„Ohne Unterlass Gutes Thun“
Staunen. Grenzenloses Staunen. Immer wieder. Bei jedem, der kam und sah. Da gab es in Halle an der Saale, dieser von den nahen Chemiewerken verpesteten, einst so stolzen Stadt eine gebaute Utopie. Stark verfallen zwar, aber sehr präsent – die Franckeschen Stiftungen.
Der Eindruck bei Besuchern um 1990 mag verheerend gewesen sein, die Überzeugung der Kenner, dass die Stiftungen erhalten und mit neuem Leben erfüllt werden müssen, war stark und wirkungsvoll. Bis heute wurden 130 Millionen Euro für ihren Erhalt und ihre Erneuerung ausgegeben. In den nächsten vier Jahren sollen auch die letzten drei historischen Gebäude von insgesamt 50 saniert sein. Zum Museum ist die Anlage nicht geworden. Sie blieb, was sie immer war: eine Schulstadt, ein Ort der Bildung und Erziehung, wie ihn ihr Gründer August Hermann Francke (1663 –1727) ab 1695 erschaffen hat. Das war den Aufbauhelfern um den Bibliothekar Paul Raabe wichtig, dafür haben sie geworben und gearbeitet.
Es ist ihnen gelungen. „Hier arbeiten und leben 4.000 Menschen in 40 Einrichtungen“, sagt stolz Thomas Müller-Bahlke, seit 2003 Direktor der Stiftungen. Die Martin-Luther-Universität hat mehrere Institute auf dem Gelände, es gibt Kindergärten, Schulen, ein Mehrgenerationenwohnhaus, Musikschulen, Vereine, christliche Einrichtungen. Dazu kommen Ausstellungen, ein Kinderkreativzentrum, das barocke Raritätenkabinett, die historische Kulissenbibliothek, der Neubau der Kulturstiftung des Bundes, um nur einige zu nennen.
Ihr Gründer, ihr Lebensspender, ihr Aufbaumeister und Entwickler war August Hermann Francke, evangelischer Pfarrer, Pietist, Professor für Griechisch und orientalische Sprachen an der Universität Halle. 1663 in Lübeck geboren, zum Theologen und Altphilologen in Erfurt, Kiel, Hamburg und Leipzig ausgebildet, bekam er 1692 eine Pfarrstelle in der Sankt Georgenkirche von Glaucha – direkt vor den Toren der Stadt Halle. Was andere als Verbannung angesehen hätten, wurde Francke zum Sprungbrett für eine unglaubliche Karriere. Der Pfarrer predigte nicht nur, er setzte selbst um, was er von anderen verlangte: „Weltveränderung durch Menschenveränderung.“ Um beides realisieren zu können, gründete Francke Ostern 1695 eine Armenschule und begann, sich um Waisenkinder zu kümmern.
Kindlich-freundlicher Blick, rote Bäckchen im dicklichen Gesicht, die langen weißen Haare locker auf die Schultern fallend – so ist August Hermann Francke porträtiert worden. Am besten von Antoine Pesne, der ihn als lächelnden Geistlichen mit hoher Stirnglatze zeigt. Doch der erste Blick trügt. Auf den zweiten erkennt man Stärke, Kraft und einen gewissen Starrsinn, den der Künstler bei Francke sah und malte. Zeitgenossen beschrieben ihn als leutselig, mit besonders großem Einfluss auf Kinder. Sein Biograph Helmut Obst beklagt, dass „über die menschlichen, rein persönlichen Seiten dieses außergewöhnlichen Mannes“ nur wenig bekannt sei. Allein einige liebevolle Briefe an seine Frau sind erhalten. Fest steht, dass dieser Mann es geschafft hat, mit Gottvertrauen, Tatkraft und Überzeugungsgeschick ein weit verzweigtes Unternehmenskonglomerat mit zahlreichen Bildungseinrichtungen aus dem Nichts aufzubauen und zu betreiben. Das schafft man nicht allein mit Lächeln und Freundlichkeit. Denn Grundlage seiner Projekte war kein Erbe, kein vorab verdientes Geld, sondern oft mühsam besorgte Spenden, Einkünfte aus eigenen, selbst aufgebauten Unternehmen und vom Fürsten zugestandene Privilegien wie Steuerbefreiungen.
Am Anfang jedoch stand die Spende der Hallenserin Christine Sophie Rittmeister, die vier Taler und 16 Groschen in Pfarrer Franckes Sammelbüchse legte. Das war schön, aber auch damals viel zu wenig, um eine Schule zu gründen. Francke störte das nicht, er „machte noch desselbigen Tages Anstalt / dass für zwey Thaler Bücher gekaufft wurden / und bestellete einen Studiosum, die armen Kinder täglich zwey Stunden zu informiren“. Wenige Wochen später war die Zahl der Schüler, darunter auch Bürgerkinder, auf 50 angewachsen. Ihre Lehrer waren mittellose Studenten, denen Francke für den Unterricht sogenannte Freitische bot. Der Ruf von Schule und Lehrern war so gut, dass Francke bald um Empfehlungen für Privatlehrer gebeten wurde. In diesem Moment zeigte sich, dass der Pfarrer von Glaucha weitaus Größeres vorhatte als ein Ausbildungsinstitut. Er empfahl keinen seiner Lehrer, sondern schlug den adligen Eltern vor, ihre Kinder nach Halle zu schicken, um dort unterrichtet zu werden. Für Bürger- und Adelskinder musste Schulgeld bezahlt werden, die Kinder der Armen und die Waisenkinder zahlten nichts.
Was durch Gottvertrauen begann, blieb lange schwierig zu finanzieren. Doch Francke machte unbeirrt weiter, warb aktiv um Spenden, gründete einen Verlag, eröffnete eine Buchhandlung und richtete eine Apotheke mit den nötigen Laboratorien ein. Die Apotheke wurde für die medizinische Versorgung der Waisen, Lehrer, Mitarbeiter zwar ohnehin gebraucht, entwickelte sich jedoch bald zu dem Unternehmen mit dem höchsten Umsatz. Denn Francke hatte nicht nur erreicht, dass ihm kostenlos Salz geliefert wurde (die sogenannte Salzfreiheit) und dass seine Unternehmungen von Steuern befreit waren. Er hatte ein Rezeptbuch für Medikamente geschenkt bekommen, das auch die Herstellungsanleitung für eine Goldtinktur enthielt. Franckes „Essentia dulcis“, die bei Entzündungen, Krämpfen und Epilepsie angewendet wurde, war neben einer Bitteressenz gegen Magenbeschwerden zeitweise eine der Haupteinnahmequellen. Eine andere wichtige Einnahmequelle war der Verkauf von Büchern mit pietistischen Schriften, von Predigten und Bibeln, die in der eigenen Druckerei hergestellt wurden.
Die komplette Aufzählung der Aktivitäten, Unternehmen, politischen Beziehungsgeflechte, pietistischen Verbindungen, die bis nach Indien reichten, würde den Rahmen dieses Textes sprengen. Fest steht: Pfarrer Francke war ein geschickter Unternehmer – zum Wohle seiner Unternehmungen. Auch das Raritätenkabinett, die einzige bürgerliche, weitgehend unverändert erhaltene barocke Wunderkammer weltweit, entstand nicht allein zum Staunen oder zum puren Kunstgenuss oder gar aus reiner Lust am Besitz. Das Raritätenkabinett war Teil der Schulbildung, denn Francke propagierte ein Lernen anhand von „naturalia und rariora in regno animali, vegetabili et minerali“. Dieses Anschauungsmaterial kam aus der ganzen Welt, von ehemaligen Schülern, Freunden, Vertrauten, auch aus den Sammlungen des Kurfürsten und wurde zu Unterrichtszwecken verwendet. 1736 zog die Sammlung in den ehemaligen Knabenschlafsaal im Dachgeschoss des Waisenhauses. Das Inventar verzeichnete zu dieser Zeit 4.696 Objekte. Die meisten haben sich erhalten und sind heute wieder am historischen Ort zu bestaunen.
Als enzyklopädische Lehrsammlung angelegt und zum größten Teil durch Spenden und Geschenke erweitert, war die Hallenser Sammlung naturgemäß weniger prachtvoll als die fürstlicher Kunst- und Wunderkammern. Doch deren wertvolle Stücke waren häufig Ausstellungsstück, Spekulationsmasse und Geldquelle zugleich, so dass sich viele Sammlungen wieder auflösten. Blieben sie erhalten, wurden sie neu geordnet und wissenschaftlich bearbeitet. Aus ihnen entstanden die Vorläufer unserer modernen, spezialisierten Museen. Das bedeutete das Ende der Idee, das Universum in seinen beziehungsreichen Verknüpfungen nachzubilden. Nicht so im Franckeschen Raritätenkabinett, das in seiner Ursprungsform und Ordnung weitgehend erhalten blieb.
Hergestellt hat es der Altenburger Kunstmaler und Kupferstecher Gottfried August Gründler. Er ließ zwischen 1736 und 1741 sechzehn Schränke bauen, bemalte die meisten äußerst dekorativ, katalogisierte die Sammlung und arrangierte sie in den Vitrinenschränken. Es gibt Schränke mit Pflanzen, mit Tieren, mit Steinen, mit Wachsmasken. Ein weiterer Schrank enthält Stücke aus Indien. Auch Schreibinstrumenten aus aller Welt ist ein Schrank gewidmet. Was zu groß für die Vitrinen war, wie Weltall- und Architekturmodelle, Krokodile, Hörner, Schlangenhäute, wurde frei im Raum arrangiert. „Die konsequent vernetzte Denkweise, die im Konzept dieses Kabinetts zum Ausdruck kommt, erscheint uns nach zwei Jahrhunderten ausgeprägter Spezialisierung in vieler Hinsicht kühn und unrealistisch. Bedenkt man aber, dass die in der Aufklärung begonnene Entwicklung hin zu einem hochspezialisierten Denken und Handeln in unserer Zeit längst nicht mehr als der Weisheit letzter Schluss gilt, mutet dieser ganzheitliche Ansatz einer barocken Wunderkammer auf eine besondere Art modern und zukunftsweisend an“, schreibt Thomas Müller-Bahlke im aktuellen Wunderkammer-Prachtband. Aus heutiger Sicht – die am besten hat, wer auf dem Altan des Waisenhauses steht – wirkt das Stiftungsgelände wie am Reißbrett konzipiert. Ein Entwurf dafür existiert nicht, doch vom planvollen Bauen Franckes und seiner Mitstreiter ist der Historiker Holger Zaunstöck absolut überzeugt. Es wurde „großer Wert darauf gelegt, gestalterisch darauf hinzuwirken, dass ein Gesamteindruck des Bauensembles von Symmetrie und Ordnung entstand (…)“, schreibt Zaunstöck in seiner Untersuchung der Architektur und weist auf die Einhaltung der Traufhöhe, auf fast linear verlaufende Fensterachsen unterschiedlicher Gebäude, sowie auf die Spiegelung sich gegenüberliegender Fassaden hin. Francke baute Architektur, die ebenso schlicht wie funktional wie einmalig ist. Schon hier bestimmte die Funktion die Form. Mehr als 200 Jahre später griff genau diese Idee die Architekten- und Designer-Avantgarde am Bauhaus wieder auf.
August Hermann Francke hat ein Lebenswerk hinterlassen, das für seine Nachfolger immer Vorbild, Verpflichtung und Anregung war und ist. Eine solche Leistung nennt man heute gern Gesamtkunstwerk. Doch irgendwie ist die Bezeichnung noch zu schwach, denn es ist nicht allein das vor mehr als 300 Jahren Geschaffene, das Francke auszeichnet. Es gibt eine tief verwurzelte Überzeugung, dass die Ideen Franckes weiterleben müssen. Direktor Thomas Müller-Bahlke spricht sogar „von einem Wunder“, dass sowohl die historische Bausubstanz erhalten blieb als auch die Ideen Franckes bis heute Anhänger finden und weitergeführt werden. Thomas Müller-Bahlke beschreibt das Gefühl einer Verpflichtung: „Als Nachfolger fragen wir uns immer, was würde Francke tun. Zum Beispiel, wenn es darum geht, ob wir heute ein Waisenhaus brauchen. Wir haben dagegen entschieden, denn ein drängenderes Problem unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist der demographische Wandel. Deshalb richteten wir ein Haus der Generationen ein.“
Gewiss war nicht alles richtig, was Franckes Pädagogik ausmachte – schon zu seiner Zeit und vor allem in der Aufklärung wurden die Strenge bei der Kindererziehung, der durchgeplante Tagesablauf und die Möglichkeit der körperlichen Züchtigung kritisiert. Doch die Grundlagen seines Denkens und Handelns sind bis heute gültig. So leitete ihn die Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen auch bei der Einführung des bis heute praktizierten dreigliedrigen Schulsystems. Bundespräsident Joachim Gauck lobte anlässlich der Feiern zu Franckes 350. Geburtstag am 22. März 2013: „Für unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten und Voraussetzungen erfand Francke auch das dreigliedrige Schulsystem. Dass dieses heute in die Diskussion geraten ist, würde ihn nicht anfechten, war doch die Pointe der Dreigliedrigkeit für ihn ihre Durchlässigkeit. Hier in Halle konnte ein Waisenkind in die Fürstenschule aufsteigen. Entscheidend ist die Wirksamkeit für jeden und jede Einzelne – so wurde Francke, der pragmatische Pietist gleichsam nebenher zum Beförderer eines werteorientierten neuzeitlichen Nützlichkeitsdenkens.“
So groß war die Bewunderung für dieses Gesamtkunst- und Bildungswerk nicht immer. In den 40 Jahren DDR verfielen die Bauten auf dem Gelände der Franckeschen Stiftungen nicht nur systematisch und vorsätzlich. Das Ensemble verlor an stadtgestalterischem Einfluss. Während die Stiftungen einst zur Stadt hin nur durch eine Mauer begrenzt waren, duckt sich das Ensemble seit den 1970er Jahren hinter einer aufgeständerten Hochstraße, die Halle mit Halle-Neustadt verbindet. Es gibt viele Befürworter eines Abrisses. Und viele Gegner. Ende offen.
Stolz sind beide Seiten auf das Erbe, das ihnen August Hermann Francke hinterlassen hat. Als die Stiftungen im Dezember 2015 ihre Bewerbung um eine Aufnahme auf die Unesco-Weltkulturerbeliste aufgrund einer drohenden Ablehnung zurückzogen, waren Enttäuschung und Erstaunen der Hallenser groß. Denn nicht nur die Befürworter der Bewerbung wissen: Mit den Stiftungen besitzt Halle etwas weltweit Einmaliges – und das seit mehr als 300 Jahren.