Papierne Zeitgeister
Berlin (West) 1964: Eine Mauer zerschnitt die Stadt, da träumte Klaus Wagenbach den Traum einer grenzenlosen Literatur. Doch seine Utopie eines Ost-West-Verlages für eine unteilbare deutsche Dichtkunst scheiterte schon früh an den politischen Realitäten nach der Veröffentlichung von Wolf Biermanns „Drahtharfe“, die mit einem Lizenz- und Einreiseverbot der obersten DDR-Behörden für den jungen Verleger endete.
Ebenfalls berühmt-berüchtigt sind nicht nur die Veröffentlichung von Ulrike Meinhofs Drehbuch „Bambule“, der Druck von RAF-Heften oder die letztlich gescheiterte Vision eines sozialistisch strukturierten „Verlags-Kollektivs“, sondern auch die bibliophilen Prachtbände und das breite Programm an philosophischen, lyrischen und kunstwissenschaftlichen Publikationen des Hauses, das sich schon bald vom anfänglich ausschließlich links-politischen Image emanzipieren sollte. Mit dem kompletten Archiv des mittlerweile traditionsreichen belletristischen Verlages der Jahre 1964 bis 2004 erwirbt die Staatsbibliothek zu Berlin bislang – weitgehend unbekannte – Quellen für die literaturhistorische und geschichts- wie kulturwissenschaftliche Forschung.
Die mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder vom Verlag erworbenen 260 Ordner und rund 2.100 „Herstellertüten“ mit u. a. der Chef- und Lektoratskorrespondenz, Manuskripten und Gutachten spiegeln 40 Jahre bewegte bundesrepublikanische Geschichte, den wechselnden Zeitgeist wie auch die kulturellen Entwicklungen Europas. Ein besonderer Schatz sind jedoch die umfangreichen Schriftwechsel mit deutschen Geistesgrößen wie Rudolf Augstein, Ingeborg Bachmann, Erich Fried, Ernst Jandl, Günther Grass, Peter Rümkorf, Jurek Becker, Wolf Biermann, Rudy Dutschke und Christa Wolf.
Die Forscher der Staatsbibliothek beginnen nun, das zeithistorisch bedeutende Archivgut systematisch zu bergen, konservatorisch zu sichern und auszuwerten. Das Wagenbach’sche Verlags-Vermächtnis ergänzt nun die Sammlung der Berliner Bibliothek, in der sich bereits die Archive der Wissenschaftsverlage De Gruyter, Mohr-Siebeck und Vandenhoeck & Ruprecht sowie das Archiv des Literaturverlages Aufbau befinden.