die nicht abgedeckten Zähne abgegriffen werden.
Das Arithmeum freut sich mit dem Erwerb dieser Sammlung die Geschichte der mechanischen Rechenmaschinen noch mehr komplettieren zu können. Wie anfangs erwähnt spielt auch bei der Betrachtung von Rechenmaschinen die ästhetische Komponente eine Rolle, die im Arithmeum in der Präsentation in Kombination mit geometrisch-konstruktiver Kunst, historischen Rechenbüchern und dem „rechnen heute“ besonders ergänzt wird. So überzeugen in der Sammlung Waldbauer zahlreiche andere einzigartige Rechenmaschinen den Laien in erster Linie vor allem durch ihre äußere Ästhetik wie beispielsweise das kleine Rechenlernspielzeug „Müller“ oder ein Rechenhilfsmittel mit Namen Habereder.
Aber auch weitere technisch hochinteressante Stücke befinden sich bei den Neuzugängen. So waren in der Sammlung Waldbauer zahlreiche Rechenmaschinen der Firma Odhner und Brunsviga. Diese basieren wiederum auf einem anderen gängigen Prinzip der mechanischen Realisierung von Zahlen, dem sogenannten Sprossenrad. Hierbei handelt es sich um ein Zahnrad mit einer variablen Anzahl von Zähnen bzw. Sprossen, die je nach Bedarf aus dem Zahnrad herausgedrückt werden. Dieses Prinzip hat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Marktführung übernommen, da die Maschinen deutlich kleiner leichter und auch kostengünstiger waren. Somit freuen wir uns, dass der Ankauf der Sammlung Waldbauer mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder realisiert werden konnte und wieder ein bedeutendes Stück Kulturgeschichte des Rechnens in die Sammlung des Arithmeums Einzug halten konnte. Als öffentliches Museum versuchen wir diese Exponate nicht nur zu bewahren und funktionstüchtig zu erhalten, sondern auch die Faszination für diese Objekte an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben. Ein vielfältiges Kinder- und Schulprogramm hilft dabei, auch schon Schülern einen Zugang zur Geschichte des Rechnens und auch zur Diskreten Mathematik, von der wir heute allgegenwärtig umgeben sind, zu ermöglichen. Aber auch Erwachsenengruppen und Einzelbesuchern werden die Exponate des Arithmeums auf anspruchsvolle Weise nahegebracht. Das Arithmeum ist somit nicht nur stolz, seine Sammlung erweitern zu können, sondern vor allem seinen Besuchern einen weiteren Aspekt der Geschichte des Rechnens erschließen zu können.
In der Schriftenreihe der Kulturstiftung der Länder ist anlässlich der Erwerbung erschienen: Patrimonia 353, Historische Rechenmaschinen, Arithmeum, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Hrsg. von der Kulturstiftung der Länder, 2011, 314 Seiten, 342 farbige Abb., 24 Euro.