Gemälde Markusplatz vor dramatischem Himmel
AUSSTELLUNG / THÜRINGEN

Realist im Mondenschein

Wie der Erfurter Reisekünstler Friedrich Nerly das Bild von Rom und Venedig / Michael Zajonz

Kaffee trinken hält Kunst und Leben zusammen. Der deutsche Landschaftsmaler und Wahl-Venezianer Friedrich Nerly hat daraus einen Ankerpunkt seiner Künstleridentität gemacht. 1845 schreibt er an den Architekten Albert Dietrich Schadow in Berlin über das schon damals legendäre Caffè Florian an der Piazza San Marco: „Das einzige Leben vor den Kaffeehäusern behauptet aber seinen Platz und die unversiegbare Kaffeekanne welchen den Fremdling wie den Einheimischen zusammenruft sei ewig gebenedeit, denn wäre dieses nicht, wie mancher Freund und Landsmann würde ungesehen durch Venedig gehen, ja selbst die hier Ansässigen kämen kaum jemals aneinander. Café Florian ist aber aller Welt Zusammenkunft.“

Die Welt pilgert ins Florian und Friedrich Nerly empfängt sie dort an seinem Stammplatz. Oder, wie den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. 1847, gleich in seiner Wohnung im Palazzo Pisani am Campo S. Stefano. Von dessen Dachterrasse aus kann man an guten Tagen die Alpen sehen, im Atelier hat sich – wenige Jahre bevor Nerly mit seiner bildschönen venezianischen Frau Agathe dort lebt – der Maler Louis Léopold ­Robert erschossen. Nerly hingegen wird durchhalten. Auf die Atelierwand, vor der sich das Drama zugetragen hat, malt er einen Apoll, umgeben von Musen. Auf Besucher wie Fanny und Wilhelm Hensel, die nur wegen Robert kommen, reagiert er genervt.

41 Jahre lang, zwischen 1837 und seinem Todesjahr 1878, lebt und arbeitet der 1807 in Erfurt als Friedrich Nehrlich ­geborene Künstler in Venedig. Das Jahrzehnt zuvor hatte er hauptsächlich in Rom verbracht und war, so die gängige Lesart, 1837 schon auf der Rückreise nach Deutschland. Doch nun bleibt er und führt bald als kundiger Cicerone gekrönte Häupter, berühmte Feldmarschälle, befreundete Künstler und reiche Touristen durch die Lagunenstadt, die bis 1866 habsburgisch und bilingual ist. Mit seiner ureigenen Bilderfindung der „Piazzetta in Venedig bei Mondschein“ – er malt davon wohl über 30 Varianten – prägt er das spätromantische Bild der einstigen Serenissima nachhaltig. Als „Sig. Federigo Nerly celebre pittore a Venezia“ führt ihn sein Lehrer und Förderer, der Kunstpädagoge Carl Friedrich von Rumohr, schon 1838 beim preußischen Kronprinzen ein. Rumohrs Prophezeiung hat sich wenige Jahre später erfüllt: Als anerkannter Künstler und touristische Anlaufstelle für Reisende aus aller Welt schafft Nerly es bis in die einschlägigen Reiseführer seiner Zeit. Besucherinnen und Besucher finden ihn noch im Alter „sehr gentlemanlike“.

Unter dem Titel „Von Erfurt in die Welt – Der Reisekünstler Friedrich Nerly“ wird ab November 2024 eine umfassende Ausstellung im Erfurter Angermuseum, dem Kunstmuseum der Landes­haupt­stadt Thüringens, Nerlys bewegtes Künstlerleben mit Frage­stellungen aus der Sozialgeschichte und Kulturtransferforschung in Verbindung bringen. Was bringt Nerly aus Deutschland mit, was findet er in Rom und Venedig vor, wie prägt er es um? Wie wird aus einem frühreifen, durch die römische Campagna schweifenden Maler in Ausbildung ein stationärer Großkünstler, der den internationalen Kunstmarkt mit strategischem Kalkül bespielt? Was trennt, was verbindet seine bereits in römischer Zeit zur Perfektion gebrachte Praxis der Ölstudienmalerei mit den Jahrzehnten in Venedig, wo er für einen neuen touristischen Typus von Reisenden anspruchsvolle Stimmungs- und Erinnerungskunst schafft?

Die mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder ermöglichte Ausstellung ist krönender Abschluss für ein seit 2020/21 laufendes Großprojekt zur kunstwissenschaftlichen Bestandserforschung und kunsttechnologisch-restauratorischen Bestandssicherung in Erfurt. Dessen methodische Spielräume umriss 2021 die Tagung „Reframing Friedrich Nerly“. Der Begriff Reframing, aus der systemischen Psychotherapie entlehnt, meint hier: endlich den Blick erweitern auf den ganzen Nerly, auf Kunst und Kommerz, auf Rom und Venedig, auf, so der Untertitel der Tagung, den Landschaftsmaler, den Reisenden und das Verkaufstalent.

Die Schenkung von Friedrich Nerlys künstlerischem Hauptnachlass war 1886 einer der Hauptgründe für die Eröffnung des Angermuseums. Dieser umfasste ehemals über 150, aktuell immerhin noch 107 Gemälde und Ölstudien sowie rund 830 bis 1.200 Arbeiten auf Papier (je nach Zählweise). Gerade die exquisiten kleinen Ölstudien sind oft noch nicht bildmäßig aufgearbeitet worden, sondern befinden sich teils noch in ihren originalen Kladden und Mappen, die Federico Nerly d. J. (1842 – 1919) – auch der Stifter und Sohn war ein respektabler Maler – seinerzeit aus Venedig und Rom nach Erfurt geschickt hat. „Wir empfinden es als besonderes Glück“, erklären die beiden wissenschaftlichen Projektleiter Claudia Denk und Thomas von Taschitzki, „dass der Bestand viele nahezu unberührte Seiten aufweist. Das findet man nicht oft in dieser hohen Qualität und Dichte.“

Gleichwohl hat der Erfurter Kernbestand Einbußen hinnehmen müssen, so in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, als das Museum den Erwerb von Arbeiten zeitgenössischer Künstlerinnen und Künstler durch den Verkauf und Tausch von Gemälden und Ölstudien finanzierte. Thomas von Taschitzki, Kurator der Gemälde und Skulpturen am Angermuseum, dokumentierte diese Verlustgeschichte 2021 in einem Vortrag der Tagung sowie im 2022 erschienenen Tagungsband. Einige der damals abgegebenen Bilder konnte er in anderen deutschen Museen lokalisieren. Ob bis zur Drucklegung des Bestandskatalogs der Erfurter Gemälde und Ölskizzen Nerlys im Angermuseum weitere Wiederentdeckungen dazukommen werden, bleibt abzuwarten. Der Bestandskatalog erscheint, um kunstwissenschaftliche Essays und kunsttechnologische Textbeiträge ergänzt, anstelle eines Katalogs zur Ausstellung.

Taschitzki berichtet in seinem Essay auch von dem verschollen geglaubten Großformat „Schwäne verteidigen ihr Nest gegen eine Schlange“ (um 1860), das er in beklagenswertem Zustand in einem Außendepot aufgespürt hat. Die Kulturstiftung der Länder und ihr Freundeskreis unterstützen im Rahmen des Gesamt­projekts die restauratorische Rückgewinnung des von Nerly selbst sehr geschätzten Bildes sowie die Restaurierung eines originalen historistischen Schmuckrahmens für das vergleichbar programmatische Gemälde „Der Winzerzug auf dem Monte Circello“ (um 1850). Beide Gemälde werden in der Ausstellung zu bewundern sein, ergänzt um delikate Zeichnungen und Aquarellstudien.

Der Abgleich zwischen den Skizzenbüchern, als Einzelblätter überlieferten Zeichnungen und den Ölstudien, gehörte zu den kunsthistorischen Hauptarbeitsfeldern des Projekts. Sich den dringend gebotenen Überblick zu erarbeiten, berichtet Thomas von Taschitzki, sei anspruchsvoll gewesen, weil es in Erfurt „so viele Zeichnungen und Aquarelle Nerlys gibt, dass man lange braucht, um ein Gedächtnis für all diese Bilder zu entwickeln“. Taschitzki gelang so die Lokalisierung einiger bislang unpräzise betitelter Arbeiten aus römischer Zeit.

Claudia Denk, die Münchner Expertin für Ölstudienmalerei, die den venezianischen Teil von Nerlys Nachlass als Gastwissenschaftlerin am Angermuseum bearbeitet, kuratiert gemeinsam mit Taschitzki die Ausstellung. Dank mehrerer Arbeitsaufenthalte im Deutschen Studienzentrum in Venedig konnte sie neben archivalischen Forschungen Vergleiche zwischen Nerlys architektonischen Detailstudien und dem erhaltenen Denkmalbestand anstellen – etwa an seinem Wohnort, dem Palazzo Pisani, in dem heute das Musikkonservatorium der Stadt Venedig untergebracht ist. Projekte wie das Erfurter ermöglichen Forschungen, die im Museumsalltag oft nicht zu leisten sind. Auch die Restauratorinnen und Restauratoren der Erfurter Museen unter der Leitung von Karin Kosicki nutzten die Möglichkeit, den Erfurter Bestand gründlich zu sichten und vertieft zu bearbeiten.

Nun ist es nicht so, dass es zu Friedrich Nerly bisher keine größeren monografischen Ausstellungen gegeben hätte: zuletzt zum 200. Geburtstag 2007/08 in Dessau, Lübeck und Paderborn – das ­Angermuseum befand sich damals im Umbau. Doch die kunsthistorische Forschung hat oft etwas einseitig sein in Rom und Mittelitalien entstandenes Frühwerk in den Mittelpunkt gerückt. Fraglos schafft er in den römischen Jahren ab 1828 technisch brillante und künstlerisch innovative Zeichnungen, Gemälde und Ölstudien aus den Sabiner und Albaner Bergen, bereist zeittypische Künstler­destinationen wie Olevano und Subiaco, Paestum, Sizilien und Sorrent. Eng befreundet ist Nerly in Rom mit dem zwei Generationen ­älteren Johann Christian Reinhart (1761 – 1847), einem Vertreter klassizistischer Landschaftsideale. In der mittel- und nordeuropäischen Künstler-Community Roms bestens vernetzt, wird Nerly den psychologischen und ökono­mischen Erfolgsdruck wahrgenommen haben, der unter den meist bettelarmen Malern herrschte. Doch durch eine praxisbezogene, antiakademische Ausbildung bei Rumohr bestens vorbereitet, beherrscht er das künstlerische Thema seiner Generation, die Ölstudienmalerei plein air, bereits bevor er nach Rom kommt.

Schnell lernt er, Altbekanntes und oft Gemaltes neu zu sehen. Zur schroffen Verweigerung des Vordergrunds, wie in seiner atemberaubenden Erfurter Ölstudie „Kloster im Gebirge bei Subiaco“, gesellt sich eine malerische Raffinesse, die in Gegenlichteffekten, Lichträndern und -kanten ihresgleichen sucht. Nerly macht aus bildmäßig konventionellen Motiven wie der Burgruine von Olevano ebenso Sensationen wie aus Nicht-Motiven, seien es einzelne Felsbrocken, die den Blick blockieren, Bäume oder bizarr geformtes Totholz. Freilich sind Ölstudien zu Nerlys Zeiten nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, sondern bleiben Ateliermaterial, das nachträglich mit Inhalt verfeinert werden muss. Das mythologische Thema zum später als Atelierbild ausgeführten „Winzerzug auf dem Monte Circello“ erarbeitet er sich 1833 in San Felice, „den Pinsel in der rechten Hand, die Odyssee in der Linken […]“.

Nach der Berliner Jahrhundertausstellung von 1906 wird Nerly – gemeinsam mit Künstlern wie Carl Blechen oder Adolph von Menzel – als Ölstudienmaler und Vorläufer des Impressionismus neu entdeckt, und vielleicht auch ein wenig missverstanden. Verfechter der Moderne wie Alfred Lichtwark, der Gründungs­direktor der Hamburger Kunsthalle, schwärmen von seiner lichthaltigen Malerei. Nach 1945 gilt Nerly nicht nur in Erfurt als Wegbereiter des Realismus. Da liegt es nahe, das venezianische Werk als Rückschritt und romantische Retromanie in Frage zu stellen.

Hier nun werden Ausstellung und Bestandskatalog gründlich neu ansetzen. Der differenzierte Blick auf Nerlys mondscheinerhellte Nocturnes wie auf Venedig insgesamt, das der Maler aus dem protestantischen Mitteldeutschland mit den Augen eines frühen Denkmalpflegers sieht, dürfte die spannendste Neubewertung innerhalb seines Œuvres sein. In Venedig tritt Nerly mit der Dresdner Mondscheinromantik eines Caspar David Friedrich und Johan Christian Dahl sowie der Technik der Ölstudienmalerei im Gepäck gegen das künstlerische Erbe der Veduten von Canaletto und Francesco Guardi an. Und Nerly besteht so überzeugend, dass ihm italienische Künstler wie der Maler Ippolito Caffi (1809 – 1866) und der Fotograf Carlo Naya (1816 – 1882) motivisch folgen oder, wie Carlo Grubacs (1802 – 1878), seine Mondscheinansichten sogar unverhohlen nachahmen. 1910 lässt der Futurist Filippo Tommaso Marinetti sein Manifest Contro Venezia Passatista vom Campanile von San Marco just auf die Piazzetta herabregnen, die Nerly so oft gemalt hat. Es gipfelt in einem Ausruf, der noch heute provoziert: „Es komme endlich das Reich des göttlichen elektrischen Lichts, um Venedig von seinem käuflichen Mondschein […] zu befreien.“

Friedrich Nerly kommerziellen Erfolg vorzuwerfen verkennt, dass er mit dem Blick von außen neue und durchaus kritische Perspektiven auf die bei Tageslicht damals ziemlich verwahrloste Lagunenstadt entwickelt hat. Mit ungewohnten Ansichten der Piazzetta, der Giardini oder der Inseln in der Lagune trifft er den Nerv seiner Zeitgenossen, für die Venedig zum touristischen Sehnsuchtsort wird. Er holt die Weite der Landschaft und das Leuchten des Wetters in die Stadt. Wie John Ruskin, mit dem er Kontakt pflegt, dokumentiert er zeichnend „die Erneuerungs- und Verbesserungswut an den Palästen“ oder protestiert gegen die Aufstellung von in seinen Augen viel zu hellen Gaslaternen. Er liebt das Alte, Unbegradigte und Ungeglättete. Und erfindet starke Bilder für all das, was demnächst Vergangenheit sein wird.

In der „Allgemeinen Zeitung“, die in Augsburg erschien und damals auch in Venedig gelesen wurde, hat Claudia Denk Nerlys Todesanzeige entdeckt, eingestellt von seiner Frau und seinem Sohn. In den Augen seiner Familie bleibt er bis zuletzt – ein Landschaftsmaler.

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