Paris im Auge
Als sie sich im Oktober 1909 spontan entschlossen, ihre Hochzeitsreise mit einem Abstecher nach Paris fortzusetzen, kannten sich August und Elisabeth Macke schon sechs Jahre. Doch wirklich genießen konnte den Aufenthalt in der „Stadt der Liebe“ nur der Künstler selbst: Nach plötzlich auftretenden Komplikationen bei der werdenden Mutter – die der Maler im dritten Monat ihrer Schwangerschaft zu Frau Macke gemacht hatte –, ließ sie der mit Hilfe ihres Eau de Cologne aus seiner Ohnmacht wieder erwachte Künstler in die Frauenklinik bringen. Während sie sich hier von den Strapazen der Reise erholte, stärkte er sich bei Streifzügen durch die Stadt vor allem durch die Betrachtung von allerlei Kunst. Der 1887 in Meschede geborene, erst in Köln, dann in Bonn aufgewachsene Macke hatte Paris schon 1907 und 1908 ausgiebig erkundet. Er begeisterte sich damals in Museen und Privatsammlungen für Manet, Monet sowie Renoir und besuchte Galerien, wie die der Bernheim-Jeunes und Vollards, die nicht zuletzt mit Cézanne und Matisse handelten.

Im Vergleich zu Bildnissen, die Macke von Elisabeth vor der Hochzeit gemalt hatte, besitzt das Porträt „Frau des Künstlers mit Hut“ eine unverkennbar französische Note. Das nun mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder vom LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster, erworbene Werk zeigt sie in einem violetten Mantel, den sie über einer türkisgrünen Bluse mit weißem Besatz trägt. Ihre wohlgescheitelte Frisur bedeckt ein dunkelgrüner Samthut, den ein breites, leuchtend blaues Band mit Applikationen und eine Feder in dunklem Orangerot ziert, das mit ihrer Korallenkette korrespondiert. Der Zusammenklang mit dem seegrünen und hellblauen Hintergrund wirkt recht gewagt. Zwei von dort, aber auch von unten und der Seite kommende, unterschiedlich starke Lichtquellen lassen Reflektionen entstehen, so als befinde sich Elisabeth in einer Gartenlaube. Diese Reflektionen modellieren ihre feinen, ebenmäßigen Züge heraus, ihre großen dunklen Augen teilen Ruhe und Ernst mit, ihr Blick ist offen und intensiv.
In Briefen schwärmte Macke von Paris: „[…] das Leben hier ist wie im Paradies […]. Wir wohnen direkt am Luxemburger Garten, wo alte Männer herumlaufen und Spatzen zähmen oder Krikett spielen. Jungen spielen auf den Wegen Tennis, Kinder spielen Diabolo und lassen Flugapparate steigen. Professoren sitzen in der Sonne und arbeiten ihr Kolleg aus. Maler sitzen da und pinseln.“ Doch so verlockend die Vorstellung ist, dass er ebenfalls dort tätig wurde und „Frau des Künstlers mit Hut“ vor der Kulisse des Jardin du Luxembourg malte, so sehr müssen wir auf Elisabeths Gedächtnis vertrauen. Ihren Erinnerungen zufolge entstand das Porträt am Tegernsee, wohin sie Anfang November weitergereist waren und wo sie fast ein Jahr blieben. Sie verlebten dort anfangs „letzte sonnendurchflutete Herbsttage“. Doch rasch stellte sich erst Nebel, dann der Winter ein.
Elisabeth äußerte sich nur knapp zur Entstehung des Porträts: Macke habe sie bis in Kniehöhe gemalt und dann die Leinwand immer mehr beschnitten, „bis nur der Kopf übrigblieb“. Sie sprach im gleichen Atemzug von einem zweiten, dort entstandenen Bildnis, ohne deutlich zu machen, ob ihre Ausführungen sich auf beide Werke bezogen: Ihr Mann habe „ein Podium aufgebaut und an der Decke einen Stoff befestigt, der wie ein Vorhang geschürzt wurde, um als Staffage zu dienen. Ich konnte damals infolge meines Zustands nicht so lange hintereinander stehen, und so hatte er mir auf das Podium einen Stuhl gestellt, damit ich mich setzen konnte“. Vielleicht geht der Hintergrund von „Frau des Künstlers mit Hut“ auf eine Variante dieser Szenerie zurück; denkbar ist auch, dass er ein Fenster oder eine Veranda andeutet, an deren Scheiben sich Eisblumen gebildet hatten. Elisabeth erinnerte sich nämlich daran, wie kalt es in der Tegernseer „Villa Brand“ war; das „Waschwasser war jeden Morgen hartgefroren in der Schüssel“; der „Winter damals war einer der schneereichsten und kältesten seit Jahren“. Macke hatte schon öfter einen dekorativen Fond erprobt, wie er ihn wahrscheinlich aus Bildern Cézannes kannte. Stand er jetzt im Bann frischer Eindrücke von Bildern dieses Malers, hatte er den damals in Paris lebenden Karl Hofer auch deshalb besucht, weil dieser sich sehr für den Meister aus Aix-en-Provence interessierte?
Konkretes ist nicht in Erfahrung zu bringen. Immerhin steht fest, dass er an jener Jahreswende sein visuelles Gedächtnis bemühte: „Er ließ sich […] aus München Material kommen, und nun begann eine wunderbare, fruchtbare Arbeitszeit, in der die vielen Eindrücke der letzten Wochen […] verarbeitet wurden“, erinnerte sich Elisabeth. Zudem versäumte er keine Gelegenheit, weiterhin französische Kunst anzusehen. In München, wohin er manchmal fuhr, fand er Anregungen bei Ausstellungen des Kunsthandels und behielt Paris im Auge. Damals präsentierte die Moderne Galerie von Heinrich Thannhauser Werke französischer Landschaftsmaler, darunter Matisse.
Macke besuchte die Ausstellung Anfang Februar 1910. Doch nach allem, was wir wissen, war „Frau des Künstlers mit Hut“ damals bereits vollendet. Datiert ist das Porträt 1909, in die ersten Wochen am Tegernsee, und dies erscheint plausibel, denn augenscheinlich hat er dafür keine bestimmbare Inspirationsquelle gehabt, sondern vielmehr erfinderisch Möglichkeiten ausgelotet, die sich aus verschiedenen Seherfahrungen der vorangegangenen Zeit ergeben haben, wobei Werke von Matisse und den Fauves schon – längst – dazugehört haben müssen. Macke stand erst am Anfang seines Potentials, wie die Sorgfalt beweist, mit der er das aparte Gesicht wiedergibt. Doch das Raffinement seines Pinselstrichs bei der Behandlung der Bluse, der Kette und vor allem des Hintergrunds zeugt vom Wunsch, in andere Sphären zu gelangen.
Bald schon wird er ungestümer und kühner, angeregt durch die üppige oberbayerische Natur, aber auch durch vergleichendes Sehen: „Allein würden die drei ja sehr gut wirken als die besten der deutschen Künstler“, bemerkte er im April 1910 über Liebermann, Corinth und Slevogt. „Aber mit Franzosen zusammen, mit ganz harmlosen jungen Franzosen. Aus is’. Ganz aus is’. Bei Thannhauser kann man das gut vergleichen. Er hat immer Franzosen da. Die Sache ist die: Bei uns sorgt man beizeiten dafür, daß große Talente verpfuscht werden. In Frankreich steht der Erfolg hinter den gewagtesten Experimenten der Jungen, die aber aus einer Tradition heraus sich weiter vorwagen.“ Macke übertrieb natürlich, denn auch in Frankreich mussten sich Talente in Geduld üben, bis ihre Begabung erkannt und gewürdigt wurde. In jedem Fall wird deutlich, dass er sich selbst jenen zurechnete, die selbst von „ganz harmlosen jungen Franzosen“ Impulse erfahren konnten. Mit den „gewagtesten Experimenten der Jungen“ dürften Arbeiten der einstigen Fauves gemeint gewesen sein – etwa Matisse, Camoin und Manguin –, Maler, die leuchtendes Seegrün, Blau, Orange, Türkis und Violett nicht verschmähten und für die Macke sich 1910, seinen Briefen zufolge, ausdrücklich interessierte.
Ob er die Absicht hatte, das Bild zu beschneiden, „bis nur der Kopf übrigblieb“, um auf diese Weise ein Pendant zu einem Selbstporträt vergleichbaren Formats zu schaffen, das er in Paris gemalt hatte, ist nur eine Vermutung. Dafür spricht aber, dass Macke dadurch eine Art nachträgliches Hochzeitsbild hätte schaffen können, durchaus nicht durch ein Doppelporträt, sondern durch zwei zum Diptychon gefügte Bildträger. Mit der Bildpaarbildung aus zwei kurz hintereinander entstandenen, fast gleich großen Porträts hätte er aber vor allem eine Vergleichsmöglichkeit hergestellt, die seine Entwicklung von einem Corinth-Schüler mit Cézanne-Affinität zu einem an „ganz harmlosen jungen Franzosen“ geschulten Experimentator offenbart, von dem noch manche Überraschung zu erwarten ist.