Impressionistisches Gemälde, Sonnenaufgang über einer Hafenszene
KUNST UND NATUR

„Nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang“

Vom Nebel bis zur Nachtigall, von Pythagoras bis zu den Planeten: ein essayistischer Spaziergang durch die Natur in der Musik / Volker Hagedorn

„Wie würde das denn bei Debussy klingen?“, fragte meine Freundin. „Ich weiß nicht. So einen Nebel habe ich bei ihm noch nicht gehört.“ Wir gingen auf dem Winterstrand einer Nordseeinsel nach Westen und hatten überlegt, wie sich all das wohl ausdrücken ließe – das dunkle Brausen des Meeres, auf das man nur ein paar hundert Meter weit blicken konnte, das gelbliche Helle an der Stelle, wo sich über Nebel und Wolken die Vormittagssonne befand, der eilige kleine Strandläufer-Vogel, der leichte Wind, auch die wenigen Menschen, die da gingen. Es müsste ja alles auf einmal da sein, auch Farben, Gedanken, Gefühle, auf keinen Fall irgendwelche Klischees. So waren wir auf Claude Debussy gekommen, der das Meer komponiert hat.

Am Beginn der Moderne entdeckte er die Natur aufs Neue. „Nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang“, schrieb der Komponist. „Für den, der mit dem Herzen zu schauen weiß, ist das die schönste Entwicklungslehre, geschrieben in jenes Buch, das von den Musikern nicht genug gelesen wird, ich meine: Natur.“ Debussy komponierte „avec l’émotion“, und mit dem Meer verband ihn eine Liebesgeschichte. Aber auch davon abgesehen ist „l’émotion“ grundlegend, wenn es um den Blick von Künstlern auf die Natur geht. Dieser Blick ist immer ein persönlicher: Die Natur diktiert keinem etwas. Auch das Transkribieren von Vogelrufen, wie Olivier Messiaen es vornahm, führt zur Kreativität – was der Komponist selbst nie so gesagt hätte. Der Katholik sah sich als Übersetzer des Transzendenten, die Vögel waren ihm Stimmen Gottes.

Und schon sind wir mitten drin im Dschungel von Bedeutungen, Ambivalenzen und Perspektiven, der sich hinter dem Thema „Natur und Musik“ auftut. Es geht nicht nur darum, wann man wie und warum den Kuckuck rufen und das Meer brausen hört. Es geht auch nicht nur um das, was die Komponisten beabsichtigten, sondern auch um das, was wir hören, hineinhören und heraushören. Helmut Lachenmann sprach vor ein paar Jahren über die neuen Spieltechniken, die er vielfältig wie kein anderer einsetzt, und meinte: „Wenn 45 Streicher nicht auf den klingenden Saiten, sondern auf dem Steg spielen, das klingt so fantastisch! Ein Rauschen, kein Geräusch. Meeresrauschen.“ Dann ergänzte er gleich, das möge jeder hören, „wie ihm ums Herz ist. Was beim Hörer geschieht, geht den Komponisten gar nichts an“.

Es ist möglich, in der Alpensinfonie von Richard Strauss etwas ganz anderes als eine Bergwanderung zu erleben, und es ist ebenso möglich, Meeresrauschen, Sonnenuntergänge, Landschaftsimpressionen, verbunden mit persönlichsten Gefühlen, da zu hören, wo kein Komponist daran dachte. Und Messiaens Vögeln zu lauschen, ohne gleich katholisch zu werden.

Nur an den Gesetzen der Physik kommen wir nicht vorbei. Pythagoras fiel vor zweieinhalb Jahrtausenden auf, dass Intervalle sich auf Zahlenproportionen gründen. Die Quinte über einem Grundton etwa entsteht, wenn eine schwingende Saite um ein Drittel verkürzt wird. Aus 440 Hertz werden 660 Hertz. Beides zugleich klingt angenehm. Weil auch in den Bewegungen der Gestirne Zahlenverhältnisse zu erkennen waren, schloss der Denker aus Samos auf gemeinsame Prinzipien, und in dieser Analogie von Kosmos und Musik verband man noch im 17. Jahrhundert Planeten mit Intervallen. Man dachte sich die Welt als harmonisches Ganzes.

Daran hat sich viel geändert, aber nicht die Physik. Natur und Musik sind schon deswegen nicht zu trennen, weil Musik „lebt“, nicht statisch ist, immer ein Prozess, weil sie im wahrsten Sinne Luft zum Atmen braucht und um überhaupt gehört werden zu können, während sie eine uns umgebende, auch physisch auf uns einwirkende Realität wird. „Wenn Bruckners Vierte anfängt“, meint Helmut Lachenmann, „steht der ganze Saal in Es-Dur, das gleicht einem meteorologischen Ereignis.“ Und Gustav Mahler fand es „seltsam, daß die meisten, wenn sie von ,Natur‘ sprechen, nur immer an Blumen, Vöglein, Waldesduft etc. denken. Den Gott Dionysos, den großen Pan kennt niemand. So: da haben sie schon eine Art Programm – d. h. eine Probe, wie ich Musik mache. Sie ist immer und überall nur Naturlaut!“. Freilich schrieb er das 1896, nach Vollendung der Dritten Sinfonie, deren gewaltiger erster Satz zuletzt entstand und den Titel „Pan erwacht – der Sommer marschiert ein“ trug – nur für Mahlers Privatgebrauch, er wünschte nicht, dass man seine Musik so programmatisch hörte. „Wie ein Naturlaut“, hatte er schon 1889 als Anweisung über den Beginn seiner Ersten Sinfonie geschrieben, wo der Ton A im Flageolett der Streicher bis in höchste Höhen flimmert. Theodor W. Adorno fühlte sich davon 1960 an den „unangenehm pfeifenden Laut altmodischer Dampfmaschinen“ erinnert – was er nicht gegen, sondern für das Werk sprechen ließ, für den „Riss“ darin.

Es ist der Riss eines Bewusstseinswandels, nicht des ersten und nicht des letzten, auf den man trifft, wenn man in der Musik nach „Natur“ sucht. „Weil die Kunst die Natur nachahmt, können wir von dem aus, das wir bei der Kunst in feiner Analyse herausgefunden haben, hingelangen zu den Kräften der Natur“, schrieb der Universalgelehrte Nikolaus von Kues um 1440, am Ende dessen, was wir Mittelalter nennen. Er sah Kunst und Wissenschaft noch vereint. Als die Kunst das Subjekt entdeckte, nahm sie die Nachahmung mit.

Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten sich Worte und Töne eher unabhängig voneinander bewegt, menschliche Affekte waren kaum Gegenstand komponierter Musik. Dann entwickelte sich, zuerst an Petrarcas Lyrik, eine Gefühlskunde, die für jede Textnuance eine klingende Entsprechung suchte, für Angst und Freude, Licht und Schatten. Es entstand das differenzierteste gemeinsame Vokabular, das es in der Musik je gab. Dazu gehörten nicht nur schnelle Notenwerte für die „Flucht“, Halbtonschritte abwärts für „Seufzer“, man fand auch Formeln für Wind und Wellen und lauschte der Natur das Echo ab.

Damals begann auch der unaufhaltsame Aufstieg der Nachtigall. Als erster imitierte Clément Janequin den gefiederten Koloratursopran 1537, 1560 schwärmte Athanasius Kircher: „Billich hat die Natur in der Nachtigall gleichsam ein vollkommen Ideam der gantzen Music-Kunst vorgestellt …“ Die Nachtigall überstand unbeschadet alle musikästhetischen Wandlungen der nächsten 250 Jahre. Sie singt bei Claudio Monteverdi (8. Madrigalbuch, 1638), bei Heinrich Ignaz Franz Biber (Sonata representativa, um 1670), Alessandro Scarlatti in der Oper (Le nozze con l´inimico, 1695), François Couperin (Le rossignol en Amour, 1722), bei Antonio Vivaldi, dessen Violinkonzert Il rosignuolo nur ein Teil seines gewaltigen Imitationsrepertoires ist. Es folgen Jean Philippe Rameau in Hippolyte et Aricie (1733) und mehrfache Huldigungen von Händel. Dann lässt es nach: ein klassisch gezähmtes Flötensolo in Haydns Schöpfung (1797) und der letzte Auftritt in der obersten Liga: 1808, Beethovens Pastorale, zweiter Satz: Flöte (Nachtigall), Wachtel (Oboe), Kuckuck (Klarinette).

Vom Auftritt bei Beethoven zehrt die Nachtigall als Konzertvogel bis heute, doch als Topmodel traf sie 1903 auf beißende Kritik. Claude Debussy ließ sich von Beethovens Hinweis „mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey“ nicht beeindrucken und schrieb nach einer Pariser Aufführung der Pastorale: „Sehen Sie sich die Szene am Bach an: Es ist ein Bach, aus dem allem Anschein nach Kühe trinken (jedenfalls veranlassen mich die Fagottstimmen, das zu glauben), ganz zu schweigen von der Nachtigall im Wald und dem Schweizer Kuckuck, die beide besser in die Kunst von Jacques de Vaucanson [Konstrukteur der mechanischen Ente von 1738] passen als in eine Natur, die diesen Namen verdient. All das ist sinnlose Nachahmerei oder rein willkürliche Auslegung.“

Debussy wünschte sich die „gefühlsmäßige Übertragung des ,Unsichtbaren‘ in der Natur“. Er brachte mit seiner Kritik auf den Punkt, was sich schon im 18. Jahrhundert angebahnt hatte. Die barocken Wellen, Stürme, Blitze, Hirtenidyllen und Batta­glien der „Nachahmungsästhetik“, wie Helga de la Motte-Haber sie in ihrem reichhaltigen Buch „Musik und Natur“ nennt, waren klingende Standards geworden, Formeln – auch die „Blitze und Donner“ in Bachs Matthäuspassion wirken, im Metrum einer Gigue, schon eher zitiert als unmittelbar. Die Natur in der Musik war gebändigt wie die der Gärten von Versailles, wo in den 1730ern Jean-Féry Rebel wie einen Gegenentwurf den formlosen Abgrund komponierte – das „Chaos“ am Beginn seiner Tanzsinfonie Les Éléments. Ein Urknall, ein Cluster, der sämtliche Töne der Anfangstonart vereinte, der Musikgeschichte um zwei Jahrhunderte voraus.

Die konkrete „Rückbindung an die Natur“, so de la Motte, wurde im 18. Jahrhundert preisgegeben, ein weiteres Mal das Subjekt entdeckt. „Malereien“, schrieb 1771 der Ästhetiker Johann Georg Sulzer am Beispiel von Meeresbrausen, Donner und Blitz, „sind dem wahren Geist der Musik entgegen, die nicht Begriffe von leblosen Dingen geben, sondern Empfindungen des Gemüts ausdrücken soll.“ E. T. A. Hoffmann waren 1819 selbst die Empfindungen zu eng gedacht: „Die Musik schließt dem Menschen ein unbekanntes Reich auf, eine Welt, die nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt, die ihn umgiebt, und in der er alle bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben. Habt ihr dieß eigentümliche Wesen auch wohl nur geahnt, ihr armen Instrumentalkomponisten, die ihr euch mühsam abquältet, bestimmte Empfindungen, ja sogar Begebenheiten darzustellen?“

Von hier führt ein Weg zur programmfreien, zur „absoluten Musik“, den längst nicht alle beschreiten. Berlioz verbindet 1830 in seiner Symphonie fantastique Hirtendialoge zwischen raschelnden Bäumen mit der Ungewissheit des Helden auf neue, suggestive Weise, Wagner lässt katastrophisch das Meer in eine Partitur hereinbrechen, die 1841 unfern der frisch eröffneten Eisenbahnstrecke von Paris nach Versailles entsteht: Hinter Der Fliegende Holländer steckt auch die brodelnde Metropole Paris; in Wagners Naturklängen bis hin zum Karfreitagszauber im Parsifal (1882) rauscht aber auch noch der Wald von Carl Maria von Webers Freischütz (1821). Das war, fand Adorno, „nicht der Böhmerwald, wo meine Wiege stand, sondern beginnendes Grauen, Zauber aus der Frühzeit einer entzauberten Welt“.

Die Entzauberung durch Technik (das europäische Eisenbahnnetz umfasste um 1900 schon 200.000 Kilometer) führt in der Musik zu Gegenreaktionen, zu einem Boom von Märchenopern um 1900 voller Wälder, Seen und geheimnisvoll gefährlicher Frauen wie in Antonín Dvořáks Rusalka, aber auch gewaltig besetzten Werken in Naturszenarien: Schönbergs Gurre-Lieder, ­Ravels Daphnis et Chloe, schließlich Strauss’ Alpensinfonie, die, in den ersten Monaten des Ersten Weltkriegs vollendet, unbewusst apokalyptische Züge trägt – in „Gewitter und Sturm“ wirft Strauss all seine Motive, Wasserfall und Alm und Wald, in den Häcksler, in eine virtuos komponierte Orgie der Zerstörung.

Aber es gibt Werke, die in die Erzählung von der Entzauberung und der Flucht vor ihr nicht passen, deren Vitalität etwas Unmittelbares hat, bei aller Komplexität. Da ist, jahrzehntelang verkannt, der Finne Jean Sibelius mit sinfonischen Landschaften, vor die man nicht das Schild „Natur“ stellen muss, um frische Luft zu atmen, sich frei zu fühlen von Projektionen. Da ist der Russe Igor Strawinsky, dessen Sacre du Printemps, das „Frühlingsopfer“, selbst wie ein Naturereignis wirkt. „Niedergestreckt wie von einem Orkan“ fühlte sich einer der ersten Hörer – und diese Kraft hat der Sacre noch heute.

Die erste Nachtigall, die nach dem Krieg in die Klangkunst gerät, ist so echt wie fern, ein Stück Musique concrète avant la lettre. Sie wird per Grammofon zugespielt, 1924 in Ottorino Resphigis Orchesterstück Die Pinien des Gianicolo – mehr als 40 Jahre vor jener Amsel, die Paul McCartney 1968 in Blackbird vom Band zwitschern lässt, als realen Rückhalt im Kampf gegen Rassismus, dem das Lied gilt. Die erste komponierte Amsel des 20. Jahrhunderts ist ein Kriegskind – Olivier Messiaen lässt sie 1941 im Quatuor pour la fin du temps ertönen, zusammen mit einer Nachtigall, Violine, Klarinette, Cello, Klavier – uraufgeführt in einem Gefangenenlager bei Görlitz (Stammlager VIIIA, kurz: Stalag VIIIA).

Hier beginnt eine Suche nach neuer, subjektloser Spiritualität, fortgesetzt von Komponisten wie Karlheinz Stockhausen (Tierkreis. 12 Melodien der Sternzeichen) und John Cage, der ebenfalls Mitte der 1970er einer Karte des südlichen Sternenhimmels die Töne für den Klavierzyklus Etudes australes entnimmt. Nur nichts Persönliches! Darin trifft sich Cages Zufallsästhetik mit der strengen Reihentechnik, der ein Komponist wie Anton von Webern wie einer naturgesetzlichen Notwendigkeit folgte, und unzähligen Werken, die mit Fibonacci-Zahlen und Goldenem Schnitt einer Natur der Zahlen huldigen.

Und jetzt, nach zwei Jahrhunderten der Naturzerstörung? Welche Verbindungen zwischen Musik und Natur sind noch möglich? „Ohne Natur kann ich mir Musik gar nicht vorstellen!“, antwortet darauf, fast erstaunt, die 1946 in Südkorea geborene Komponistin Younghi Pagh-Paan. 2018 schrieb sie Seerosen – Wurzelwerke, zehn Minuten für die koreanische Zither Geomungo, auch auf der Gitarre zu spielen. Es ist in den sparsamen Tönen, dem Kreis der sie bindenden Intervalle, der unterschiedlichen Spielarten, als würde man einem nachdenkenden Sehen zuhören. Man sieht durchaus die Ranken in schattigem Wasser, die der Titel verheißt, aber es ist auch so etwas wie eine sinnliche Abstraktion, die Geist und Seele öffnet.

Unterschätzen wir nicht die Weite der kleinen Formate! In so einem Fenster wird bei Claude Debussy sogar der Nebel zum Ereignis. Dass er tatsächlich den Nebel komponierte, entdeckte ich erst nach unserem Spaziergang am Strand. „(…Brouillards)“, eben „Nebel“, steht am Ende der 52 Takte für Klavier, ganz diskret. Takte sind in diesem Prélude von 1913 zwar notiert, aber so wenig zu hören wie irgendein tonaler Halt in all den hauchfeinen Bögen rascher Noten. Dicht ist dieser Nebel, aber auch hell und durchlässig – in ihm können sich alle Nebelspaziergänger wiederfinden. Und da finde ich auch, nur ein A im Bass, das dunkle Brausen wieder, und in einer Quintparallele den Sonnenfleck. Andere werden anderes finden. Gehen wir weiter in dieser und aller Musik! Vielleicht kommen wir dabei auch mit der Natur ins Gespräch, die nie ein Wort sagt.

Der vorliegende Text ist die revidierte Fassung des gleichnamigen Originalbeitrags für die Ausgabe 02/2022 des „Elbphilharmonie Magazin – Natur“.

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