Kosmischer Kommunismus
Orte, die Künstler tiefgreifend beeinflussten, finden sich in der Kunstgeschichte zahlreiche: Monets Garten in Giverny ist das wohl bekannteste Beispiel, aber auch das nordafrikanische Tunis mit seinen flirrenden Kuppelbauten, das Paul Klees Frühwerk prägte oder die leuchtenden Moorlandschaften in Worpswede, aus denen Paula Modersohn-Becker kreative Kraft schöpfte. Auch für den großen Abstrakten des 20. Jahrhunderts Otto Freundlich (1878–1943) gab es einen solchen Ort: In der Kathedrale von Chartres, in deren Nordturm er sich 1914 für einige Wochen zum Malen einquartierte, fand Freundlich eine Quelle der künstlerischen Inspiration.
Vor allem die unvergleichlich prächtigen Rosenfenster des gotischen Baus, ihre aufeinander abgestimmten strahlenden Facetten und die perfekte Geometrie des Maßwerks hatten den jungen Künstler in ihren Bann gezogen. Für ihn versinnbildlichten die Fenster in ihrer Abstraktion eine radikale Neuerung, die er mit seinen eigenen Bildern voranbringen wollte – die aber zugleich weit über die Kunst hinausgehen sollte. Denn in der Überwindung der Gegenständlichkeit sah der Verfechter des Kommunismus auch eine soziale Dimension: „das Objekt als Gegenpol des Individuums wird verschwinden; also auch das Objektsein eines Menschen für den andern“. Im gleichen Sinne wie die einzelnen Scheiben der gotischen Glasfenster sich zu einem großen Ganzen zusammenfügten, so schmolzen auch die individuellen Farben in Freundlichs Gemälden zu einem neuen Kosmos zusammen. Ganz im Sinne eines Kommunismus, für den Freundlich kämpfte, der die Grenzen auflösen sollte „zwischen Welt und Kosmos, zwischen Mensch und Mensch, zwischen Mein und Dein, zwischen allen Dingen, die wir sehen“.
Seine Abstraktion war den Nazis ein Dorn im Auge, als „entartet“ diffamiert verhöhnten und zerstörten sie Freundlichs Kunst. Mit seiner skulpturalen Arbeit „Großer Kopf“ gelangte er zu trauriger Berühmtheit: Die Nazis setzten sie 1938 symbolisch auf das Titelblatt ihres Ausstellungsführers „Entartete Kunst“. Als Künstler gänzlich an den Rand gedrängt, war Freundlich aufgrund von jüdischen Vorfahren zudem der Verfolgung der Nazis ausgesetzt und musste um Leib und Leben fürchten: Auf der Flucht denunziert, deportierten ihn die Nazis 1943 ins Vernichtungslager Sobibor. Freundlich starb wohl noch auf dem Weg oder kurz nach der Ankunft.
Die Ausgrenzung und Auslöschung von Werk und Künstler prägt noch immer die Rezeption seines Œuvres. Die von der Kulturstiftung der Länder geförderte Retrospektive im Museum Ludwig ermöglicht nun eine Begegnung mit dem Gesamtwerk und rückt es in das Zentrum der kunstgeschichtlichen Entwicklung. Sie setzt ein mit den frühen Kopf-Plastiken und -Zeichnungen und stellt die kaum bekannten angewandten Arbeiten neben die Skulpturen, Gemälde und Gouachen. Und sie liefert Einblicke in Freundlichs Schriften, in denen er sein Schaffen sozial und künstlerisch verortet hat. Rund 80 Exponate zeichnen Werk, Denken und Leben eines Künstlers nach, der in leidenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Kunst seiner Zeit einen eigenen Weg zur Abstraktion fand.