Die Washingtoner Prinzipien von 1998 sind ein fundamentales Dokument von kaum zu überschätzender Bedeutung: Sie legten nach Jahrzehnten der Untätigkeit die Grundlage für eine Wiederaufnahme der Aufklärung des NS-Kunstraubes. In Deutschland brauchte dieses Dokument dann geraume Zeit, um seine volle Wirkung zu entfalten. Dabei machten Bund, Länder und Kommunen mit der Gemeinsamen Erklärung („Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“) schon 1999 den Weg frei für eine Umsetzung – doch das war damals noch eine aus bürokratischem Denken entsprungene Wunschvorstellung. Den angesprochenen Museen, Bibliotheken und Archiven fehlte es schlicht an Personal, Expertise, Geld – und bisweilen durchaus auch am ernsthaften Willen zur Umsetzung. Einzelne verdienstvolle Ausnahmen wie die Hamburger Kunsthalle, deren damaliger Direktor Uwe Schneede schon sehr früh die Notwendigkeit der Bestandsprüfung erkannte, bestätigten nur diese Regel.
Ein erster Einschnitt erfolgte 2006, als der Berliner Senat die „Berliner Straßenszene“ von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Bestand des Brücke-Museums an die Nachfahren eines jüdischen Sammlerpaares restituierte. Anhand dieses heftig umstrittenen Falles wurde offenkundig, wie wenig man sich mit den Folgen des NS-Kulturgutraubes auseinandergesetzt hatte und wie unterentwickelt eine proaktive, systematische Provenienzforschung war. Um substantielle Fortschritte zu machen, war daher eine staatliche Anschubfinanzierung unumgänglich. Die damalige Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder, Isabel Pfeiffer-Poensgen, und der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann, ergriffen 2008 die Initiative und installierten in Berlin die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche und -forschung mit der Aufgabe, diese Forschung anzuregen, zu finanzieren und zu vernetzen. Erste Erfolge stellten sich bald ein, mehr und mehr Museen und Bibliotheken identifizierten NS-Raubgut in ihren Beständen und restituierten es.
Ende des Jahres 2013 dann sorgte der sogenannte Kunstfund Gurlitt (auch „Schwabinger Kunstfund“) für gewaltige öffentliche Aufmerksamkeit: „Nazi-Raubkunst“ im Milliardenwert, so wurde kolportiert, sei in der Wohnung des Sohnes eines NS-Kunsthändlers gefunden worden. Nach intensiven, jahrelangen Recherchen sollte es sich allerdings erweisen, dass der Kunstfund Gurlitt nicht ganz so spektakulär war wie anfangs vermutet. Immerhin fiel nun ein Schlaglicht auf die Provenienzforschung und offenbarte immer noch manche Schattenseiten. So wurde entdeckt, dass Kunsthandel und privater Kunstbesitz bisher durch das Recherche-Raster gefallen waren. Ebenfalls zeigte sich, dass die Anstrengungen zur systematischen Recherche in potentiell betroffenen öffentlichen Sammlungen noch nicht ausreichend waren. Anderthalb Jahrzehnte nach den Washingtoner Prinzipien musste man also eine ambivalente Bilanz ziehen und konstatieren, dass noch sehr viel zu tun war. Die Ende 2013 gerade neu berufene Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsministerin Monika Grütters, machte diese Thematik dauerhaft zur Chefinnen-Sache und Isabel Pfeiffer-Poensgen spielte erneut eine tragende Rolle bei der Optimierung der Förderinstrumente.
Wichtigstes Resultat war Anfang 2015 die Gründung der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste (nachfolgend kurz: DZK) in Magdeburg, getragen von Bund, Ländern und Kommunen. In der Stiftung gingen zwei Vorgängerinstitutionen auf: die Koordinierungsstelle Magdeburg und die Arbeitsstelle für Provenienzforschung. Hauptaufgaben des DZK sind insbesondere die Anregung, Unterstützung, finanzielle Förderung (mit Bundesmitteln), Dokumentation und Vernetzung der Provenienzforschung zum NS-Kulturgutraub – und zwar nicht nur in öffentlichen, sondern auch in privaten Einrichtungen (wie bspw. stiftungsgetragenen Museen) und sogar bei Privatpersonen. Letzteres war eine wesentliche Erweiterung, eben als Konsequenz aus dem Fall Gurlitt (auch wenn anzumerken ist, dass die Bereitschaft von Privatsammlern und -sammlerinnen, sich der Provenienzforschung zu öffnen, bis heute sehr wenig ausgeprägt ist).
War der Fokus der Provenienzforschung anfangs stark auf Kunstmuseen und dort auf die großen Meisterwerke konzentriert (zogen sie doch das größte öffentliche bzw. mediale Interesse auf sich, da bisweilen spektakuläre Marktpreise mit ihnen verbunden sind), so hat sich das Spektrum inzwischen entscheidend erweitert. Technische Museen, Universitätssammlungen, Musikinstrumentenmuseen, Heimatmuseen und viele andere mehr überprüfen inzwischen ihre Bestände.
Das Zentrum und bis einschließlich 2014 die Arbeitsstelle für Provenienzforschung haben seit 2008 (bis zum September 2023) insgesamt 437 kurz- und langfristige Projekte der dezentralen Provenienzforschung in öffentlichen Museen, Bibliotheken, Archiven, aber auch in privaten Sammlungen gefördert und somit die Basis bereitet für eine Vielzahl von Restitutionen und anderen „gerechten und fairen Lösungen“ im Sinne der Washingtoner Prinzipien. Allerdings beschränkt sich die einschlägige Forschung in öffentlichen Museen und Bibliotheken keineswegs nur auf Projekte, die über das Zentrum mit Bundesmitteln gefördert werden. Nach anfänglichem Zögern hier und dort gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Sammlungseinrichtungen, die selbst systematische Provenienzforschung finanzieren, es gibt etliche Bundesländer und Kommunen, die Koordinationsstellen eingerichtet haben.
Die Provenienzforschung in Deutschland hat sich in den letzten Jahren merklich professionalisiert und auch als wissenschaftliche Disziplin etabliert. Rund 500 Mitglieder zählt der Arbeitskreis Provenienzforschung e. V., die Vereinigung der Provenienzforscherinnen und Provenienzforscher, die bei der Vernetzung und beim Austausch von Informationen eine große Rolle spielt. Wenn nun trotzdem immer noch die Kritik zu hören ist, die Provenienzforschung in Deutschland sei nicht effektiv genug, es würde viel zu wenig passieren und die legitimen Interessen der Nachfahren erführen zu wenig Berücksichtigung, so scheint das nicht ganz zu dem skizzierten Hintergrund zu passen. Tatsächlich wurden in zwei Jahrzehnten recht wenige Fälle vor die Beratende Kommission gebracht, das 2003 eingerichtete unabhängige, Empfehlungen aussprechende Mediationsgremium. Doch als Indikator eignet sich diese Zahl nicht, denn zahlreiche „gerechte und faire Lösungen“ wurden unmittelbar zwischen Museen oder Bibliotheken und Nachfahren bzw. Erben gefunden, ohne dass die Kommission angerufen werden musste. Es ist allerdings keineswegs zu verschweigen, dass in manchen dieser Fälle erst gehöriger öffentlicher Druck derartige Lösungen möglich machte. Nicht jedes Museum hat sich durchweg vorbildlich verhalten, nicht immer wurde diesem Thema die notwendige Priorität eingeräumt.
Die finanzielle Förderung der dezentralen Provenienzforschung steht im Mittelpunkt der Tätigkeit, doch das der Stiftung übertragene Aufgabenspektrum beschränkt sich nicht darauf. Auf dem Transparenzgebot der Washingtoner Prinzipien beruht der Betrieb der Lost Art-Datenbank. Dieses benutzerfreundlich gestaltete Register für Such- und Fundmeldungen wurde bereits im Jahr 2000 installiert und zunächst von der Koordinierungsstelle Magdeburg betrieben. Lost Art führt immer wieder, auch nach jahrelanger Suche, derzeitige Besitzer und die Nachfahren früherer Eigentümer und Eigentümerinnen zusammen und dürfte das erfolgreichste Instrument zur Findung „gerechter und fairer Lösungen“ sein. Nicht allen gefällt das Angebot von Lost Art: Immer wieder wird gegen Meldungen in der Datenbank juristisch vorgegangen, zuletzt im Sommer 2023 bis zum Bundesgerichtshof – bisher jedoch ohne Erfolg. Lost Art konnte sich als bewusst niederschwellig konzipiertes, kostenfreies Recherchetool etablieren, das die Suche nach NS-Raubgut im In- und Ausland unterstützt und erleichtert. Einen anderen Ansatz verfolgt die zweite, vom DZK seit 2020 betriebene Forschungsdatenbank: Proveana. Sie ist nicht wie Lost Art objektzentriert, sondern soll vor allem dabei helfen, Netzwerke, Akteure und Orte zu verknüpfen und darzustellen. Die Basis von Proveana bilden die obligatorischen Abschlussberichte der vom Zentrum geförderten Projekte, die dafür ausgewertet werden. So entwickelt sich Proveana kontinuierlich zu einem Kompendium des Wissens zum NS-Kulturgutraub, wie es kein zweites gibt, gerichtet in erster Linie an die Forschung und dementsprechend auch anspruchsvoller in der Handhabung als Lost Art.
Lässt man die – neben vielen kleineren Veranstaltungen und Kolloquien – vom Zentrum veranstalteten großen Jahrestagungen Revue passieren, so spiegelt das die Entwicklung der Provenienzforschung und deren neue, zusätzliche Dimensionen auch über die Aufklärung des NS-Kulturgutraubes hinaus. Das begann im Gründungsjahr des Zentrums, 2015, mit dem Blick auf bevorstehende Aufgaben unter dem Titel „Neue Perspektiven der Provenienzforschung in Deutschland“ im Jüdischen Museum in Berlin. 2016 wurde im Max Liebermann-Haus am Brandenburger Tor erstmals ein neues Feld vermessen: „Entziehungen von Kulturgütern in SBZ und DDR – Der Stand der Forschungen und die Perspektiven“. Dieses Thema wurde bei der Herbstkonferenz 2020 wieder aufgegriffen. Dabei konnten bereits erste Forschungsergebnisse präsentiert werden: „,VEB Kunst‘ – Kulturgutentzug und -handel in der DDR“ (diese Tagung, eigentlich in den Räumen der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Halle geplant, musste pandemiebedingt kurzfristig auf ein digitales Format umgestellt werden). Doch zurück zur Chronologie. „Raub und Handel. Der französische Kunstmarkt unter deutscher Besatzung“ war das Motto der deutsch-französischen Konferenz in der Bonner Bundeskunsthalle 2017, die sich – eine wichtige Konsequenz aus den Erkenntnissen im Fall Gurlitt – einem zuvor wenig beachteten, seither aber immer wichtiger gewordenen Aspekt des NS-Kulturgutraubes widmete. Im November 2018 dann bot der 20. Jahrestag der Washingtoner Prinzipien den Anlass für eine große internationale Fachkonferenz im Berliner Haus der Kulturen der Welt. „20 Jahre Washingtoner Prinzipien – Wege in die Zukunft“ war die Veranstaltung überschrieben. Es ging also nicht nur um Rückblick und Bestandsaufnahme, sondern auch um die Benennung von Desideraten und die Entwicklung von Perspektiven. 2021 dann, pandemiebedingt wieder im digitalen Format, wurde der neue, 2019 dem Zentrum übertragene Aufgabenbereich der Forschungsförderung zu Kultur- und Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten Gegenstand einer internationalen Tagung. Sie war der langen Geschichte von Restitutionsforderungen und tatsächlichen Rückgaben in eben diesem Kontext gewidmet: „The Long History of Claims for the Return of Cultual Heritage from Colonial Contexts“. 2022 schließlich – erneut im inzwischen schon erprobten Digitalformat – widmete sich die Herbstkonferenz Randbereichen der Provenienzforschung, sowohl unter geografischen als auch inhaltlichen Aspekten: „Die Peripherie im Zentrum. Vergessenes, Verdrängtes und Vernachlässigtes in der Provenienzforschung“. Am Vorabend der Tagung hatte das Zentrum in Halberstadt, das auf eine reiche jüdische Tradition zurückblickt, zu einer Podiumsdiskussion eingeladen unter dem Titel „Erneuerung aus der Erinnerung? Jüdisches Leben zwischen Tradition, Verfolgung und Neubeginn“.
Im Jahr 2018 wurde, wie erwähnt, nach „Wegen in die Zukunft“ gesucht. Wurden diese seitdem gefunden? Welche Bedeutung haben die Washingtoner Prinzipien heute noch? Welche Rolle spielen sie angesichts neu aufgekommener Fragen und Problemfelder? Was sind die drängendsten und nach wie vor offenen Aufgaben? Darum ging es bei einer vom DZK ausgerichteten Veranstaltung zum 25. Jubiläum der Washingtoner Prinzipien, die am 7. Dezember 2023 in der Staatsbibliothek Unter den Linden in Berlin stattfand.
Prof. Dr. Gilbert Lupfer ist Vorstand der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg.