Musikerin mit Masse
Trotz 750 kg Gewicht, einer Höhe von 213 cm und trotz des metallenen und hölzernen Skeletts ist es ein überaus sensibles Gefüge: Als das aus Plastilin gefertigte Modell der monumentalen Harfenspielerin „Benediction“ von Jacques Lipchitz (1891–1973) 2013 als Teil einer Schenkung der Jacques-Lipchitz-Stiftung in den Kunstsammlungen Chemnitz eintraf, waren zahlreiche Fragmente aus der inzwischen schwarz verfärbten Knetmasse gebröckelt. Ungünstige klimatische Bedingungen und chemische Reaktionen der verwendeten Materialien deformierten und beschädigten das Gefüge gleichermaßen. Besonderer konservatorischer Fürsorge bedurfte daher das sich in Einzelteile auflösende Modell.

Hatten diese Fehlstellen den Formenverlauf der abstrahierten Figur bisher gestört, spielt die überlebensgroße Harfenspielerin nach ihrer Restaurierung nun wieder in vollem Glanz auf: In sitzender Position stützt die Musikerin ihren Ellenbogen auf dem angewinkelten Knie ab, die Finger spreizt sie ihrem Instrument, das in ihrem anderen Arm eingebettet ruht, entgegen. Beinahe andächtig, scheinbar vertieft in ihr Spiel, neigt sie den Kopf. Lipchitz entwarf die Musikantin in monumentaler, aber dennoch sinnlicher wie organischer Formensprache.
Jacques Lipchitz, 1891 in Litauen geboren, ließ sich 1909 in Paris nieder, wo er Kontakte zum Künstlerkreis um Pablo Picasso (1881–1973) knüpfte. Inmitten der Pariser Kunstszene erprobte er die kubistische Formensprache in seiner bildhauerischen Arbeit. Figuren, die er auf blockhafte Gestalten reduzierte, bestimmten Lipchitz’ Kunst dieser Zeit maßgeblich. Ab 1925 setzten sich zunehmend organische Strukturen in den Arbeiten des Künstlers durch; das Plastilinmodell aus den Jahren 1942–1945 reiht sich hier formal ein. Im Zuge der Besetzung Frankreichs durch das nationalsozialistische Deutschland war Lipchitz 1941 gezwungen, Frankreich zu verlassen und emigrierte nach Amerika, wo er sich ein Atelier in New York mietete. In der Skulptur der Musikerin klingt dieser Lebensabschnitt nach: Ihre Harfe sollte eine Melodie für die von der deutschen Wehrmacht besetzte Heimat vortragen.

1942–1945 als Modell für den Bronzeguss „Benediction (Segen) II“ entworfen, kommt dem Chemnitzer Exemplar heute besondere Bedeutung zu: Nachdem der nach dem Modell angefertigte Bronzeguss 1946 vom New Yorker Museum of Modern Art direkt vom Künstler erworben und Mitte der 1950er-Jahre verkauft wurde, verlieren sich die Spuren der Bronze. Auch ein Gipsmodell, das dem Metallguss vorangegangen war, sowie eine Ausfertigung aus Wachs gelten heute als verschollen. Obwohl der Bronzeguss technisch gelang, hielt Lipchitz das Plastilinmodell trotz der beträchtlichen Abmessungen zeitlebens für eine erneute Bearbeitung bereit. Schließlich erfüllte keine realisierte Variante das angestrebte Konzept, die vollkommene Umsetzung stand für Lipchitz noch aus.
In seiner Verarbeitung so geschmeidig wie unmittelbar formbar, dazu nur langsam trocknend, ließ die Knetmasse Plastilin während des Arbeitsprozesses umfassende Veränderungen zu. In einer Art plastischer Skizze konnte Lipchitz spontane Ideen am Motiv bildnerisch festhalten, entwickeln, verändern, verwerfen. „Einfälle kommen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit, sind sozusagen flatterhaft; der Künstler muss sie einfangen und sie so schnell wie möglich fixieren; und die beste Technik dafür ist das Modellieren“, fasste Lipchitz die Materialvorteile zusammen. Als temporärer Werkstoff war Plastilin jedoch nicht für die längere Aufbewahrung gedacht, sondern wurde nach dem Abguss eines Motivs erneut verwendet. Nur wenige Plastilinmodelle sind daher heute im musealen Kontext bekannt, keines umfasst die kolossalen Ausmaße der Harfenspielerin.

So einzigartig wie speziell: Das Modell für „Benediction“ ist nun ein dauerhafter Bestandteil der Kunstsammlungen Chemnitz. Mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder im Rahmen der Initiative „Kunst auf Lager“ wurde die Figur im Zuge der anspruchsvollen Restaurierung stabilisiert und gesäubert. Indem die Fehlstellen geschlossen werden konnten, ist es geglückt, die ursprüngliche Gestaltungsabsicht von Jacques Lipchitz wieder sichtbar zu machen. Nun wird das einzigartige Modell für „Benediction“ dauerhaft in einem eigenen Raum im Museum präsentiert.