Pionier homoerotischer Kunst

Betrachterinnen und Betrachtern gibt das in Süditalien entstandene Gemälde Capri als eine um 1800 beliebte Projektion nordeuropäischer Sehnsüchte nach zwangloser Fremde und Exotik zu erkennen. Der Blick aus einer schattigen Grotte aufs offene, tiefblaue Mittelmeer führt direkt in die handlungsreiche Szene. Zwölf Knaben, vor dem Ausgang der Blauen Grotte vom Tageslicht hell beleuchtet, werden bei Frei­zeit­ak­ti­vi­täten gezeigt: Einer bereitet seinen Absprung ins Wasser vor, andere schwimmen, die Restlichen unterhalten sich sitzend, liegend oder stehend. Während die meisten von ihnen eine für die Zeit typische knielange, weiße Stoffhose tragen, lässt Flor die restlichen Protagonisten unbekleidet. Ihre muskulösen Körper spiegeln sich in der Wasseroberfläche, ihre Nacktheit wird dadurch noch unausweichlicher.

Ferdinand Flor, Badende Fischerknaben in der Blauen Grotte auf Capri, 1837, 74,5 x 97,5 cm; Schwules Museum, Berlin
Ferdinand Flor, Badende Fischerknaben in der Blauen Grotte auf Capri, 1837, 74,5 x 97,5 cm; Schwules Museum, Berlin

Der Hamburger Maler träumte in seinem Atelier von sonnigen Küsten und sandigen Buchten. Nährte er seine Träume mit den Geschichten der Seefahrer, die täglich im hanseatischen Hafen Gewürze und Stoffe ausluden? Vielleicht ließ Flor sich aber auch von August Kopischs Erzählungen über sizilianische Lustknaben beeinflussen. Fest steht jedenfalls, dass ihre Verbildlichung vom Wunsch, gesellschaftliche Konventionen aufzubrechen, zeugt. Beeinflusst durch den wissenschaftlichen Eifer der Aufklärung verbreitete sich in der Gesellschaft das Interesse an „fremden“ Völkern. Norditalien, nur 1.897 Kilometer Luftlinie vom Hamburger Hafen entfernt, wurde zum Sehnsuchtsort freiheitssuchender Maler und Dichter.

Das Gemälde gehört zur 2008 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder vom Kunsthistoriker Andreas Sternweiler erworbenen, gleichnamigen Sammlung Sternweiler. In weiten Teilen bereits seit 2004 im Schwulen Museum Berlin ausgestellt, umfasst sie rund 6.000 Objekte: gesammelte Aktfotografien, behutsam ausgeschnittene Zeitungsartikel, Kupferstiche mythologischer Göttinnen und Götter. Zu Beginn der Sammeltätigkeit Sternweilers existierten keinerlei zeitgenössische Vorbilder, aus denen man Schwerpunktempfehlungen für eine solche Sammlung hätte ablesen können. Für Sternweilers Versuch einer Dokumentation der homosexuellen Sozialgeschichte war kein Dokument zu banal.

Der in Berlin geborene Kunsthistoriker Sternweiler war ein Pionier: Er ist nicht nur Mitbegründer des Schwulen Museums Berlin, sondern setzte sich als erster in Deutschland wissenschaftlich mit homosexueller Sozialgeschichte auseinander. Seine Erkenntnisse werden bis heute zur Forschung  und von Kuratorinnen und Kuratoren des Schwulen Museums Berlin herangezogen.

Nachdem das Werk vier Jahre im Kaufzustand die Dauerausstellung des Schwulen Museums Berlin bereichert hatte, nahm man es 2008 auf Grund von erheblichen Zustandsmängeln von der Ausstellungsfläche. Ein unsachgemäß erneuerter Firnis, ausgebrochene Farbsegmente und ein circa drei Zentimeter langer Riss durch den bewölkten Himmel über Capri konnten nicht länger ignoriert werden. Dank der Säuberung und Überarbeitung der Gemäldeoberfläche kann Flors Darstellung der Blauen Grotte nun wieder im Originalzustand gezeigt werden.